Einen leisen Schock erlebt man, wenn die Kamera in Cyprien Gaillards Ocean II Ocean den Meeresboden filmt. Auf der sandigen Fläche wächst gar nichts. Nur ein paar weißliche Muschelbruchstücke und Steinchen blinken fahl durch das eingetrübte Wasser. Keine Farben, keine Pflanzen. Ein paar blasse Fische schwimmen durch den Bildausschnitt, und eine graue Unterwasserschildkröte bewegt sich mit ihren Flossenbeinen paddelnd über den Meeresboden. Ihr Panzer lässt sie in dieser Umgebung wie einen letzten Dinosaurier erscheinen. Woran liegt es bloß, dass es unter Wasser so tot aussieht? Sehen wir einen echten Meeresboden oder eine künstliche Testumgebung, in der für die Zukunft berechnete Auswirkungen auf das Ökosystem Ozean simuliert werden? Ist das ein realistisches, trauriges Bild der viel beschriebenen posthumanen Welt?
Diese Fragen werden im Laufe des elfminütigen HD-Films wiederkehren. Mit einer Antwort muss man nicht rechnen, zu kompliziert ist die Lage. Der Film spielt in der Jetztzeit und macht mit der Montage zweier geografisch weit voneinander entfernter Orte eine geologische Zeitspanne auf: eine Moskauer U-Bahn-Station mit Marmorwänden, auf denen die Kamera in suchenden, kreisenden Bewegungen Versteinerungen von Schalentieren entdeckt, und eine Meeresszene, die offenbar von der Versauerung, Erwärmung und Plastikvermüllung der Meere handelt – alles Folgen der globalen Wirtschaftsweisen. Wenn der steigende Kohlendioxidgehalt im Wasser den PH-Wert sinken lässt, können Nautilusarten, Muscheln, Korallen und Meeresschnecken ihre Schalen und Skelette nicht mehr bilden, berichtet der UN-Klimarat.
Die ersten Einstellungen entstanden in einer komplett von Menschenhand gestalteten Umgebung, der unterirdischen, elektrisch beleuchteten, mit Steinplatten ausgekleideten U-Bahn-Station. Die Meeresszenen zeigen ausschnittweise ein desolates Ökosystem, das mit einer skurrilen Maßnahme davor bewahrt werden soll, zu einer Todeszone zu werden – einer „sacrifice zone“, wie UmweltschützerInnen die nach schonungslosem Rohstoffabbau aufgegebenen Gebiete nennen. Leere U-Bahn-Waggons der New Yorker Subway werden auf einem Frachtschiff auf das offene Meer gefahren, um dort versenkt zu werden. Sie sollen als Skelett für ein neues Riff dienen. Außen auf der Blechkarosserie sind noch die Aufkleber der Betriebsgesellschaft und Fansticker der Yankees zu sehen. Zunächst sind es Lichtspiele – ein Topos des Experimentalfilms und der Bildtheorie –, die Gaillard auf den kleinen Wellen an der Meeresoberfläche bei niedrigem Sonnenstand am frühen Morgen und in der von jeder Tages- und Nachtzeit abgeschirmten U-Bahn-Station beobachtet. Die Reflexionen der beleuchteten U-Bahn-Waggons und die Lichtpunkte der Stationsbeleuchtung schimmern auf den glänzenden Steinplatten. Die Kamera möchte vor allem eines: für das Flüchtige, Immaterielle, aber auch das Gewaltige darin sensibilisieren.
Gaillard zitiert nicht den UN-Klimarat, MeeresbiologInnen oder KlimaaktivistInnen, sondern mäandert mit seinen allegorischen Bildern und einer Aufmerksamkeit fordernden, alarmierenden Soundspur auf der affektiven Ebene und taucht so sein Publikum in ein Sentiment der Dringlichkeit. Es sind delirierende Klänge zwischen Untergangsklage, Höllenschlund – visuell repräsentiert durch die Spülung in einer Edelstahl-Kloschüssel – und aufschreckendem Handlungsdrang, kläglicher Hoffnung – dargestellt durch die „Ankunft“ der entkernten Waggons und deren Erkundung durch die noch übrigen Fische. Beide Szenarien reiben sich aneinander. Leierkasten und Jahrmarktsorgel dringen durch (anderen fallen vermutlich ganz andere kulturelle Referenzen ein, wenn die Körper autonom affektiv auf Sound und Bild reagieren) und treiben fiktive Besuchermassen an, nichts als den Moment zu erleben.
Der Botenstoff Dopamin moduliert Belohnungserfahrungen. Es ist bekannt, dass dieser neurologische Effekt in sozialmedialen Plattformen ausgenutzt wird, um die NutzerInnen zu binden. Musik kann ganz ähnlich wirken und homöostatische, neuronale Systeme aktivieren und regulieren, wenn es um die Bewertung bzw. Motivation innerhalb einer bestimmten Situation geht.1 Während wir also auf die Bilder achten, arbeitet der Soundtrack an unserer Motivation, über diese Umstände nachzudenken. Gaillards Video kann als Versuch gedeutet werden, auf die Wahrnehmungsproblematik, die das Anthropozän kennzeichnet, zu reagieren: geologische Zeit abzubilden, die sich der subjektiven Beobachtung entzieht; die Auswirkungen menschlichen Handelns einzubeziehen und abstrakte, unvorstellbare Größenordnungen auf greifbare Fälle herunterzubrechen.
Denn etwas stimmte noch nie ganz in diesem Gefüge aus Moderne, Technik und Natur. Wenn die U-Bahn-Waggons über das Meer gefahren werden, bieten sie einen absurden Anblick, es ist der klägliche Versuch, mit technisch Möglichem Zeit zurückzugewinnen und rasch eine fertige Ersatzstruktur bereitzustellen, die sonst über Jahre hinweg wachsen müsste. Als der Film im Sommer 2019 beim Berliner Atonal-Festival in einer entkernten Halle aus Beton gezeigt wird, welche die Dimensionen einer Kathedrale hat, sind die Klimaproteste von Fridays for Future im vollen Gange. Die Wissenschaftsseiten in Zeitungen melden die Verbreitung von leuchtenden sauerstofftilgenden Meerestierchen an der Künste Chinas. Ursache dafür sind landwirtschaftliche Düngemittel; oder die „Red Tide“ im Golf von Mexiko, ein altes Phänomen, das durch die gestiegenen Wassertemperaturen deutlich länger andauert und sich weiter ausbereitet. Die Komplexität ist das Problem, alles zugleich wirkt auf Lebewesen und ihre Nahrungsketten ein, Erwärmung, Versauerung, Plastikvermüllung und Tiefseebohrungen. Wenn das die Ursachen sind, dann können die U-Bahn-Waggons keine Lösung sein.
Gaillard gelingt, was die Autorin Stacy Alaimo in ihrem Aufsatz „Your Shell on Acid“ als „a vivid image of slow violence“2 beschreibt. Alaimos Beispiele machen die Bedrohung der Tiere direkt sichtbar, indem sie beispielsweise sich auflösende Muschelschalen im Zeitraffer zeigen. Alaimo verdeutlicht ihre Position mit einem „call for scale-shifting“ und kritisiert die distanzierte Beobachterposition, die keine Verbindung findet zwischen globalem Phänomen und lokalen Auswirkungen – etwas, worüber auch Donna Haraway schon lange nachdenkt.
Man möchte den im grüngrauen Wasser erbleichten Fischen, die beim Absinken der Waggons „zusehen“, Sprechblasen geben: „Hey, Menschen, New York Subway-Passagiere, Ozeaningenieure, Yankees-Fans und Lover der Moderne, das wird so nichts. Es geht um den richtigen PH-Wert, nicht um Riffs und Steine. Aber das kriegt ihr nicht mehr hin, oder?“ Und weil sie vor der Küste von Manhattan leben: „Hey dudes, this is insane. Metro cars don’t come in the right size. Start thinking in a different scale.“ Mit den Augen der Fische und Schildkröten gesehen wirkt es reichlich absurd und hilflos, die leer geräumten U-Bahn-Waggongehäuse im Meer zu versenken wie ein gesunkenes Schiffswrack.
Doch darin liegt schon ein Fehler: Vielmehr wäre eine neue Sprache zu suchen – ein Vorschlag dazu ist beispielsweise Donna Haraways „Tentakeldenken“, das metaphorisch den Kontakt zur Umwelt versinnbildlicht. Gaillards Arbeit schiebt ein solches Umdenken an, indem sie die Situation nicht aus einer distanzierten, unbeteiligten Beobachterperspektive beleuchtet. Ein Kunstwerk kann von sich aus keine Politik machen, aber durch eine ästhetische Erfahrung an Kategorien der Moderne rütteln, ohne sich selbst dabei auszunehmen. Nur so kann es dazu beitragen, dass die vielen Protestmeldungen nicht machtlose Bilder in den sozialmedialen Netzwerken bleiben.
Ocean II Ocean war 2019 auf der 58. Venedig Biennale und im Rahmen eines Screenings bei Berlin Atonal zu sehen.
[1] Vgl. Louise Goupila/Jean-Julien Aucouturier, Musical pleasure and musical emotions, in: PNAS, 26. Februar 2019, Vol. 116, No. 9, S. 3365; sowie Dopamine modulates the reward experiences elicited by music, in: PNAS, 26. Februar 2019, Vol. 116, No. 9, S. 3793–3798.
[2] Vgl. Stacy Alaimo, Your Shell on Acid: Material Immersion, Anthropocene Dissolves, in: Richard Grusin (Hg.), Anthropocene Feminism. University of Minnesota Press 2017, S. 112.