Karlsruhe. Wenn ein Museumsdirektor als „Kontinent, den es zu bereisen gilt“ (Sloterdijk) und sein Museum als „Raumschiff“ bezeichnet wird, muss mehr dahinterstehen als bloß eine Person und ein Haus. Zurzeit zeigt das ZKM in Karlsruhe seine eigentlichen Wurzeln, seine Basis – das künstlerische Gesamtwerk Peter Weibels. Drei Jubiläen sind dafür verantwortlich: 75 Jahre Peter Weibel, 30 Jahre ZKM und 20 Jahre Peter Weibel als Leiter einer der bedeutendsten und visionärsten Kunstinstitutionen weltweit.
Über 400 Werke wurden in der vom ZKM kollektiv kuratierten Präsentation definiert, restauriert und rekonstruiert. Mächtige Gedankengebäude mit weitreichenden Konsequenzen, verdichtet in technologisch höchst anspruchsvollen Versuchsanordnungen – Sprachtheorie, Mathematik, logische Philosophie, visuelle Poesie, experimentelle Literatur, Performance oder die Dekonstruktion filmischer Darstellung bis zur Medienoper – bilden seit Beginn der 1960er-Jahre bis heute die Grundlagen für ein höchst visionäres Kunstschaffen. Diese Kunstwerke sind nicht in konventionellen Kategorien fassbar. Die Werke existieren kaum und haben selten endgültige Formulierungen zum Ziel. Vielmehr sind sie „abgelegte Werkzeuge“ (Brock), Modelle bzw. Materialisationen komplexer, weit über die Kunst hinausreichender Konzepte. Das Feld des Möglichen überlagert sich mit dem des Faktischen, wenn sich Kunst und Wissenschaft treffen. Weibel war nie am Fetisch Kunst interessiert. Von Beginn an ignorierte er bestehende Hierarchien zwischen ausgestelltem Objekt und BetrachterIn, forderte sein Publikum auf produktive Weise heraus, zwang es zur Interaktion bzw. zur Partizipation und emanzipierte es gleichzeitig. Die Liaison zwischen Theoriebildung und künstlerischer Praxis erzeugt ein offenes Handlungsfeld, in dem Weibel zwischen seinen unterschiedlichen Identitäten switcht – Theoretiker, Künstler, Wissenschaftler, Kurator. Es gilt, Systeme zu entwickeln, die uns unsere Wirklichkeit erklären. Die Wissenschaft tut das, die Kunst, wie Weibel sie meint, ohnehin. Spektakel und Marktkalkül sowie ästhetische Ambitionen sind dabei niemals Ziel. Es ist der Anspruch der Aufklärung, der Weibels Kunst kritisch-subversiv positioniert.
Sein gesamtes Tun ist mit einem tiefen Zweifel an einer bestehenden Conditio Humana verbunden. Gefangen in einem „Gefängnis von Raum und Zeit“ (Weibel) befindet sich der Mensch. Für Weibel ist es klar und in der Konsequenz auch möglich, diesen Bereich zu verlassen bzw. ihn wenigstens zu erweitern und Freigänge zu erwirken. Selbst Produkt der Natur kann der Mensch das nur im Rahmen bestehender Naturgesetze. Diese jedoch erweitern sich stets durch die Entdeckung neuer Naturgesetze. An der Beschleunigung dieses Prozesses arbeitet Weibel seit Beginn seiner künstlerischen Tätigkeit. In der zwischen 1986 und 1988 entstandenen Videoinstallation Gesänge des Pluriversums vereint er die Medien Video, Foto, Film und Computer und visualisiert damit die Techno-Transformation der letzten 200 Jahre. Dabei werden zwischen radbasierter industrieller und datenbasierter postindustrieller Informationsdynamik neue Erfahrungen von Raum und Zeit möglich. Denken, Sprache, Handlung – all das ist vom menschlichen Körper und seinen Funktionen abhängig. Nur eine fragmentierte Realitätswahrnehmung ist uns möglich. Die multiplen Welten, innerhalb derer Weibel hin und her wechselt, lassen ihn auch viele Jobs in unterschiedlichen Bereichen gleichzeitig ausüben. Nirgends fassbar – weder als Person noch als Künstler – ist er scheinbar an vielen Orten gleichzeitig, vielleicht überhaupt „ortlos“. Der Körper setzt jedoch Grenzen. Von den Optionen, die sich bieten, kann man oft nur eine auswählen. Das scheint das Dilemma zu sein, jede Wahl unterdrückt unzählige andere Möglichkeiten. Dieses zu brechen, trat Weibel nicht zuletzt auch im Rahmen des Wiener Aktionismus, dem er seinen Namen gab, an. Den Körper voll belasten, obsessiv-ekstatisch mit ihm performen, um sich gleichzeitig von ihm zu befreien, ihn aufs Radikalste untersuchen und ihn damit in neue Dimensionen der Wahrnehmung katapultieren, ihn als Kommunikationsmittel definieren, seine Hinfälligkeit, seine soziale Bedingtheit demonstrieren – damit verstörten die Wiener Aktionisten ihr Publikum auf das Radikalste. Kaum hatte sich der Staub der Explosion gelegt, war Weibel schon unterwegs in Richtung neuer Territorien. Den Körper mit dem Apparat zu fusionieren, die Beobachtung der eigenen Beobachtung zu ermöglichen und damit die Naturgesetze erneut zu sprengen – Peter Weibel als Videopionier mit „Closed Circuit“-Installationen. Aktionsvorträge und Fluxus-Aktionen und parallel dazu Forschungen zur „abstrakten Automatentheorie“, der Vorform der Informatik, erweiterten die Analyse in Richtung Wahrnehmungsmechanismen und Ergründung des Denkens. Dabei sind die gesellschaftsverändernden Komponenten, die der sozialen Bedingungen und der Machthierarchien, sowie gesellschaftspolitische Utopien, zentrale Anliegen, die weit über das konventionelle Kunstwerk hinauswirken.
Wir haben den zu Beginn erwähnten „Kontinent Peter Weibel“ erst begonnen zu bereisen. Zug um Zug wird er nun auch in Ausstellungen „urbar“ gemacht. Die in Karlsruhe gezeigten Kunstwerke sind vorläufige Annahmen, keine Letztgültigkeiten. Vieles davon war schon in großen Werkschauen – 2004 in der Neuen Galerie Graz, deren institutionelle Bedeutung Weibel über mehr als 20 Jahre hindurch bestimmte, oder 2014 im 21er-Haus in Wien – zu sehen. Jedoch waren dieselben Werke an den jeweiligen Orten unterschiedlich formuliert. War es in Graz der Versuch zur Musealisierung des Einzelwerks, so konnte man in Wien eher den Eindruck des Installativen beobachten. Institutionskritik und Kritik am Betriebssystem Kunst – Grundanliegen Weibels – manifestierten sich dabei jeweils unterschiedlich. Das Medium Ausstellung ist ihm nicht nur bezogen auf sein eigenes Werk adäquates Werkzeug. In den Werken anderer KünstlerInnen verfolgt er letztlich auch den allgemeinen Erkenntnisgewinn und erprobt dabei neue Formen der ästhetischen Praxis. Es ist ein ständiges Forschen und Reisen zwischen den Stationen des Pluriversums.
Im hochkarätig besetzten Symposium, das anlässlich der Ausstellungeröffnung respektive Peter Weibel stattfand – Jochen Hörisch fungierte als genialer Reiseleiter durch den „Kontinent Peter Weibel“ –, versuchten Bazon Brock, GJ Lischka, Siegfried Zielinski, Otto E. Rössler u.v.a. den Universalisten auf unterschiedlichen Ebenen zu erreichen. Videobotschaften von Slavoj Žižek über Anton Zeilinger, Hans Belting, Jean-Jacques Lebel oder David Reed rundeten die geistige Feldforschung ab. Weibel hörte aufmerksam zu – man hätte ihn gerne resümierend gehört. Erkannte er sich in all dem wieder? Immerhin saß er im Vortragssaal des ZKM, dem wohl größten seiner Kunstwerke, das am ehesten der Komplexität seiner Person entspricht. Dieses „Raumschiff“, das aus der Zukunft zu uns gekommen zu sein scheint, ist letztlich die Materialisation des Weibel‘schen Denkens. Das kann man schwer imaginieren, wenn man sich das hilflose Kriegsflüchtlingskind, das 1944 mit seiner Mutter aus dem Vielvölkerraum der Schwarzmeerküste in den nächsten Vielvölkerraum Österreich kam, vorstellt. Über Lager und Heime ging der Weg bis nach Karlsruhe. Der Kulturhistoriker William M. Johnston kontextualisiert Weibel dementsprechend auch im Vielvölkergemisch Kakaniens, speziell aber innerhalb der in diesem Lande nahezu vergessenen Tradition des formalen Denkens, der Sprach- und damit der Wirklichkeitskritik.
„Weibels primäre Qualitäten entziehen sich der Ausstellbarkeit – seine stetig wache Umsicht und seine unbeirrbare Offenheit für Ereignisse in dem Überraschungsraum, den man die Kunst nennt.“ (Sloterdijk).