Heft 1/2020 - Intersektionen
Eine hohe „Schreckfigur“ beherrscht den kleinen Ausstellungsraum im Haus der Kulturen der Welt. Böse Geister soll sie abwehren. Ein britischer Soldat steht da, mit gespreizten Beinen in heller Uniformhose. Das eine Perlmuttauge im weiß gemalten Gesicht blickt starr, sein Mund, die groben Schweinszähne sind im Befehlston brüllend gefletscht. Tropenhelm und hochgeschlossene Uniformjacke weisen ihn als englischen Kolonialoffizier aus. Und der straff nach oben gestreckte Arm, der mal eine Lanze hielt, assoziiert den Hitlergruß. Die Statue stammt von den Nikobarischen Inseln im Indischen Ozean, wahrscheinlich aus dem Jahr 1900. 1906 wurde sie für das Kölner Völkerkundemuseum angekauft. Der Ethnologe Julius Lips schrieb damals, der Offizier scheine „Halt!“ zu schreien.
1938 erschien in London das Buch What Hitler Did To Us der späteren Ethnologin Eva Lips, in der US-Ausgabe hieß es Savage Symphony. A Personal Record of the Third Reich. Die „Savages“, die hier gemeint sind, tummelten sich im Nazi-Deutschland. Im Vorwort schrieb die Journalistin Dorothy Thompson: „With the simplicity of a diary Eva Lips describes day-to-day events. She takes in the whole circle of their friends, and tells of their intellectual and spiritual degradation. […] She shows that the rise of The Lie is the rise of barbarism.“ Die Autorin Eva Lips (1906–88) war Mitstreiterin und Ehefrau des Ethnologen Julius Lips (1895–1950), der von 1929 bis 1933 Professor für Völkerkunde an der Universität Köln war und seit 1928 als Direktor des dortigen Rautenstrauch-Joest-Museums amtierte, bis er als Sozialdemokrat nach Hitlers Machtergreifung seinen Dienst quittierte und im November 1933 aller Posten enthoben wurde. Zu dieser Zeit erschien auch The Savage Hits Back, or the White Man Through Natives Eyes (1937), Julius Lips’ Zusammenfassung seiner Recherchen und Ausstellungsprojekte seit Anfang der 1930er-Jahre. Es geht darin um Artefakte, die den Blick zurückwerfen. Lips’ Forschung gilt als der erste explizit antirassistische Versuch in der deutschsprachigen Ethnologie, Porträts von EuropäerInnen durch KünstlerInnen der kolonisierten Gesellschaften zu sammeln und zu untersuchen: eine kritische Ethnologie unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Gleichschaltung und Entrechtungserfahrung, des gewalttätigen Kolonial(revision)ismus und dessen rassistischer Abstammungslehren. Julius Lips hatte schon 1931 etwa 2.000 Fotografien zum Thema, „wie der Naturmensch über den Europäer denkt“, zusammengetragen. Oft wurde Lips vorgehalten, er folge mit seiner Forschung eher einer künstlerischen als einer wissenschaftlichen Perspektive.
Anna Brus, die Co-Kuratorin der Ausstellung Spektral-Weiß. Die Erscheinung kolonialzeitlicher Europäer*innen, sagt aber auch: „Lips [reproduziert] trotz seines Versuches, den Blick umzukehren, die rassistischen und paternalistischen Denkmuster seiner Zeit.“ Abseits der Wandtexte, die als „Kontextfelder“ fungieren, gruppiert sich eine zweite Textebene auf grauen Tafeln, die den antikolonialen Einspruch aus verschiedenen Perspektiven formulieren. Die Ausstellung Spektral-Weiß geht Julius Lips’ Recherche nach, aktualisiert sie mit Interviews und vielen eindrucksvollen Exponaten, reflektiert dazu Debatten und Aporien. Viele der gezeigten Objekte wurden als Handelsobjekte für den Blick der EuropäerInnen produziert. Die KolonisatorInnen, die Reisenden, die EthnologInnen erwarben die oftmals satirischen Spiegelbilder gerne und rezipierten sie dann wieder in den Untiefen des Authentischen und Primitiven. Die vielfältig verflochtenen Perspektiven, die Verkomplizierung des reversed gaze, des zurückgeworfenen Blicks, sind ein Verdienst dieser kleinen, klar strukturierten und konzentrierten Ausstellung. Ein Sammelband mit theoretischen Positionen zu den Möglichkeiten einer symmetrischen Anthropologie und Kunstgeschichte erscheint im Frühjahr und wird auch einen Bestandskatalog der Sammlung Lips im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln enthalten.
In einem Videogespräch mit Anna Brus erzählt der Künstler und Anthropologe Gerald McMaster von seiner Suche in den Depots der Museen nach Zeugnissen dieses umgekehrten Blicks. Am Beispiel der sogenannten Ledger Drawings, der Kriegszeichnungen der Native Americans, erläutert er, wie diese die siegreiche Schlacht am Little Big Horn ganz anders beschreiben, als es die General-Custer-Heroengeschichten des weißen amerikanischen Kanons glauben machen. Warum aber gerade diese Zeichnungen, die Julius Lips sehr wohl kannte, nicht in dessen Buch zu finden waren? Darüber spekuliert Gerald McMaster: Als Eva und Julius Lips in den USA eintrafen, war der weiße Nationalismus auf dem Höhepunkt, und möglicherweise wollten die EmigrantInnen aus Nazi-Deutschland ihren großzügigen Gastgebern und deren Kanon nicht zu nahe treten.
Koloniale Dialektik
Auf dem Weg durch Salvador de Bahia, New York, Lissabon, Dakar, Rio de Janeiro und Chile hat das mehrjährige Ausstellungsprojekt Liebe und Ethnologie. Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte) die unterschiedlichsten Kommentare und Reaktionen auf Hubert Fichtes eigenwilliges Werk erlebt, wütende und empfindliche Einsprüche gegen (seine und Leonore Maus) Gesten der Aneignung. Versammelt sind diese Positionen in der großen Ausstellungshalle des Hauses der Kulturen der Welt, drei Tafeln rekapitulieren als Intro einzelne Stationen.
Am 12. Juni 1976 fand ein erstes Gespräch zwischen dem senegalesischen Maler Pap Mamadou Samb, genannt Papisto Boy, und dem westdeutschen Schriftsteller Hubert Fichte am Strand von Dakar statt, im Fischerdorf, vor einer zeitschriftenbeklebten Hütte. Papisto sprach über seinen Alltag, seine Mahlzeiten, seine Kindheit, seine Inspirationen. Über den Xamb, die Kämpfe mit den Geistern und über seine Großmutter, eine Heilerin. Abgedruckt ist dieses Beispiel Fichtes dialogischer Reportagekunst, in der Mündlichkeit und Schriftlichkeit einander entgegenkommen, im Band „Psyche“ der 19-bändigen Geschichte der Empfindlichkeit.1 Hubert Fichte interviewt Papisto Boy zwischen 1976 und 1985 mehrmals. Der Wandmaler ist ein Bildgeschichtenerzähler. Einer, der die antikolonialen Kämpfer porträtierte, die ersten Politiker der afrikanischen und globalen Unabhängigkeiten, Thomas Sankara und Kwame Nkrumah, die afroamerikanischen Helden, imperiale westliche Politiker, Pop- und Fußballikonen sowie viele Mouriden, die senegalesischen Sufi-Gelehrten in ihrer schier unüberschaubaren Genealogie. „Messenger“, Botschafter, nennt Papisto seine Figuren. Gemalt hat er seit den 1970er-Jahren auf einer Mauer in Dakars Hafen- und Industriegebiet Bel Air, einem einstigen Fischerdorf, in dem zwischen Kaserne, leer stehenden Touristenhotels, einem großen christlichen Friedhof, parkenden und rangierenden Lkws die etwa 200 Meter lange Mauer steht, angrenzend an eine ehemalige italienische Fabrik für Fischmehl.
In einem Aufruf, Papisto Boy die wieder vom Abriss bedrohte Mauer in Bel Air weiter zur Verfügung zu stellen, schreibt Fichte:
„Er benützte Kreide, Kohle, Erden, Steine, Asche, Kalk. Er produzierte Strichzeichnungen und Farbflächen, milchig irisierend, durch das Verreiben der Farbstoffe mit den Handballen. […] Es entsteht eine dichte Struktur aus Figuren, Buchstaben, Symbolen, Göttergestalten wie Mami Outa, Kumba Kastel, die schwarze Schlange, der schwarze Tiger, Monstren. […] Papisto Boys große Mauer war, neben der Eleganz und Maestria in Komposition, Farbgebung, Malerhandwerk, ein Atlas der Seele, das gemalte contenu mental eines jungen Afrikaners zwischen Negritude und Neokolonialismus. […] Die Regenzeit des Jahres 1976 wusch Pap Sambs Bilder wieder weg. Es blieben schwache Fragmente. Das hatte er einkalkuliert. Die Reste sollten palimpsest-artig den Untergrund liefern für die Kompositionen des neuen Jahres.“2
Das Magazin Pape Mamadou Samb/Papisto Boy3 rekapituliert Papistos Malerei über den Zeitraum von 40 Jahren, mit Fotos von Leonore Mau aus dem Jahr 1976, Fotos der amerikanischen AnthropologInnen Mary Nooter Roberts und Allen F. Roberts aus den 1990er-Jahren, den Porträt-Close-ups von Friedl Kubelka von 2014/15 und noch stärker verblichenen Bildern aus dem Jahr 2017: die große Wand in Bel Air, die Wand am Institut français, entstanden während der Dakar Biennale 2004, seine „angewandte“ Malerei in einer kleinen Pizzeria und in einem lokalen Krankenhaus und im Raum bei seiner Familie, in dem er seine letzten Tage verbrachte. In der Ausstellung sind großformatige, von Fichte und Mau erworbene Gouachen von Papisto (undatiert, aus Fichtes Nachlass) zu sehen.
Hubert Fichte führte auf seinen Westafrikareisen mehrere ausführliche Interviews in der psychiatrischen Klinik von Fann in Dakar, deren systematische Auseinandersetzung mit antipsychiatrischen und afrikanischen Heilmethoden von dem ehemaligen französischen Militärarzt Henri Collomb begründet worden war. In der kleinen Klinikbibliothek dort sind die Ausgaben der Zeitschrift Psychopathologie africaine zu finden. Die Filmemacherin Friedl Kubelka vom Gröller porträtiert 2015/16 in ihrem 16-mm-Film ATELIER D’EXPRESSION sieben Künstler und Schriftsteller, die in einem Atelierraum in diesem psychiatrischen Krankenhaus ihrer Arbeit nachgehen. Das Atelier existiert seit zehn Jahren. Kubelka vom Gröller filmt die Maler einzeln mit ihren Werken und häufig nach deren Anweisungen, oft entfernt sie sich und lässt die Porträtierten mit der Filmkamera allein. In der Kontaktzone des verfänglichen Machtverhältnisses zwischen abbildender Person, Kamera und Abgebildeten erzeugt sie für ihr Projekt ein lebendiges, unabgesichertes Konflikt- und Austauschfeld. Kader Attia wiederum, ebenfalls in der Ausstellung vertreten, befragt mit seinem fortlaufenden Forschungs- und Interviewprojekt Reason’s Oxymoron (seit 2015) philosophische Konzeptionen der Psyche und Heilungspraktiken jenseits universalistischer Annahmen.
Der vertikale Fotofilm von Michaela Melián, Thomas Meinecke spricht mit Wiebke Kannengießer (2010/19), kreist um das kleine Pierre-Verger-Zentrum in Salvador de Bahia und dessen nachbarschaftliche Aktivitäten. Der Fotograf Pierre Verger hatte schon 1957 die Voodoo-Kulte in Brasilien und der afrikanischen Westküste verglichen,4 Hunderte der Gesänge aufgezeichnet und übersetzt, war selbst zum Candomblé-Priester Fatumbi initiiert worden und hatte anschließend aufgehört zu fotografieren. Fichte arbeitete sich an ihm ab. Meinecke nennt den bisexuellen Fichte mit seiner teils jüdischen Herkunft einen postmodernen „Prinzen der Uneindeutigkeit“ und bezieht sich vor allem auf den Roman Explosion, den Fichte am Ende seines Lebens schrieb.
In den vielfältigen Übersetzungsarbeiten, die eine Ausstellung leisten muss, welche sich die Titel „Liebe“ und „Ethnologie“ auf Displays, Katalog und Konferenz geschrieben hat, die zudem Fichtes koloniale Dialektik der Empfindlichkeit dekolonisieren will, geht einiges auch verloren. Es scheint sich konzeptuell nicht verdichten zu lassen, es kommt von allen Seiten, hängt oben, liegt herum, steht auf Beinchen, und die eindrucksvollen Fotofilme von Leonore Mau und Hubert Fichte flimmern auf den Tischen. Anhand des Katalogs lassen sich sowohl Vielstimmigkeiten als auch blinde Flecken eher begreifen.
Fichte reproduzierte das Ungleichgewicht. Wie es die Literaturwissenschaftlerin Rosa Eidelpes in ihrem Vortrag beschrieb, sollte Hubert Fichtes (und Leonore Maus) Zugang zu den besuchten Gesellschaften, zu den Spektakeln der Blutbäder und Einweihungen des Candomblé, ihre Situierung im Schlingerkurs der Ethnologie auch im Zusammenhang des breit diskutierten, teilweise ethnoromantischen Modernisierungsaufbruchs in den späten 1970er-Jahren gelesen werden. Dazu zählt auch ein semiakademischer Ethnologiediskurs, für den viele Fanzines und Zeitschriften wie zum Beispiel Trickster stehen sowie Verlage wie Qumran, Trikont und Syndikat, die für die Diskussion zentrale Texte veröffentlichten. Auch die deutschsprachige Übersetzung von Frantz Fanons Schwarze Haut, weiße Masken erschien 1980 bei Syndikat, Fichte erwähnt Fanon jedoch kaum.
Wie schon in vielen HKW-Ausstellungen der letzten Jahre bekommen Bücher hier eine objekthafte Aufladung. Sie werden zum sichtbaren Ausdruck einer Ausstellungsform, in der Kunst und künstlerische Arbeiten zu Teilen expliziter Thesen im Hinblick auf den Kanon der eurozentrischen Moderne werden. Einsprüche in Sachen Kanonfragen, ohne dabei in Thesenhaftigkeit aufzugehen.
Spektral-Weiß. Die Erscheinung kolonialzeitlicher Europäer*innen, 1. November 2019 bis 6. Januar 2020; Liebe und Ethnologie. Die koloniale Dialektik der Empfindlichkeit (nach Hubert Fichte), 18. Oktober 2019 bis 6. Januar 2020; beide Haus der Kulturen der Welt Berlin.
[1] Hubert Fichte, Die Geschichte der Empfindlichkeit. Psyche. Glossen. Frankfurt am Main 1990, S. 84–110. Laut der Unterlagen im Archiv der Tochter ist Pape Mamadou Samb am 17. Januar 1951 in Diass/Senegal geboren.
[2] Hubert Fichte, Ich bitte dringend um Häusermauern, dass Pap Samb sie bemalen kann, in: Leonore Mau/Hubert Fichte, Die Mauerbilder des Papisto Boy in Dakar, Fotokassette, Qumran-Verlag, Frankfurt am Main 1980. Mami Wata ist eine transkontinentale Fusion von westafrikanischem weiblichen Wassergeist, Bollywoodfigur und europäischer Nixe, die seit dem frühen 20. Jahrhundert zirkuliert.
[3] Nach einer Idee von Friedl Kubelka, mit einem Essay von Madeleine Bernstorff (englisch, französisch), hg. v. Madeleine Bernstorff u. Dietmar Schwärzler. Erschienen einzeln und als Supplement zum Katalog Friedl Kubelka vom Gröller – One is Not Enough. Photography & Film. Koenig books, London 2018.
[4] Pierre Verger, Notes sur le culte des Orisa et Vodun à Bahia, la Baie de tous les Saints, au Brésil et à l’ancienne Côte des Esclaves en Afrique. Mémoires de l’Institut Français d’Afrique Noire IFAN, Dakar 1957.