Heft 1/2020 - Intersektionen


Transindividualität und Differenz

Über Aporien der Intersektionalität

Suzana Milevska


Was die Verwendung des Konzepts der Intersektionalität anbetrifft, so wurden dem gängigen feministischen Diskurs schon häufiger „Missdeutungen, Missbrauch und Übertretung“1 vorgeworfen. Demgegenüber beteuert Jennifer C. Nash auf die Frage, warum sie ihrem Buch den Titel Black Feminism Reimagined: After Intersectionality gegeben habe, das „nach“ (after) im Titel habe nichts zu tun mit etwaigen Forderungen nach einer Abkehr von der Intersektionalität und ihren Versprechungen. Vielmehr gehe es bei dem Wort „nach“ um die Notwendigkeit, die Beziehung zwischen Intersektionalität und Schwarzem feministischen Diskurs zu überdenken. Auch gegen die übliche Kritik hinsichtlich einer missbräuchlichen Verwendung des Konzepts wehrt sie sich, und das nicht, weil mit dem Konzept an sich etwas falsch wäre. Angesichts der harten Kritik an der „Aneignung“ der Intersektionalität aus der privilegierten Position „weißer FeministInnen“ ungeachtet seiner Herkunft aus dem Schwarzen Feminismus und auch in Anbetracht neuer Problemstellungen, die sich aus den Diskussionen zur Intersektionalität im Rahmen der neoliberalen akademischen Welt ergeben,2 ist es nicht verwunderlich, dass derartige Debatten inzwischen als „Intersektionalitätskriege“ bezeichnet werden.
Die aktuelle Debatte wurde jüngst von Kimberlé Crenshaw, die den Begriff der Intersektionalität vor 30 Jahren im theoretischen Kontext geprägt hat, in einem Vortrag aufgegriffen.3 Crenshaw zufolge geht es bei diesen „Auseinandersetzungen um das Narrativ“ darum, „wie die Geschichte lautet“ und „wer sie erzählen darf“.4 Im gleichen Vortrag kritisierte sie die Debatte, die sich auf die Kritik am eigentlichen Konzept konzentriere, anstatt sich den Problemen zuzuwenden, auf die die Intersektionalität aufmerksam gemacht habe: „Nein, es war die Intersektionalität selbst, die verhört und aufgehalten wurde, die aufgefordert wurde, sich als Eindringling in der abgeschotteten Gemeinschaft etablierter Vorstellungen zu rechtfertigen.“5
Ungeachtet der anhaltenden Kritik an der weitverbreiteten Verwendung des Begriffs in populären feministischen Texten äußert Nash Kritik an der „territorialen“ Verteidigung der Intersektionalität im Hinblick auf das historische Vermächtnis des Schwarzen feministischen Diskurses. Sie lehnt es ab, den „weißen Feminismus“ als schuldig an der angeblich missbräuchlichen Aneignung zu betrachten, weil dies ihrer Ansicht nach sowohl den „Schwarzen“ als auch den „weißen“ Feminismus daran hindert, fruchtbare Diskussionen über die problematischen Überschneidungen zwischen „Rasse“, Ethnizität, Nationalität, Gender, Sexualität, Klasse und anderen vorgegebenen Kategorien von Identität und Subjektivität zu führen.6
Auch wenn sie nicht im direkten Zusammenhang mit dem theoretischen Vermächtnis von Schwarzem Feminismus und Intersektionalität steht, gehört die Zwei-Kanal-Videoskulptur The Soul of Tammi Terrell (2001) von Jonathan Horowitz zu den bemerkenswertesten Kunstwerken, was die Problematik der Intersektionalität betrifft. Das Werk zeigt in einem Filmausschnitt aus den 1960er-Jahren Marvin Gaye und Tammi Terrell, die zusammen den Song „Ain’t No Mountain High Enough“ singen, während auf einem anderen Fernsehbildschirm zwei Szenen aus dem Film Seite an Seite (Stepmom, 1998) zu sehen sind. In den beiden zusammengeschnittenen Szenen singen die unheilbar an Krebs erkrankte Mutter (gespielt von Susan Sarandon) und die Stiefmutter (gespielt von Julia Roberts) lippensynchron das gleiche Lied mit den beiden Kindern (Sohn und Tochter). Im ersten Ausschnitt nennen Sohn und Mutter einander „Tammi“ und „Marvin“.
Der ursprüngliche Pressetext dazu enthielt nur eine kurze Werkbeschreibung, in der auf die zufällige Tatsache verwiesen wurde, dass Tammi Terrell im wirklichen Leben im Alter von 24 Jahren an Krebs starb.7 Damit ist das Publikum angehalten, das Werk im Kontext der Debatte um die Überschneidung zwischen Leben und Kunst, Realität und Fiktion zu betrachten. Die Pressemitteilung enthielt jedoch keine biografischen Informationen oder Verweise auf die Überschneidungen zwischen Ethnizität, Gender, Sexualität und Alter. So gab es beispielsweise weder einen offenkundigen politischen Kommentar zu der Tatsache, dass alle Hauptfiguren bzw. DarstellerInnen des Films weiß sind, noch fanden sich Informationen über das harte Schicksal der Schwarzen Sängerin Terrell, die bereits in jungen Jahren sexuell missbraucht wurde (zuerst im Alter von elf Jahren durch drei unbekannten Jungen, später dann durch ihre berühmten männlichen Kollegen – Schwarze Sänger wie James Brown). Horowitz’ Œuvre ist jedoch für seine subtilen, indirekten politischen Kommentare bekannt. Die Frage nach der eventuellen Neuinterpretation eines Kunstwerks, dessen Bedeutung von der Künstlerin bzw. vom Künstler ursprünglich nicht so angelegt war, mag sich hier aufdrängen, ist insgesamt aber weniger relevant. Schwieriger ist schon die Beantwortung der Frage, ob die Möglichkeit des Neuinterpretierens als Bereicherung oder als Beschränkung des Kunstwerks gelten sollte, da die Überschneidung von „Rasse“, Gender, Sexualität, Krankheit und Klasse (so stammt die Filmfamilie beispielsweise aus der Mittelschicht) auf zwei gänzlich unterschiedliche Arten gelesen werden kann: als womöglich gar nicht vorhanden oder aber als indirekt mit angelegt.

Transindividualität: asymptotische und fluide Identitäten
Ausgehend von der Prämisse, dass das Konzept der Intersektionalität zunehmend komplexere Diskussionen hinsichtlich der Art und Weise, in der Identität und Subjektivität sich überschneiden oder gegenseitig implizieren, nicht verhindert, sondern vielmehr befördert, möchte ich hier noch ein weiteres Konzept einbringen, das die Bedeutung der Beziehung zwischen Identität, Subjektivität und Intersektionalität erhellen könnte: das Konzept der Transindividualität.
In seinem Buch The Politics of Transindividuality liefert Jason Read eine ausführliche Abhandlung der historisch-philosophischen Herkunft des Begriffs, den er auf die Philosophie Spinozas zurückführt.8 Er geht auch auf die neuere marxistische, soziopolitische Deutungsweise dieses ansonsten hermetischen Konzepts ein, das ursprünglich von dem französischen Philosophen Gilbert Simondon stammt. Im Gespräch mit Jeremy Gilbert schlägt Read aber eine kürzere und klarere Erklärung vor – Transindividualität als Möglichkeit, die „gegenseitige Konstitution von Individuum und Kollektiv“ zu begreifen:
„Anstatt Individualität und Kollektivität als eine Art Nullsummenspiel zu betrachten, in dem Individualität sich durch die Anfechtung von Kollektivität und Kollektivität sich durch die Unterdrückung von Individualität entwickelt, sollten wir einsehen, dass Kollektivität nichts anderes ist als eine bestimmte Art der Individuation und Individualität eine besondere Artikulation kollektiver Gewohnheiten und Daseinsformen.“9
Das Konzept der Identität und die Fähigkeit, die Überschneidungen zwischen unterschiedlichen Identitäten und ihr Verhältnis zur Kollektivität zu verstehen, stellen für PhilosophInnen sowie Sozial- und PolitikwissenschaftlerInnen einen Streitpunkt dar, zumal sich der Status des menschlichen Subjekts und des bewussten Erlebens höchst unterschiedlich betrachten lässt. Die Frage, ob wir in der Lage sind, die Identität des anderen zu transzendieren bzw. zu begreifen, findet ihren Ausdruck in der rhetorischen Frage „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“, die Thomas Nagel vor langer Zeit in seinem bekannten gleichnamigen Text stellte.10 Obwohl es Nagel vor allem um den radikalen Unterschied im bewussten Erleben von Mensch und Tier ging und er dazu das Beispiel einer Fledermaus verwendete, eignet sich seine Frage auch als aussage- und tragkräftige Metapher für die Unmöglichkeit, irgendjemand anderen als sich selbst zu verstehen, egal, ob Mensch oder Tier, und diese Frage ist heute relevanter denn je.
Alles Physische über bestimmte Lebewesen zu wissen, bedeutet immer noch nicht, sicher sein zu können, dass sie auch ein Bewusstsein haben (in dem Sinne, wie wir uns selbst als eine mit einem Bewusstsein ausgestattete Spezies betrachten). In seinem Buch The Conscious Mind schreibt David J. Chalmers: „Ausgehend von den physischen Fakten über eine Fledermaus können wir alle übrigen Fakten über eine Fledermaus ableiten, außer jene über die bewusste Erfahrung. Auch wenn wir alle physischen Fakten kennen, wissen wir immer noch nicht, wie es ist, eine Fledermaus zu sein.“11 Dies anzuerkennen, heißt jedoch nicht, dass wir nicht länger versuchen sollten, uns diesen unbekannten „anderen“ zu nähern und der Frage nachzugehen, „wie es ist“, jemand anders zu sein als wir selbst.
Auch unter Berücksichtigung aller vorliegenden Informationen bleibt das Problem unserer einzigartigen Erfahrung (die auch die Grundlage der künstlerischen Vorstellungskraft bildet) ungelöst. Es kann natürlich helfen, verstehen zu wollen, „wie es für mich wäre, mich so zu verhalten, wie sich eine Fledermaus verhält“. Aber wir können dadurch nicht herausfinden, wie es für eine Fledermaus ist, eine Fledermaus zu sein.12
Laut Maurice Merleau-Ponty gibt es keine Methode, die uns eine vollständige Extrapolation aus unserem eigenen Zustand auf das Innenleben einer anderen Kreatur erlauben würde, da dieser Erfahrung durch die uns eigene körperliche Struktur und die uns angeborenen Fähigkeiten Grenzen gesetzt sind.13 Folglich hat die Phänomenologie auch nie versucht, derartige Beschränkungen durch Empathie, Solidarität oder ein anderes Handlungsvermögen, das Menschen und Tieren gemein ist, zu überwinden. Die Frage der Übertragung von Daten aus der eigenen inneren Erfahrung ist eng mit der Frage nach Beweisen für die Existenz anderer minds verknüpft.
Die Frage, welche „Spielarten des Geistes“ (kind of minds) es gibt und wie wir diese erkennen, ergibt sich aus der Tatsache, dass wir alle nur einen derartigen „Geist“ und nicht zwei von uns den gleichen „Geist“ von innen kennen.14 Die wesentlichen Meinungsverschiedenheiten zwischen der Phänomenologie und anderen philosophischen Theorien über die Existenz anderer minds ergeben sich aus der Priorität, die die Phänomenologie der Unmöglichkeit beimisst, eine definitive Übereinstimmung der inneren mit unseren äußerlich beobachtbaren Fähigkeiten festzustellen.15 Das Konzept des subjektiven und nicht übertragbaren Charakters von Erfahrungen ist offenkundig und ein unausweichliches Hindernis dafür, sich gegenseitig vollständig zu verstehen und umfassend miteinander zu kommunizieren, auch aufgrund der Unfähigkeit, anderen die eigenen Erfahrungen in vollem Umfang zu vermitteln.
Auch Selma Selmans You Have No Idea (2016) liefert keine ultimative Antwort auf die Frage, wie man die unterschiedliche Identität und Erfahrung, die beispielsweise damit verbunden ist, dass Selman eine Künstlerin mit Roma-Herkunft ist, angehen und verstehen kann. Im Gegenteil, die Künstlerin schreit ohne Rücksicht auf ihre Stimme immer wieder laut den Satz „You Have No Idea!“ (Ihr habt keine Ahnung) heraus, als wolle sie auf diese Weise davor warnen, dass die Antwort nicht einfach ist.16 Sie sinniert über die Dringlichkeit, sich mit dem komplexen historischen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Hintergrund zu befassen, der „Roma“ als den größten gemeinsamen Nenner verschiedener Traditionen, Gemeinschaften und Untergruppen bestimmt.
Um festzustellen, was es bedeutet, zur Gemeinschaft der Roma zu gehören und als weibliche Künstlerin so bezeichnet zu werden – und was in historischer, kultureller und soziopolitischer Hinsicht wirklich zu den Roma und was allein zu dem Namen „Roma“ gehört –, dafür ist es tatsächlich notwendig, vorherrschende Missverständnisse, Stereotype und Kontroversen zu hinterfragen. Die politische Relevanz des Oberbegriffs „Roma“ (der für Sinti, Kale, Manusch, Gitanos und andere Roma/Romnija steht) ergänzt bzw. übersteigt seine sprachliche und kulturelle Bedeutung. Das Recht, über die Position hinsichtlich des Namens „Roma“ zu bestimmen – eine Position, von der aus Roma/Romnija ihre Zugehörigkeitserklärungen abgeben oder Nicht-Roma/Romnija als MittlerInnen der Ermächtigung und Solidarität mit Roma/Romnija fungieren können –, überschneidet sich mit sexistischen Stereotypen, in denen Romnija oder das von Roma/Romnija präferierte nomadische Leben als exotisch gelten.
Selmans Performance und Video ließen sich vor dem Hintergrund der Debatte zur Intersektionalität zwischen unterschiedlichen gesellschaftspolitischen Schichten interpretieren. Sie werfen auch die Frage nach der Unmöglichkeit von Kommunikation, Verständnis und Isolationismus auf. Ich schlage jedoch vor, die Frage anders zu formulieren bzw. andere Fragen zu stellen, zum Beispiel folgende: Ist es wirklich so schwierig bzw. warum sollte es überhaupt ein Problem sein, ein anderes Wesen zu verstehen, wenn unser aller Identität von einer komplexen Beschaffenheit ist und von außen ebenso schwer zu definieren und zu verstehen ist wie von innen? Sind Roma/Romnija, Indigene und andere People of Color, Schwule oder Transsexuelle wirklich so anders, dass wir die Unterschiede zwischen „uns“ und „ihnen“ nicht begreifen können? Ist Selma Selmans Frage nicht Aufforderung zu einer weiteren Essentialisierung, weil man Angst hat, es könnte auf irgendeiner Ebene Überschneidungen geben? Und, falls das der Fall sein sollte: Was hat diese Kommunikation und das gegenseitige Verständnis in historischer und kultureller Hinsicht so schwierig gemacht? Ist das nicht die eigentliche Frage, die Frage nach der radikalen Differenz oder Unmöglichkeit der Kommunikation, die mit einer bestimmten Hierarchie oder Gewalt auf grundlegender menschlicher (und nicht kultureller) Ebene einhergeht?
So wie schon in Gayatri C. Spivaks Antwort auf die gleiche kulturelle Frage am Schluss ihres Essays „Can the Subaltern Speak?“ geht es in erster Linie darum, der jeweiligen Stimme Gehör zu schenken und dabei die Annäherung an den anderen Menschen im Auge zu haben, obwohl ein vollständiges gegenseitiges Verständnis selbst innerhalb der gleichen ethnischen, kulturellen, sexuellen, gender- oder klassenspezifischen Zugehörigkeit von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. Jeder menschliche Geist lässt sich kulturell umformen (Stichwort Neuroplastizität), sodass unsere Fähigkeit und unser Wunsch, „sich anderen und uns selbst zu präsentieren“17 und „uns selbst durch Sprache und Gestik äußerlich und innerlich zu repräsentieren“, dazu führen, dass wir uns von den anderen unterscheiden.
Obwohl Nagel und Chalmers darauf hingewiesen haben, dass alle relevanten physischen Fakten nicht ausreichen, um eine erschöpfende Antwort auf die Frage zu geben, wie es ist, anders zu sein, heißt das nicht, dass wir nicht zuhören, empathisch sein und koexistieren sollen.18 Nähe und Empathie sind notwendig aporetische und asymptotische Beziehungen, die es anzustreben gilt, auch in dem Bewusstsein um ihre annähernde Unmöglichkeit. Letztendlich sollte das ein Fazit aus Selmans Werk sein, auch wenn sie abzustreiten scheint, dass dies in der Realität passiert, zumindest bisher.
Ready To Rumble?! (2014), eine Zusammenarbeit der beiden Künstlerinnen Jamika Ajalon und Marion Porten, besteht aus Live-Talk-Performances, Postern, Foto- und Videokomponenten und behandelt das Problem der Intersektionalität zwischen Gender, Ethnizität und Sexualität in der Kunst. Laut Eigendefinition arbeiten die beiden seit 2013 im Kontext von „Schwarzem und weißem Feminismus, der Handlungsmacht von Women of Colour, Intersektionalität* und der (Un-)Sichtbarkeit rassistischer Strukturen in feministischen Bewegungen in Vergangenheit und Gegenwart“. In ihren Gesprächen haben sie sich mit dem Problem der Critical Whiteness und queeren Frauen (Porten ist weiß, Ajalon Schwarz, beide identifizieren sich selbst als queer) auseinandergesetzt.19
Die Künstlerinnen zitieren auf ihrer Website Crenshaws Definition von Intersektionalität als „Konzept, das häufig in kritischen Theorien verwendet wird, um die Verschränkung repressiver Institutionen (Rassismus, Sexismus, Homophobie, Transphobie, Ableismus, Xenophobie, Klassismus etc.) zu beschreiben, die nicht getrennt voneinander untersucht werden können“. Bei einer ihrer Diskussionen, in der es um Harriet Tubman ging (die Ikone der Fluchthilfeorganisation Underground Railroad, die in der Zeit vor dem Bürgerkrieg in den USA zunächst sich selbst und dann andere aus der Versklavung befreite), beschlossen Ajalon und Porten, das berühmte Poster mit Jean-Michel Basquiat und Andy Warhol in Boxhandschuhen nachzustellen. Dies wurde zum zentralen Element ihres Projekts, neben ihren Diskussionen über Feminismus, Queerness und Kunst. Der Prozess der Reinszenierung des Posters gab Anlass zu weiteren Diskussionen rund um Fragen, mit denen die Künstlerinnen häufig konfrontiert wurden: Ermächtigung oder Gewalt, solidarisches Handeln und rassistische Repräsentationen durch die Gegenüberstellung Schwarzer und weißer Frauenkörper. Dies versuchen die Künstlerinnen auch formal umzusetzen, beispielsweise im Hinblick auf die Politik der Lichteinstellung in Bezug auf die Hautfarbe im Film (z. B. in Form eines geringen oder hohen Kontrasts).

Name, Identität, Transindividualität
Eine der naheliegendsten Fragen hinsichtlich der Intersektionalität ist jene nach dem Zusammenhang von Identität und Name. Konkret: Wer hat die Kontrolle über Benennung und Umbenennung, oder wie kann Macht zur Reproduktion und Verbreitung dominanter kultureller und moralischer Prinzipien eingesetzt werden? Die Verinnerlichung herabwürdigender Namen als Träger der Regime von Repräsentation, Identifikation, Selbst-Essentialisierung und Selbst-Rassifizierung erzeugt einen bedrohlichen Teufelskreis, aus dem ganz dringend ein Ausweg gefunden werden muss. Im Gegensatz zur vermeintlichen Übereinstimmung zwischen Name und Identität, wie sie laut Gilles Deleuze in nationalistischen Diskursen vorausgesetzt wird, ist der erste Moment der Namensgebung bzw. des Erhalts des Namens bereits an sich „der Höhepunkt [der] Entindividualisierung“, denn dann werden wir „durch die spontane Wahrnehmung von Vielheiten“, die zu uns gehören und zu denen wir gehören, „ganz intensiv unterscheidbar“20. Deleuzes Warnung hält diesbezüglich auch Antworten bereit, denn er versteht unser Leben als die Summe kleiner Prozesse des „Werdens“, die unsere Identitäten prägen und gestalten, letztendlich jedoch Eigenheiten schaffen, die nicht mehr zu diesen Identitäten passen.
Nach Ansicht von Gilbert Simondon ist der Prozess der Individuation nie abgeschlossen, da die Vielheit des Präindividuellen sich nie vollständig in eine Singularität übertragen lässt; das Subjekt hingegen ist eine kontinuierliche Verknüpfung präindividueller Elemente und individuierter Merkmale.21 Der einzige Weg, um uns auferlegte Identitäten, die uns unterdrücken, zu überwinden, besteht darin, unsere Subindividualitäten zu befreien und sie mit anderen zu kombinieren, um eine Vielzahl möglicher und potenzieller Vielheiten zu bilden. Die so entstandenen Vielheiten werden immer „größer“ sein als die Kontrollgesellschaft, da jeder von uns größer ist als jede individuelle oder kollektive Bezeichnung oder jeder Name, der uns zugewiesen werden könnte („Mann“, „Frau“, „Studentin“, „Lesbe“, „Weiß“, „Schwarz“, „Roma“). Jede und jeder von uns ist stets mehr als die Namen, die uns gegeben werden.
Tanja Ostojić zeichnet in ihrem Projekt Lexicon of Tanjas Ostojić eine komplexe psychogeografische Karte der Beziehungen zwischen Eigennamen, ethnischer Identität, Zugehörigkeit und Transindividualität. Das Kunst- und Forschungsprojekt bestand aus einer längeren Suche nach anderen Frauen mit dem Namen Tanja Ostojić, schließlich der Kommunikation und Begegnung der Künstlerin mit diesen Frauen, die sie in Bosnien, Slowenien, Serbien, Montenegro, Deutschland etc. fand. Das informelle Kollektiv aus 33 Frauen mit dem gleichen Namen gründete eine Facebook-Gruppe, es gab eine handgefertigte Karte, auf der die Grenzüberschreitungen der Namensschwestern eingezeichnet waren, außerdem fanden im Rahmen des Projekts drei Ausstellungen, Guided Tours, Artist Talks, Projektpräsentationen sowie Stickerei- und Keramikworkshops statt.22
Ursprünglich ging es der Künstlerin darum, verschiedene Bedingungen zu untersuchen, unter denen Frauen aus den ehemaligen jugoslawischen Republiken nach der Auflösung Jugoslawiens leben, darunter Aspekte wie Migration, Vertreibung, Wandel und Arbeit. Mit Lexicon of Tanjas Ostojić wollte die Künstlerin bewusst eine Gemeinschaft schaffen, die als eine Art willkürlicher Rahmen für verschiedene lockere Beziehungen fungiert, welche für die Dauer des Projekts geknüpft wurden – und möglicherweise darüber hinaus, in ähnlich kontingenter Weise, wie sie ursprünglich entstanden sind, und jenseits aller kontrollierbaren gesellschaftlichen Bedingungen und Institutionen.
Unter Berücksichtigung der Überschneidungen von ethnischen, kulturellen, religiösen, geschlechtsspezifischen und sexuellen Unterschieden führte die künstlerische Erforschung der komplexen biografischen und historischen Ebenen einer zufälligen „Homonymie“ zu einem transindividuellen und psychogeografischen Raster, das die Herkunftsorte, Geburtsjahre, beruflichen Tätigkeiten, Ethnien und verschiedenen Lebenswege/Schicksale und Ortswechsel der von der Künstlerin kontaktierten Frauen, die alle den Namen Tanja Ostojić tragen, verfolgt. Ihr Name bzw. ihre Zugehörigkeit zu dem mittlerweile nicht mehr existierenden Land Jugoslawien und somit auch die damit vermeintlich verbundene regionale Identität waren dabei nur willkürlich gewählte, zufällige Ausgangspunkte. Die anfänglich ähnlichen Bedingungen wirkten sich unweigerlich auf die Schicksale der gleichnamigen Frauen aus und kreuzten sich in einer Art Raster der unterschiedlichen Lebenswege und Erfahrungen.
Abschließend sei angemerkt, dass sich der utopische Glaube an eine vollständige Zugehörigkeit mit dem Potenzial der Nichtzugehörigkeit überschneidet.23 Die Nichtzugehörigkeit wird insbesondere in dem Begriff der regionalen Zugehörigkeit impliziert, bei der das Nationale dem Kosmopolitischen auf halbem Wege entgegenkommt. Während das Phantasma der Zugehörigkeit zu einer Nation und der Zugehörigkeit im Allgemeinen auf einer positiven und utopischen Hoffnung beruht, ist die Aktualität der Zugehörigkeit, zum Beispiel zu einer Region, durch das Potenzial der Zugehörigkeit ohne Zugehörigkeit oder der Zugehörigkeit ohne Gemeinsamkeiten definiert.24
Die EU ist weder Nation noch Region, doch funktioniert die Zugehörigkeit zu ihr als eine Art übergeordnete Zugehörigkeit. In einem solchen politischen und kulturellen Kontext überschneiden sich die Vorstellungen von ethnischer und regionaler Identität auf unvorhersehbare Weise. Von all den nachdrücklichen Erwartungen und Phantasmen, die gerade unter den verschiedenen Völkern und Nationen im neuen Europa aufkommen, ist der Wunsch und die projizierte Hoffnung, zur EU zu gehören, am dringlichsten geworden. Die regionale Identität scheint eine Art Aporie zu sein, eine spezifische Form disjunktiver Identität, die als ein gewisser politischer Kompromiss, als „gefährliche Ergänzung“ (Supplement), als „Klasse von Klassen“ die Zugehörigkeit zu einer Nation durch die Zugehörigkeit zur Europäischen Union überbrückt. Die hierarchisierte Überschneidung zwischen minoritären und majoritären ethnischen Identitäten innerhalb einer Staatsgrenze ist dabei ein ebenso relevanter Faktor, der mit der Frage der Dominanz einer Ethnie einhergeht.
Die EU besteht aus verschiedenen Nationen und Identitäten, die sich überschneiden, weil es keinen einzelnen reinen Nationalstaat gibt. So änderte die ehemalige jugoslawische Republik Mazedonien nach einem 20 Jahre währenden Streit mit Griechenland um die Namensfrage 2019 ihren Namen wegen des noch unbestätigten Versprechens der Aufnahme in die EU. Hierarchisierte Überschneidungen können durch Kultur und Kunst kritisch hinterfragt werden, da diese Transindividualität höher schätzen als feststehende Identitäten, die sich in kontrollhaften bzw. politisierten Agenden überschneiden – etwas, das Rechte, Rechtsextreme, UltranationalistInnen und Neoliberale verbindet. Von daher ist Intersektionalität nur in Bezug darauf problematisch, wer die Kontrolle über den Verkehr an den Kreuzungspunkten hat.

 

Übersetzt von Anja Schulte

 

[1] Vgl. Claudia Garcia-Rojas im Interview mit Jennifer C. Nash, Intersectionality Is a Hot Topic – and So Is the Term’s Misuse, Truthout, 17. Oktober 2019; https://truthout.org/articles/intersectionality-is-a-hot-topic-and-so-is-the-terms-misuse/.
[2] Vgl. Sara Salem, Intersectionality and its discontents: Intersectionality as traveling theory, in: European Journal of Women’s Studies, Band 25(4), 2016, S. 403.
[3] Kimberlé W. Crenshaw, Mapping the Margins: Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color, in: Stanford Law Review 43(6), 1991, S. 1241–1299.
[4] Claudia Garcia-Rojas verweist in der Einleitung zu ihrem Interview mit Jennifer C. Nash auf den Vortrag von Kimberlé Crenshaw im Center for Intersectional Justice am 28. April 2019; https://www.intersectionaljustice.org/publication/2019-05-07-speech-given-by-kimberl%C3%A9-crenshaw-at-the-gala-in-her-honor-on-april-28th-2019/.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. Jennifer C. Nash, Black Feminism Reimagined: After Intersectionality. Durham 2019.
[7] Diese Beschreibung wurde auch im Pressematerial für die Gruppenausstellung The Americans: New Art im Londoner Barbican (25. November bis 23. Dezember 2001) verwendet und findet sich auf der Website des Künstlers unter http://jonathanhorowitz.us/video/the-soul-of-tammi-terrell/.
[8] Jason Read, The Politics of Transindividuality. Leiden/Boston 2016.
[9] Vgl. Jason Read/Jeremy Gilbert, Talkin’ Transindividuation and Collectivity, in: Capacious: Journal for Emerging Affect Inquiry, 1(4), 2019; http://capaciousjournal.com/article/talkin-transindividuation-collectivity/.
[10] Thomas Nagels „What is it like to be a bat?“ (dt. „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“) wurde erstmals 1974 in der Zeitschrift The Philosophical Review veröffentlicht. Neu erschienen als zweisprachige Ausgabe bei Reclam: What Is It Like to Be a Bat? Wie ist es, eine Fledermaus zu sein? Übersetzt von Ulrich Diehl. Ditzingen 2016; https://www.reclam.de/data/media/978-3-15-019324-2.pdf.
[11] Vgl. D. J. Chalmers, The Conscious Mind: In Search of a Fundamental Theory. Oxford 1996, S. 103.
[12] Vgl. Nagel, What Is It Like to Be a Bat, S. 17.
[13] Vgl. H. L. Dreyfus, The Current Relevance of Merleau-Ponty’s Phenomenology of Embodiment, in: Electronic Journal of Analytic Philosophy, 4, Frühjahr 1996.
[14] Vgl. D. C. Dennett, Kinds of Minds: Toward an Understanding of Consciousness. New York 1996, S. 1–19. Auf Deutsch erschienen als: Spielarten des Geistes: Wie erkennen wir die Welt? Ein neues Verständnis des Bewußtseins. Übersetzt von Sebastian Vogel. München 2001.
[15] Vgl. D. C. Dennett, Consciousness, in: Richard L. Gregory (Hg.) The Oxford Companion to the Mind. New York 1998, S. 161.
[16] Selma Selman hat ihre Performance You Have No Idea im Rahmen zahlreicher Ausstellungen präsentiert. Eine Aufzeichnung findet sich online unter https://www.d-est.com/vi-nemate-pojma-you-have-no-idea/.
[17] D. C. Dennett, The Origins of Selves, in: Cogito 3, 1989, S. 169.
[18] Vgl. ebd., S. 165.
[19] Die Arbeit Ready to Rumble?! wurde erstmals 2014 in der Ausstellung /i>Copie Non Conforme im Kunstraum Niederösterreich (Poster) präsentiert; das Gespräch der Künstlerinnen fand in der Vereinigung bildender Künstlerinnen Österreichs (VBKÖ) in Wien statt; vgl. http://jamikaajalon.tumblr.com; http://www.marionporten.com/en/works/ready-to-rumble-collaboration-with-jamika-ajalon.html.
[20] Gilles Deleuze/Félix Guattari, Tausend Plateaus, Kapitalismus und Schizophrenie II. Übersetzt von Gabriele Ricke und Ronald Voullié. Berlin 1992, S. 54.
[21] Gilbert Simondons Ansichten werden diskutiert in Paolo Virno, A Grammar of the Multitude: For an Analysis of Contemporary Forms of Life. New York 2004, S. 78–79.
[22] Die erste Veranstaltung in der Reihe Lexicon of Tanjas Ostojić fand am 10. April 2013 im HKW Berlin statt; Moderatorin: Suzana Milevska; Teilnehmerinnen: Tanja Ostojić, Künstlerin, Berlin, und Tanja Ostojić, Designerin, Pula/Milano.
[23] Ich verwende die „Potenz des Nicht“ unter Verweis auf den philosophischen Begriff der Aporie, als zwischen Potenzialität und Aktualität angesiedelt. Vgl. Giorgio Agamben, Bartleby oder die Kontingenz. Berlin 1998, S. 13.
[24] Vgl. Suzana Milevska, Phantasm of Belonging: Belonging without Having Something in Common, in: Adam Budak/Peter Pakesch/Katia Schurl (Hg.), Volksgarten: Politics of Belonging (Kat.), Köln 2008, S. 110–119.