Heft 1/2020 - Intersektionen
Der Besuch der Fortaleza von Maputo, heute genutzt als Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst, ist ambivalent. Inmitten von Hochhäusern, beinahe versteckt, offenbart diese portugiesische Wehranlage im Innenhof eine grüne Oase der Ruhe: Unter einem Wäldchen von duftenden Frangipani-Bäumchen laden Bänke zum Innehalten ein. An der hinteren Mauer spenden Palmen Schatten. Dazwischen lagern riesige gusseiserne Kanonenrohre in einem konzentrischen Kreis um eine Anpflanzung von Agaven. Auf dem Wehrgang präsentiert sich eine historische Sammlung von Kanonen. Kurze Texte dokumentieren den technischen Fortschritt dieser Kriegsmaschinerien vom Mittelalter bis in die Neuzeit; unerwähnt bleibt nur ihr Einsatzort. Am anderen Ende des Rasens steht die bronzene Reiterstatue von Mouzinho de Albuquerque, portugiesischer Offizier und Gouverneur des Distrikts von Lourenço Marques, der heutigen Provinz Maputo. Mouzinho nahm 1895 den König des letzten unabhängigen Bantukönigreichs, Gungunhana, gefangen und wird bis heute in Portugal als Kriegsheld verklärt.
Von September bis November 2019 präsentierte die Ausstellung UpCycles in der Fortaleza die Ergebnisse eines erstmals ausgeschriebenen, zweimonatigen Residency-Programms. KünstlerInnen aus den portugiesischsprachigen Ländern Afrikas waren aufgerufen, mit Material aus den audiovisuellen Archiven ihrer Länder zu arbeiten. Initiiert von der Associação Amigos do Museu do Cinema em Moçambique (Verein der Freunde des Museums des mosambikanischen Kinos) und finanziert von der portugiesischen Calouste Gulbenkian Stiftung soll der Austausch zwischen KünstlerInnen der PALOP-Staaten1 gefördert werden.
Für die europäische Besucherin beschwören die kriegerischen Artefakte im Garten und das Archivthema bestimmte Bilder, was die Geschichte Mosambiks und anderer portugiesischsprachiger Länder in Afrika betrifft. 1975 wurden alle portugiesischen Kolonien in Afrika – Guinea-Bissau, Mosambik, Angola, Kapverden, São Tomé und Príncipe – nach Jahren des Befreiungskampfes unabhängig. Unbewusst erwartet die Besucherin von den Arbeiten der Ausstellung eine explizite Auseinandersetzung mit dem portugiesischen Kolonialreich und ist von den beinahe leisen, unerwarteten Tönen der Ausstellung überrascht. Auf eine große, sandgefüllte Kiste ist die Aufnahme einer Frau projiziert. Sie erzählt die Geschichte von Conceição oder Maria di Nhanha, so ihr ehemaliger kapverdischer Name. Am 4. August 1967 gelangte sie auf der Flucht vor Dürre und Hunger nach Lourenço Marques in Mosambik. Die kapverdische Künstlerin Samira Vera-Cruz nutzte für ihre Arbeit Di Nos (Sprich zu uns) länderübergreifende Archive und folgte damit Migrationswegen, die unterschiedliche afrikanische Länder mit ähnlicher kolonialer Vergangenheit bis heute miteinander verbinden.
Für Memórias de uma língua de cão (Erinnerungen an eine Hundesprache) projizierte Marilú Namoda ein Video auf einen Erdhaufen. Es zeigt einen Oberkörper und die untere Hälfte eines Gesichts. Der Mund verschlingt Erde. Wortfetzen und unzusammenhängende Laute sind zu hören. Am Ende ertönt das fragmentarische Lied eines Frauenchors in Chwabo, eine der indigenen Sprachen Mosambiks.
Sieben KünstlerInnen aus den Kapverden, Angola und Mosambik stellen hier ihre Arbeiten aus, die sie im Rahmen des Programms entwickelt haben. Begleitet wurden sie dabei von zwei Mentorinnen: der in Mosambik geborenen Künstlerin und Wissenschaftlerin Ângela Ferreira, die mittlerweile auf zahlreichen Biennalen ausstellt, und der jungen mosambikanischen Künstlerin Maimuna Adam. „Eine der interessantesten Schlüsse am Ende des Projekts war für mich, wie weit man die Idee des ‚Archivs‘ fassen kann“, resümiert Ferreira. „Denkt man an ein Archiv, so assoziiert man dies oft mit Dingen, die in einem Gebäude aufbewahrt werden. Meist geht es hier um eine Art Dokumentation. Heraus kam aber ein wesentlich breiteres Konzept von Archiv mit einem persönlicheren Zugang.“2 So begriff die mosambikanische Künstlerin und klassisch ausgebildete Sängerin Mariana Carrilho die Küstenlandschaft Mosambiks selbst als ein solches: ein Archiv, das archäologische, geografische, meteorologische und soziologische Spuren in sich trägt und Zeugnis ablegt von Vergangenem.3 Für ihre Installation Terra Latente (Schlummernde Erde) nutzte sie eigene Videoaufnahmen der Landschaft und überlagerte diese mit ihrer gesungenen Interpretation eines jüdischen Volkslieds und einem traditionellen Choral in Ki'mwani, einer Sprache, die an der Küste von Cabo Delgado im Norden Mosambiks gesprochen wird. Die mitunter unscharfen, teilweise verlangsamten Videoaufnahmen und der Gesang verstärken das Gefühl des Surrealen. Für Maimuna Adam stellte sich die Arbeit während des Prozesses immer mehr als ein „Liebesbrief an Mosambik“ dar.4
In der Ausstellung fällt besonders der Fokus auf Frauen auf. Gleich im Eingang projizieren Ângelo Lopes und Rita Rainho in Camarad(as) (Kameradinnen) Fotografien auf eine Glaspyramide, die mit der Spitze nach unten auf einem Spiegel steht. Die Projektionen werden durch den Glaskörper gebrochen und vervielfältigen sich durch den darunterliegenden Spiegel – gleich einem Prisma. Das Bildmaterial besteht aus Aufnahmen der ersten zwölf militanten Frauen, die sich vor 1963 in Guinea-Bissau und den Kapverden am Befreiungskampf beteiligt haben. Um gegen das ständige Vergessen von Frauen durch die Geschichte anzugehen, stellt es eine Art materialisiertes Glossar von Genossinnen dar, das sich im besten Fall verzweigen und vergrößern kann.
Auch der mosambikanische Künstler David Aguacheiro rückt die Rolle der Frauen im Befreiungskampf Mosambiks in den Fokus. Für seine Videoinstallation Heroínas Esquecidas (Vergessene Heldinnen) verwendete er alte Röhrenbildschirme, die teilweise von der Decke hängen oder auf dem Boden stehen. Dazwischen hängt ein neuer Flachbildschirm. Die älteren Geräte lassen an eine vergangene Zeit denken, als diese riesigen Objekte die Wohnzimmer beherrschten und man allabendlich Nachrichten aus aller Welt sah. In Mosambik war dies eine unruhige Zeit, in der sich das Land von Portugal freikämpfte. In Aguacheiros Installation sind die alten Fernsehgeräte defekt, sie zeigen einen schwarzen oder weiß flimmernden Bildschirm. Am neuen Gerät sind Filmsequenzen des 1971 entstandenen Dokumentarfilms Behind the Lines von Margaret Dickinson zu sehen. Diese Sequenzen wurden in der Installation so zusammengeschnitten, dass sie Frauen bei Kampfhandlungen oder in ihrer Freizeit zeigen. Hier wird die widersprüchliche Zweiteilung des Kriegs – das Nebeneinander von Krieg und Alltag – deutlich. „In der Geschichte Mosambiks treten nur die Männer als treibende Kraft auf. Dabei waren auch Frauen an der Front, trugen Waffen über die Grenze von Tansania nach Mosambik, wieder andere waren Krankenschwestern. Das Thema des Unabhängigkeitskriegs interessierte mich aber auch deshalb, weil Familienangehörige von mir in diesem Krieg gestorben sind“, sagt Aguacheiro über den Ausgangspunkt seiner Arbeit. Er dekonstruierte das vorhandene Material von Margaret Dickinsons Film, um am Ende eine neue Arbeit zu entwickeln, die dezidiert auf den Kampf der Frauen fokussiert ist. Auch dies war persönlich motiviert: „Meine Schwester und ich wurden allein von meiner Mutter aufgezogen, nachdem mein Vater früh gestorben ist. Meine Mutter hatte immer Schwierigkeiten, für uns genug Essen auf den Tisch zu bekommen. Ihre Kraft beeinflusste mich enorm.“5
Für Maimuna Adam, Mentorin des Projekts und selbst Künstlerin, ist die Arbeit mit Archiven trotz der wichtigen Quelle, die sie für die künstlerische Praxis darstellen, mitunter auch problematisch. Als Tochter eines Historikers bedeutet für sie Archivarbeit auch die große Herausforderung, verantwortungsvoll mit den Quellen umzugehen. „Metaphorisch gesprochen: Gehe ich in die Tiefen der Vergangenheit und ändere dort etwas, das dann die Zukunft beeinflusst?“6 Für Ângela Ferreira hingegen ist die Arbeit mit Archiven für alle KünstlerInnen äußerst wichtig, da Archive den materiellen Beweis eines Ereignisses darstellen. Wenn dieses Material allerdings nur in schwer zugänglichen Gebäuden verborgen liegt, hat es keine Macht. KünstlerInnen kommt hier die besondere Rolle zu, neue, unerwartete Lesarten und Bedeutungen zu generieren.7 Trotz allem stellt die Archivarbeit afrikanische KünstlerInnen vor besondere Herausforderungen, da die Archive oft durch schlechte Lager- und Wartungsbedingungen in einem mangelhaften Zustand sind. So entstehen Lücken; auch die dringend anstehende Digitalisierung der Archive verläuft nur schleppend. Ein weiteres Hindernis bei der Archivarbeit zumindest für mosambikanische KünstlerInnen stellen auch immer noch ihr geringes Ansehen in der Gesellschaft und ihre unzureichende akademische Ausbildung dar. Allerdings hat sich das Niveau der künstlerischen Ausbildung in den letzten Jahren deutlich verbessert.8
Inwieweit spielt Portugal noch eine Rolle für KünstlerInnen aus den portugiesischen Exkolonien? Für Maimuna Adam ist „Portugal wie ein Rotweinfleck, den man herauswäscht, der aber immer noch etwas hinterlässt“. Dass Portugal immer noch der entscheidende Bezugspunkt ist, zeigte die Ausstellung am Ende trotz allem, in einigen Fällen auch auf unerwartete Weise. Wie sehr es die KünstlerInnen im Einzelnen beeinflusste, stellte sich hingegen mehr als Frage der individuellen Persönlichkeit heraus – oder auch der Generation.9 Jedenfalls präsentieren sich die Arbeiten, was den Portugal-Bezug anging, in unterschiedlichsten Formen und Lautstärken. David Aguacheiro sagt in diesem Zusammenhang: „Als ich zur Schule ging, musste ich die Geografie und die Kolonialgeschichte Portugals lernen. Heute ist es allerdings für mich von Bedeutung, meine eigene Geschichte zu kennen, die nicht mit dem Beginn der portugiesischen Kolonialzeit begann, sondern schon viel früher.“10
Im Gespräch mit den KünstlerInnen und Mentorinnen wird deutlich, dass sich künstlerische Produktionen aus den PALOP-Staaten – entgegen der Erwartung der Besucherin – nicht mehr plakativ mit der Kolonialzeit beschäftigen. Trotzdem bleibt diese relevant für das künstlerische Arbeiten in diesen Ländern. Es zeigt sich, dass die Auseinandersetzung damit in tiefere Schichten eingesickert ist, sich verzweigt hat und sich auf den ersten Blick gelegentlich nicht mehr als solche erkennen lässt. Nach dem Zusammenhang zwischen dem kulturellen und historischen Hintergrund und der eigenen künstlerischen Identität befragt, gab kaum jemand der Befragten eine Antwort. Einige meinten zwar, dass Portugal immer noch eine wichtige Rolle spiele, dass es aber vorrangig eine individuelle Frage sei, ob und wie man sich damit beschäftige.
Die KünstlerInnen aus den Kapverden, Angola und Mosambik arbeiten mit ihrer Archivarbeit in erster Linie an einer Perspektive für die Zukunft, so wie es die PALOP-Staaten in einem größeren Rahmen vormachen. Sie versuchen, sich aus dem omnipräsenten Einfluss Portugals zu lösen, und verstehen es, die aus der Kolonialzeit herrührenden Gemeinsamkeiten – administrative Strukturen, Demokratisierungsprozesse und das Portugiesische – für einen neuartigen Verbund zu nutzen, der auf ein globales Handeln ausgerichtet ist.
1 Nach der Unabhängigkeit von Portugal traten die fünf portugiesischsprachigen Länder Angola, Kapverden, Guinea-Bissau, Mosambik und São Tomé und Príncipe 1975 einer gemeinsamen Partnerschaft zwischen den afrikanischen, karibischen und pazifischen Ländern und der Europäischen Union bei.
2 Schriftliches Interview vom 15.11.2019.
3 Vgl. ebd.
4 Interview vom 17.11.2019.
5 Schriftliches Interview vom 17.11.2019. Mosambik ist ein Land der alleinerziehenden Mütter. Nach Joseph Chamie, ehemaliger Direktor der Abteilung für Bevölkerungsfragen bei der UN, wachsen beinahe 36 Prozent der mosambikanischen Kinder bei einem alleinerziehenden Elternteil auf, in den meisten Fällen bei der Mutter; http://www.ipsnews.net/2016/10/320-million-children-in-single-parent-families/.
6 Interview vom 17.11.2019.
7 Schriftliches Interview vom 15.11.2019.
8 Interview mit Maimuna Adam vom 17.11.2019.
9 Ebd.
10 Schriftliches Interview vom 17.11.2019.
Interview mit Marilú Námoda vom 18. und 19.11.2019
Su-Ran Sichling: Was war der Ausgangspunkt deiner Arbeit?
Marilú Námoda: Memórias de uma língua de cão begann mit der Kindheitserinnerung, dass meine Großmutter mir verbot, meine indigene Sprache Chwabo zu sprechen, da das Chwabo ihrer Ansicht nach eine „Hundesprache“ sei. Aber natürlich hat meine Großmutter damit nur einen kolonialen Diskurs reproduziert, weil der Ausdruck „Hundesprache“ im ganzen Land und anderen portugiesischen Exkolonien als Schimpfwort verbreitet ist. Für mich ist es tragisch, wie dieser hasserfüllte Diskurs in die Familie getragen wurde. Indem meine Großmutter mich dazu anhielt, nur Portugiesisch zu sprechen, beschützte sie mich vor anderen Formen der Gewalt, die sie gesehen oder wahrscheinlich auch selbst erlebt hat. Gewalt wurde von der kolonialen, portugiesischen Geheimpolizei PIDE ausgeübt und durch erzwungene Assimilation von den MosambikanerInnen selbst reproduziert. Meine Großmutter glaubte, dass ich mit Portugiesisch eine bessere Ausbildung bekäme und eine bessere Zukunft hätte. Obwohl ich 16 Jahre nach der Unabhängigkeit geboren wurde, war das Denken durch die Kolonialzeit geprägt und ist es immer noch. Ich habe das Gefühl, dass alles immer noch kolonial ist.
Sichling: Wie hast du Archivmaterial in deiner Installation eingesetzt?
Námoda: Für die Arbeit habe ich drei unterschiedliche Archive verwendet, die die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft repräsentieren: ein Video zu geschriebenen Bantusymbolen1, meinen Körper als Performancemedium und Erde als Material, worauf das Video schließlich projiziert wurde. Das Video erinnert auch an andere indigene Sprachen, die über Jahrhunderte durch koloniale Maßnahmen ausgelöscht wurden. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass Bantusymbole als Teil der „Afrikan Alphabets“ den Mythos des oralen Kontinents, in dem es keine Schreibtradition gab, demontieren. Die „Afrikan Alphabets“ sind eine Gruppe unterschiedlicher alter Schriftsysteme (Piktogramme, Ideogramme, Silbenschrift etc.), die immer noch auf dem ganzen Kontinent präsent sind. Ihre Bedeutung ist allerdings kaum mehr bekannt. Insbesondere in Mosambik habe ich das Gefühl, dass der Kolonialismus die Bantusymbole so weit ausgelöscht hat, dass einige Leute mittlerweile glauben, dass diese Symbole einfach nur dekorativ seien.
Um die Gegenwart zu repräsentieren, habe ich meinen eigenen Körper verwendet. Er war das Hauptarchiv meiner Arbeit: Mein Körper als politisches und lebendes Archiv von Erinnerungen, die physisch, emotional und spirituell in uns eingeschrieben sind.
Die Erde wurde Teil der Arbeit, weil meine Großmutter uns verbot, Chwabo zu sprechen, als ich barfuß im Hof spielte, wo überall Erde war. Beides – das Sprechen von Chwabo und der Kontakt zur Erde – war heikel für mich. Die kolonialen Ideen von der Moderne und von Urbanität haben unsere Verbindung zur Erde abgeschnitten. Um Erde für meine Installation zu finden, musste ich 40 Kilometer aus dem Stadtzentrum hinausfahren und sogar dafür bezahlen! In diesem Sinn wird die Erde zu einem zukünftigen Archiv – für Lebensentwürfe in Koexistenz mit der Natur.
[1] Bantu zählt zu den größten und am weitesten verbreiteten Sprachgruppen der Erde. Bantusprachen werden in der Mitte und im Süden Afrikas gesprochen.