Fungibilität beruht auf Austauschbarkeit und Ersetzbarkeit. Der Schutz für den Sklaven als Eigentum beruhte darauf, dass er verkauft werden und sich vermehren konnte. Sklavenleben stellte für den Herrn einen Geldwert dar und bewahrte die meisten Sklaven vor dem Einsatz an lebensbedrohlichen Orten wie Kohlebergwerken.1
In der Folge des Bürgerkriegs und mit der Verabschiedung des 13. Amendments wurden durch die Verbreitung von Gesetzen in den Südstaaten, die als Black Codes geläufig sind, fast alle Aspekte des alltäglichen Lebens ehemaliger Sklaven kriminalisiert.2 Diese massenhafte Kriminalisierung brachte es mit sich, dass schwarze Arbeit wieder zu einer Form von Bestrafung im juristischen Sinn wurde. Ein Teil der Wertschöpfung aus schwarzer Arbeit ging damit an den Staat.3 Inhaftierte ehemalige Sklaven wurden von Staats- und Bezirksregierungen an die private Industrie ausgeliehen. Diese Praxis wurde als das System der Verpachtung von Strafgefangenen (dem sogenannten Convict Lease System) bekannt.4 Das System wurde „von Weißen als in sich praktisches Verfahren betrachtet, das die Kosten für die Errichtung von Gefängnissen sparen half“ und gleichzeitig „dem Staat Einnahmen verschaffte“5. Zudem machte der Wiederaufbau im Süden den Rückgriff auf unbezahlte schwarze Arbeit erforderlich. „Zum Ende des Wiederaufbaus im Jahr 1877 hatten bis auf Virginia alle früheren konföderierten Staaten die Praxis übernommen, schwarze Häftlinge in kommerzielle Hände zu verpachten“6.
Die Beziehung zwischen Herren und Sklaven war durch den dualen Status der Sklaven als sowohl Arbeitskraft als auch Eigentum charakterisiert. Der finanzielle Wert des Sklavenlebens ließ den Tod eines Sklaven zu einem Verlust für den Herren werden. Das Convict Lease System hob de facto den direkten Verkauf von Gefangenen als mobiles Besitztum auf. Damit erwuchsen dem Pachtherrn keine Verluste, wenn es zu einem Todesfall bei einem ehemaligen Sklaven und nunmehrigen Gefangenen kam. „Acht Jahrzehnte lang gab es so gut wie nie Strafen für Misshandlungen und Todesfälle, die unter den Arbeitern im Convict Lease System auftraten“[7[. Wenn Häftlinge starben, konnten sie ohne Folgen ersetzt werden. Auf diese Weise machte das Pachtsystem die Gefangenen fungibel im vollen Sinn. Diese Fungibilität war eine Voraussetzung für die Behandlung der Gefangenen:
„Sie wurden von Unternehmen, Bauern, Beamten und kleinen Geschäftsleuten gewohnheitsmäßig unterernährt und misshandelt, um so eine möglichst lukrative Balance zwischen der Produktivität von Gefangenenarbeit und den Kosten, die bei ihrer Unterhaltung erwuchsen, zu erzielen. Die Konsequenzen für Afroamerikaner waren grausam. In den ersten beiden Jahren, in denen Alabama seine Häftlinge auslieh, starben nahezu 20 Prozent von ihnen. Im darauffolgenden Jahr stieg die Mortalität auf 35 Prozent. Im vierten Jahr starben fast 45 Prozent einen gewaltsamen Tod.“8
Die Entkoppelung des Zusammenhangs zwischen Tod und Verlust, den das Convict Lease System hervorbrachte, bildete ein ideales Arbeitskraftreservoir für die lebensgefährliche Arbeit in den Minen.9 Die Staaten mit einem Vorkommen an natürlichen Rohstoffen profitierten dementsprechend am meisten von diesem System. Wie früher die Sklaven zum Plantagensystem trug nun das Convict Lease System zu einem exponentiellen Wachstum der Industrie im Süden bei.10
Im Zuge des Versuchs, die Infrastruktur des Südens, die durch den Bürgerkrieg zerstört worden war, wiederaufzubauen, wurden viele der ersten Sträflingspachtverträge mit regionalen Eisenbahngesellschaften geschlossen. „Wie in Tennessee, North Carolina, Georgia und bis zu einem gewissen Grad Texas waren danach die ersten Jahre des Convict Leasings in Florida vor allem die des Eisenbahnbaus“11. Dazu zählten die Alabama und Chattanooga Railroad; die Georgia and Alabama Railraod; die Selma, Rome and Dalton Railraod; und die Macon & Brunswick Railroad.12 1895 hatten sich alle zur Southern Railway zusammengeschlossen, die nunmehr als Norfolk Southern operiert.13 Norfolk Southern transportiert bis heute Kohle und bleibt eines der größten Frachtnetzwerke im Südosten.14
Für den weiteren Ausbau der Eisenbahninfrastruktur waren Kohle und Eisenerz erforderlich: das Erz für die Schienen und die Kohle für die Zugmaschinen. Die Ausweitung der Bahninfrastruktur führte zu einer Expansion des Kohlemarkts. Der Transport durch den ganzen Bereich des Südens wurde dadurch ermöglicht.15 Ein Mitarbeiter eines Gefängnisses in Tennessee stellte in einer Bemerkung über die Bedingungen in den Minen in den 1870er-Jahren fest, dass „es praktisch unmöglich war, unsere freien […] Leute, weiße oder schwarze, dazu zu kriegen, in den Minen zu arbeiten.“ Dieser Umstand führte zu den Abkommen mit den Bundesstaaten, die den Kohleunternehmern Häftlinge überließ.16 In den frühen 1870er-Jahren begannen einige Staaten, vor allem Tennessee, Georgia und Alabama, Gefangenenleiharbeit in den Minen einzusetzen.17 „Die größten Kohlebergwerke in der Region, auf denen die Operationen der am erfolgreichsten vertikal integrierten Unternehmen beruhten, hingen im Kern ihrer Arbeitskräfte von Strafgefangenen ab.“18 Kohle war die Rohstoffgrundlage der Industrialisierung im Süden.19 Kohle wurde gefördert und anschließend zu Koks verarbeitet. Mit Koks wurden dann die Hochöfen befeuert, in denen Eisenerz zu Eisen und Stahl verhüttet wurde. Wenn ein einzelnes Unternehmen in der Lage war, alle Stufen dieser Produktion in sich zu vereinen, sprach man von vertikaler Integration.
Die Stadt Birmingham, Alabama, wurde 1871 gegründet.20 Die erwartete Kreuzung der South und North Alabama Railroad und der Alabama and Chattanooga Railroad in einer Gegend, deren „immense Vorräte an Kohle und Eisenerz“ bekannt waren, gab den Ausschlag für die Ansiedlung.21 Eine Gruppe von Eisenbahninvestoren gründete die Elyton Land Company zum Zweck der raschen Entwicklung von Birmingham.22 Die britische Stadt Birmingham diente als Vorbild eines Industriezentrums, das von Kohlefeldern umgeben ist. „Der Sitz der Eisenfertigung im Mutterland“ war bekannt als Heimstatt der Watts-Dampfmaschine wie auch für die frühe Anwendung des Fabriksystems.23
Die Pratt Coal and Coke Company wurde 1878 gegründet. Pratt Coal and Coke war entscheidend für die Entwicklung von Birmingham und für die industrielle Entwicklung des Südens.24 1886 wurden die vier Kohleminen von Pratts die produktivsten in Alabama. Die Erträge gingen in die dazugehörige, integrierte Koks- und Eisenherstellung.[25[ In diesem Jahr wurde Pratt Coal and Coke von Tennessee Coal, Iron and Railroad (TCI) aufgekauft, dem größten Bergwerksunternehmen in Tennessee.26 Für beide Unternehmen war die Arbeit von Strafgefangenen eine anhaltende Geschäftsgrundlage.27 1892 wurde die aus dem Zusammenschluss hervorgegangene TCI die größte Kohlefirma in der Region.28 Für TCI stellte sich heraus, dass sie zusätzlich zur Convict Lease-Arbeit „durch die Eröffnung von Minen für freie Arbeiter noch weiter expandieren konnten“29. 1898 bewilligten die Präsidenten der Southern Railway und der L&N Railroad die Errichtung des ersten Stahlwerks von TCI. Es wurde unter dem Namen Ensley Steel Works bekannt.30 1907 konnte Ensley Stahl und Eisenbahn schon mit den Stahlherstellern des Nordens konkurrieren. Im selben Jahr wurde TCI von U.S. Steel übernommen und setzte den Einsatz von Convict Lease-Arbeit fort.31 Der gesamte Firmenwert und alle Besitzungen von TCI, darunter auch die Anlagen der früheren Pratt-Minen, gehören heute zu U.S. Steel.32
Gefangenenarbeit war nicht nur wegen des geringen Risikos und geringer Kosten ein wichtiger Beitrag zur Industrialisierung des Südens, sondern auch, weil sie erzwungen war. „Ab den mittleren 1880er-Jahre räumten lokale Beobachter ein, dass die Kohle- und Eisenvorkommen von Tennessee, Alabama und Georgia ‚die Eisenherstellung des Landes revolutionieren würden‘ und dass ‚der wesentliche Faktor in der Frage der billigen Eisenproduktion die Gefangenenarbeit ist‘“.33
Ausgeliehene Häftlinge waren aneinandergekettet und arbeiteten unter Zwang.34 Sie wurden ausgepeitscht und erlitten Wasserfolter, wenn sie ihre vorgeschriebenen Quoten nicht erreichten oder wenn sie in einer anderen Form Widerstand leisteten.35 Zu den Bedingungen in den Minen zählten Einsturz- und Flutungsgefahr wie auch ständiger Kontakt mit Giftstoffen.36 Den Arbeitern wurden häufig Essen, Kleidung und medizinische Betreuung vorenthalten, und wenn wegen Krankheit die Produktivität sank, wurden sie dafür bestraft.37 Der Zwang schuf eine „verlässliche“ Arbeitskraft, die auch dazu diente, Streiks zu unterminieren, die von „freien“ Bergarbeitern organisiert wurden.38 Daraus resultierend wurde auch die Situation der vielen freien Arbeiter in den Minen, zumeist ehemalige Häftlinge, weiterhin durch die erzwungene Arbeit des Convict Leasings bestimmt.39
Das Convict Lease System half der Wirtschaft des Südens über das Ende der Reconstruction-Periode hinaus und bis zum Beginn der Jim-Crow-Ära.40 Der Kompromiss von 1877, mit dem die letzten Truppen des Nordens aus dem Süden abgezogen wurden, gilt als das Ende der Reconstruction.41 Dieser führte zur politischen Kontrolle vieler staatlicher Administrationen im Sinne der White Redeemer, welche die schwarze Bevölkerung des Südens als Bedrohung wahrnahmen.42 Neue Gesetze gaben der ohnehin schon vorherrschenden Rassensegregation und -unterordnung einen formalen Rahmen. Schwarze Wähler mussten Wahlsteuern zahlen und Lese- und Schreibkenntnisse nachweisen, wodurch sie weiter benachteiligt wurden. Die populäre Bezeichnung „Jim-Crow-Gesetze“ bürgerte sich ein.43 Die Abhängigkeit von der Sträflingsarbeit sorgte dafür, dass die Industrie politisch-ökonomische Interessen an der Erhaltung einer Rassenordnung hatte, von der das Convict Lease System bestimmt war. Diesen Interessen dienten auch die Jim-Crow-Gesetze.
[1] „Sklavenhalter stellten ihre Neger ungern für solche Beschäftigung zur Verfügung.“ Ronald L. Lewis, Coal Miners in America: Race, Class and Community Conflict, 1780–1980. Lexington: University Press of Kentucky, 1987, S. 11; Douglas Blackmon, Slavery by Another Name: The Re-enslavement of Black Americans from the Civil War to World War II. New York: Anchor Books, 2009, S. 96.
[2] Blackmon, Slavery by Another Name, S. 53.
[3] „Weder Sklaverei noch unfreiwillige Dienstbarkeit, außer als Strafe für begangene Verbrechen; wofür der Betreffende ordnungsgemäß verurteilt wurde, soll weder in den Vereinigten Staaten existieren noch an einem anderen Ort, an dem deren Rechtsprechung gilt.“ (U.S. Const. amend. XIII, § 1).
[4] W. E. B. Du Bois, Black Reconstruction in America 1860–1880 (1935). Neudruck New York, The Free Press, 1998, S. 506.
[5] Blackmon, Slavery by Another Name, S. 53.
[6] Ebd., S. 56.
[7] Ebd.
[8] Ebd., S. 57.
[9] Ebd., S. 96.
[10] Alex Lichtenstein, Twice the Work of Free Labor: The Political Economy of Convict Labor in the New South. London: Verso 1996, S. 77–79.
[11] Matthew J. Mancini, One Dies, Get Another: Convict Leasing in the American South. Columbia: University of Carolina Press, S. 185
[12] Blackmon, Slavery by Another Name, S. 54.
[13] Marie Bankhead Owen/Thomas McAdory Owen, Alabama Great Southern Railroad Company, in: History of Alabama and Dictionary of Alabama Biography, Volume 1. Alabama: S. J. Clarke Publishing Company, 1921), S. 24–28; Interstate Commerce Commission, Southern Ry. Co., Volume 37, Interstate Commerce Commission Valuation Reports. Washington: United States Government Printing Office, 1932, S. 212, 571; Addie Davis Cobb/Wilton P. Cobb, History of Dodge County. Atlanta: Foote and Davies Co., 1932, S. 27.
[14] Shipping Options: Coal, Norfolk Southern, aufgerufen am 9. April 2017.
[15] Ethel Armes, The Story of Coal and Iron in Alabama (1910). Nachdruck Tuscaloosa: The University of Alabama Press, 2011, S. 276f.
[16] Lichtenstein, Twice the Work of Free Labor, S. 75.
[17] Ebd., S. 77.
[18] Ebd.
[19] Ebd., S. 83.
[20] Armes, The Story of Coal and Iron in Alabama, S. 222.
[21] Henry Martin Caldwell, History of Elyton Land Company and Birmingham, Ala. Birmingham: Caldwell, 1892, S. 3.
[22] Armes, The Story of Coal and Iron in Alabama, S. 222.
[23] Ebd., S. 223.
[24] Lichtenstein, Twice the Work of Free Labor, S. 91f.
[25] Ebd.
[26] Ebd., S. 90.
[27] Ebd., S. 87, 90, 95.
[28] Ebd., S. 94.
[29] Ebd.
[30] Maury Klein, History of the Louisville and Nashville Railroad (1972). Reprografischer Nachdruck Lexington: University Press of Kentucky, 2003, S. 275.
[31] Tom Badham, Iron Pigs, Steel Rails and TCI, in: Jefferson County Historical Association Newsletter, Herbst 2015; http:/www.jeffcohistory.com/newsletter_Oct_15_pg2.html.
[32] Addendum to Pratt Coal & Coke Company, Pratt Mines, Convict Cemetery, Written Historical and Descriptive Data, Historic American Engineering Record, National Park Service, U.S. Department of the Interior, 1993, S. 2. Prints and Photographs Division, Library of Congress (HAER ALA, 37-BIRM, 38C-), aufgerufen am 9. April 2017; https://cdn.loc.gov/master/pnp/habshaer/al/al1000/al1048/data/al1048data.pdf.
[33] Lichtenstein, Twice the Work of Free Labor, S. 87.
[34] Mary Ellen Curtin, Black Prisoners and Their World, 1865–1900. Charlottesville: University Press of Virginia, 2000, S. 70.
[35] Curtin, Black Prisoners and Their World, S. 69; Blackmon, Slavery by Another Name, S. 71.
[36] Blackmon, Slavery by Another Name, S. 97; Du Bois, Black Reconstruction in America 1860–1880, S. 699.
[37] Blackmon, Slavery by Another Name, S. 96.
[38] Lichtenstein, Twice the Work of Free Labor, S. 100–103.
[39] 1910 „schätzte (die U.S. Immigration Commission), dass 50 Prozent der afroamerikanischen Kohlebergeleute in Birmingham ehemalige Sträflinge waren. Die Lager der Sträflinge könnten sich deswegen als ein besonderer und besonders brutaler Übungsort für eine unabdingbare Komponente der Industriearbeiterschaft des Südens erwiesen haben.“ (Lichtenstein, Twice the Work of Free Labor, S. 86)
[40] Convict Lease-Arbeit gab es in den Kohlebergwerken von Alabama bis 1928. Vgl. Blackmon, Slavery by Another Name, S. 369.
[41] C. Vann Woodward, The Unknown Compromise, in: Reunion and Reaction: The Compromise of 1877 and the End of Reconstruction (1951). Nachdruck New York: Oxford University Press, 1961), S. 3–21.
[42] End.; „Die sog. Redeemer (dt. Erlöser) stürzten die ‚Reconstruction‘ und etablierten eine Selbstverwaltung in den Südstaaten im Sinne der von ihnen geforderten weißen Vorherrschaft (White Supremacy) […] diese neue Ordnung hat keine wirklichen Änderungen durchsetzen können […] die Rassenbeziehungen nach der sog. Redemption waren eine instabile Zwischenphase vor dem Ende dieser alten und neuen Traditionen durch die Einführung der Jim-Crow-Gesetze und der damit einhergehenden Entrechtung.“ (C. Vann Woodward, The Strange Career of Jim Crow (1955). Repr. New York: Oxford University Press, 2002, S. 31–32.
[43] Woodward, The Strange Career of Jim Crow, S. 81–85, 97.