Heft 1/2020 - Artscribe


Japan Unlimited

26. September 2019 bis 24. November 2019
frei_raum Q21 @ MuseumsQuartier Wien / Wien

Text: Carola Platzek


Wien. Die künstlerischen Arbeiten von Japan Unlimited spannen weite Bögen: vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart, von Bildern der Macht, Formen von Sexualität, Arbeit und Strafe, Zeichen offener Kriege und versteckter Abhängigkeiten zu Bürden gesellschaftlicher Gebote. Dank der durchdachten Anordnung zeichnet sich zwischen den Elementen ein weiterer Zusammenhang ab, der sie und ihre Relationen – Geschichtsverläufe, soziale Ordnungen und Funktionen der Erinnerung – affiziert: Es ist das System des Kapitalismus.
Sachiko Kazamas Holzschnitte zeigen auf den ersten Blick idyllische Landschaften, die sich als Golfplätze entpuppen. Die Kombination dieser Kritik an kurzsichtigem Konsumverhalten mit der gerade für Landschaftsdarstellungen traditionsreichen Technik des Holzschnitts erschließt eine inhaltliche Ebene. Mit der Bedrohung der Natur geht die Gefährdung einer das Denken und die Künste prägenden Beziehung einher. Natur wurde in Japan immer als Ort betrachtet, an dem der Mensch in den innigsten Kontakt mit seinem Selbst treten kann, und so war sie auch vermittelnd, um die Erinnerungen verschiedener Generationen miteinander zu verknüpfen. Die Zerstörung von Landschaften führt ebenso zu einer Distanzierung vom Selbst und sukzessive zu einem Vergessen dieser Kultur.
Bewirkt die Monumentalisierung von tragischen Ereignissen nicht auch die Beeinflussung von Gedächtnis, Erinnern und Gedenken? Kann das Bewahren persönlicher Erzählungen Antipositionen zum Kapitalismus einnehmen? Über dem Ausstellungsraum schwebt eine flexible Skulptur, die aus nebeneinander verlaufenden Wollfäden und haltgebenden Ringen gebildet ist. Shinpei Takeda hat in Amerika Interviews mit exilierten Überlebenden der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki geführt und diese Erinnerungen auf die Fäden der Skulptur übertragen. Die Fäden stammen aus einem jener Gebiete Mexikos, deren indigene Kulturen Textilien als Speicher von Wissen ansehen. Takedas Antimonument vernetzt nicht nur unterschiedliche Formen der Erinnerung, sondern verweist auch auf andere Möglichkeiten ihrer Repräsentation.
Edgar Honetschlägers Video beweist, dass sich eine Verbindung zwischen einzelnen historischen Elementen sowie anmutigen und erbarmungslosen Bildern herstellen lässt. Unter Verwendung einer Trope ostasiatischer Dichtung, dem Fischer, erzählt es von den Konsequenzen des Kapitalismus für Japan, beginnend mit der erzwungenen Öffnung des Landes 1854. Das Patchwork aus Poesie und Dokumentation kennzeichnet den Kapitalismus als Ursache jeglicher atomaren Bedrohung und offenbart, dass dieses gerade von konservativen Regierungen propagierte System komplexe Beziehungsgeflechte traditioneller Strukturen ebenso zerstört, wie es uniformierte Vorstellungen von Freiheit erzeugt, um Freiheitsräume zu beschneiden.
Ein weißer Anzug aus Papier ist mit roten Linien bestickt. Über dieses einfache Bild wird vermittelt, wie etwas, das aus dem Inneren des Körpers heraustritt, durch etwas ausgelöst wurde, das fast nicht wahrnehmbar in das Innere eingedrungen ist. Naoko Yoshimotos Arbeit bezieht sich auf das Atomreaktorunglück in Fukushima und die zu dünnen Schutzanzüge, mit denen Arbeiter ausgestattet wurden. Man mag sich auch an Senninbari erinnern, weiße Stofftücher, die von 1.000 Frauen mit je einem Stich bestickt und als Schutzamulette an in den Krieg ziehende Männer verteilt wurden. Sollten sie im ersten Japanisch-Chinesischen Krieg noch erfolgreich gewirkt haben, so nützten sie, in einer patriotischen Reminiszenz erinnert und erneut angewandt, im Zweiten Weltkrieg nur noch wenig.
In zwei identisch erscheinenden Videos (eines ist die zensierte Fassung des anderen, Wörter wie radioaktiv, Nordkorea oder Sexsklaven sind durchgestrichen) nehmen Chim↑Pom vor den Trümmern der 2011 von Erdbeben und Tsunami verwüsteten Stadt Soma mit Jugendlichen Aufstellung in einem Kreis und führen eine rituell anmutende Aktion durch, die Kraft für den Wiederaufbau stimulieren soll. Im Kampfsport wird Koordination mit 100 „ki-ai“-Schreien trainiert, Energie durch Ausatmen und Artikulation gesammelt. Dass die Evokation eines Ritus dafür kein abwegiger Gedanke ist, zeigt eine Entwicklung in der betroffenen Region Tohoku: Matsuri, die traditionellen Volksfeste und -tänze, erhielten als gemeinschaftliche Verarbeitungsmöglichkeit der Traumata selbst eine neue Bedeutung. Nicht die widerspenstige Handlung in dem Sinn, dass sich während einer rituellen Gemeinschaftsgeste auch mögliche individuelle Gefühle realisieren, hat in Japan Diskussionen ausgelöst – der Aspekt der Übersetzung in Kunst bereitet einem Teil der Menschen Schwierigkeiten.
Midori Mitamuras Installation schafft mit verschieden großen, ineinandergeschobenen Rahmen einen Raum im Raum, etabliert ein eigenständiges Hängesystem und zeigt Möglichkeiten von Freiheit innerhalb gegebener Strukturen. Täglich werden Fundstücke, Spielzeugfiguren, Zitate, Zeichnungen hinzugefügt. Wiederkehrende sowie sich verändernde Elemente spielen nicht nur mit dem Werkbegriff eines Kunstwerks, sie erinnern auch an das dualistische Prinzip von Wandel und Beständigkeit, das Leben als permanentes Werden begreift. Autonom von der größeren Struktur, ohne jedoch deren Kontext zu verlassen, reagiert die Installation seismografisch auf ihre Umgebung und setzt der Ausstellung eine zentrale Aussage in ihre Mitte ein. Das Geflecht aus Splittern subjektiver Konditionierung, sozialer Erziehungs- und Prägungsformen, kollektiver Beziehungen und Erinnerungen drückt aus, dass das Private in äußere Zusammenhänge eingebettet ist und auch aus ihnen hervorgeht.
Diesem in der Ausstellung versammelten Reichtum an Ideen und ästhetischen Lösungen hat der Kurator Marcello Farabegoli ein Korsett unterlegt. Nach einer ersten Absicht, Zensur zum Thema zu erheben, hat er sich für einen japanischen Verhaltenskodex entschieden. Das komplementäre Begriffspaar Tatemae (äußere Maskerade) und Honne (inneres, wahres Gefühl), das Farabegoli antagonistisch einsetzt, ist kein modernes Konzept, sondern stellt eine traditionelle Konvention der japanischen Gesellschaft dar. Eine isolierte Positionierung berücksichtigt nicht die vielfältigen Beziehungen, in denen ein japanischer Kodex immer zu anderen Richtsätzen und Techniken steht, nicht den situativen ethischen Hintergrund, den dieses Gefüge von Verpflichtungen bedingt.

Nachbemerkung: Ende Oktober entzog die Japanische Botschaft der Ausstellung die Anerkennung als offizielle Jubiläumsveranstaltung der 150-jährigen japanisch-österreichischen diplomatischen Beziehungen. Die Ausstellung wurde damit nicht zensiert; doch der Ausblick auf die weitere japanische Kunstförderung ist beunruhigend.