München. Fotografien früher Performances, Einladungskarten, Installationsansichten, die Künstlerin im Kreis ihrer KünstlerkollegInnen und WeggefährtInnen: Projizierte Zeitzeugnisse im abgedunkelten Eingangsraum laden zur Einstimmung auf eine Ausstellung ein, die konsequent dem Ansatz folgt, das Werk der afroamerikanischen Künstlerin Senga Nengudi nicht auf die Präsentation ihrer inzwischen als Teil der jüngeren amerikanischen Kunstgeschichte kanonisierten Objekte aus gespannten, verknoteten und mit verschiedenen Materialien befüllten Nylonstrümpfe zu beschränken. Vielmehr wird Nengudis künstlerische Produktion seit den späten 1960er-Jahren als kontextuelle Praxis erzählt, die sich zwischen Tanz, Performance und Skulptur, mit einem zugrunde liegenden prozessualen Werkverständnis, in kollaborativen Strukturen und in Relation zu spezifischen soziopolitischen Bedingungen definiert. Das scheint umso relevanter, als in der Rezeptionsgeschichte ihres Werks die – gerade auch von afroamerikanischen KünstlerkollegInnen geäußerte – Kritik an ihrer abstrakten und daher vermeintlich unpolitischen Kunst sedimentiert widerhallt.
Lassen die frühen Arbeiten – mit farbigen Flüssigkeiten gefüllte Plastikfolien, die für die Präsentation im Lenbachhaus neu angefertigt wurden und unerwartet frisch und glossy wirken – eine formale Nähe zu minimalistischen Positionen noch vage nachvollziehen, so verliert sich in der räumlichen Abfolge der lose chronologisch strukturierten Ausstellung dieser Eindruck bald mit dem Auftritt des „gebrauchten“, intimen und alltäglichen Materials der Nylonstrumpfhosen. Die Skulpturen bleiben ungegenständlich, aber gleichzeitig metonymisch auf die Trägerinnen der verwendeten Strumpfhosen bezogen und suggerieren mit ihren an Organe, Brüste, Hoden und Körperöffnungen erinnernden Tentakeln, Wülsten und Spreizungen fragmentierte Körper, körperliche Zustände und Transformationen.
Für den Ansatz einiger afroamerikanischer KünstlerInnen, den Kontext mit anzuspielen, aus dem die verwendeten Materialien stammen, prägten Linda Goode Bryant, die Betreiberin der wichtigen Just Above Midtown Galerie in New York, und Marcy S. Philips mit ihrem gleichnamigen Essay von 1978 den Begriff „Contextures“ (Kontexturen) in Abgrenzung zum klassischen Verständnis des Readymades, das durch die vollzogene Verschiebung die repräsentative Funktion der Kunst selbst thematisiert.
Laut Stephanie Weber, der Kuratorin der Ausstellung, greifen in Nengudis Arbeiten soziale Konkretion als explizit wichtiges Prinzip für die politisierte afroamerikanische Kunstszene und Abstraktion symbiotisch ineinander.1 Es war die Erfahrung ihrer Schwangerschaft und der damit einhergehenden körperlichen Veränderungsprozesse, die Anlass zu Nengudis wohl bekanntester Werkreihe gab, den R.S.V.P. -Skulpturen, bestehend aus verschiedenen Fundstücken und ebenjenen Nylonstrumpfhosen, die im Raum bis zum Äußersten gespannt, durch Befüllung mit verschiedenen Materialien plastisch verformt, träge hängend oder geschwollen sinnliche und anthropomorphe Formen evozieren. Nengudi selbst benennt die Referenz auf schwarze, weibliche „gebrauchte“ Körper. Aber die Dynamik zwischen Flexibilität und Widerständigkeit, Ausdehnung und Kontraktion, Abhängigkeit und Symbiose, wie sie besonders in den Aktivierungen der Skulpturen durch Performerinnen hervortritt, lässt sich zusammen mit Motiven wie Heilung und Versöhnung, die Nengudi ebenfalls aufruft, auch allgemeiner auffassen. Der Aspekt der zyklischen Wiederholung, der in der Schwangerschaft kulminiert, impliziert immer auch ein Gegennarrativ zur dominanten westlichen Ideologie, die auf Innovation, Wachstum, Linearität und irreversiblem Verbrauch beruht. Ein nicht westlicher Zugriff – hier auf das Verhältnis von künstlerischem Material, Handlung und Objekt – zeigt sich auch in der Qualität des Nylonstoffs, der sich nahezu gewichtslos zusammenknüllen und dann wieder zur Skulptur erweitern lässt. In der fotografischen Dokumentation einer solchen performativen Intervention im öffentlichen Raum, im Rahmen derer die Strumpfhosenarbeiten als Requisiten und Kostümierungen zum Einsatz kommen, Ceremony for Freeway Fets von 1978, und im Video Shopping Bag Spirits and Freeway Fetishes: Reflections on Ritual Space (1978–80) von Barbara McCullough wird auch der Bezug zu religiösen Ritualen und afrikanischen Traditionen offensichtlich, der eine bedeutende Rolle in den Ermächtigungsbestrebungen des politisch-ästhetischen Black Arts Movement spielte. Vor dem Hintergrund anhaltender Ausgrenzung und auf der Suche nach eigenen Arbeitsweisen, Bezügen und künstlerischen Ausdrucksformen, die die eigene Lebensrealität integrierten, wurde hier eine Ressource erkannt – ebenso wie in kollektiven Arbeitsweisen.
Um die politische Dimension in Nengudis Praxis zu fassen – so macht die Ausstellung deutlich –, muss ihr eklektizistischer Ansatz und ihr Zugriff auf nicht westliche künstlerische Verfahren zusammengesehen werden mit ihren kollaborativen Produktionsprozessen, den spontanen Interventionen und Performances im öffentlichen Raum und in zahlreichen informellen Kontexten. Als Teil der Künstlerformation Studio Z stellte sie sich der Frage nach eigenen Infrastrukturen, Räumen und Netzwerken jenseits des etablierten Kunstbetriebs und behauptet gleichzeitig mit ihren „stationären“ Performances in Galerie- und Ausstellungsräumen die nach wie vor unterrepräsentierte Anwesenheit der schwarzen Frau in ebendiesen. Nach der städtischen Galerie im Lenbachhaus München zeigt das MASP – Museu de Arte de São Paulo die Ausstellung leicht verändert im Frühjahr 2020.
1 Vgl. Stephanie Weber, Dynamische Topologien: Über Stetes und Vergängliches im Werk von Senga Nengudi, in: Matthias Mühlin/Stephanie Weber (Hg.): Senga Nengudi. Topologien. Ausstellungskatalog, München 2019, S. 24.