Wann und wie wird das alles aufhören? Was wird sein, wenn die als neue Normalität ausgegebene Zeit ihren Ausnahmestatus verloren haben wird? Und wer werden wir sein, die wir dann womöglich mit der konstanten Bedrohung und Prekarität unseres Daseins ein wenig besser zu leben – zu koexistieren – gelernt haben?
Fragen, die aus momentaner Sicht nur bedingt beantwortbar sind. Fragen auch, die dazu geführt haben, sich nach Alternativen zum bisherigen gewohnheitsmäßigen Prozedere, auch den Kunstbetrieb betreffend, umzusehen. Fragen schließlich, die Anlass geben, sowohl inhaltlich als auch pragmatisch-organisatorisch über den bis vor Kurzem geltenden Status quo hinauszudenken. So ist seit letztem Frühjahr vielerorts ein neues spekulatives Suchen nach Andersheit, nach notgedrungenen Diskursöffnungen zu beobachten – und damit sind nicht allein die rasch aus dem Hut gezauberten Online-Angebote von ansonsten auf Publikumspräsenz setzenden Institutionen gemeint. Zu den Zeichen dieser Öffnung zählen auch, dass KünstlerInnen wieder verstärkt über ihre nicht einfach als gegeben anzunehmende bzw. auf Dauer garantierte Einbindung in festgelegte Produktions- und Distributionsprozesse nachzudenken beginnen. Dass, anders gesagt, das Reflektieren ihrer Praxis zunehmend in ihrer eigenen Hand liegt.
Gegenwartskunst zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass Analytik und Reflexivität als Teil des künstlerischen Prozesses selbst fungieren. Zwar existiert – gleichfalls typisch – ein umfassender und vielfach heterogener Diskurs über die Art und Weise, wie Kunst entsteht, im Umlauf gebracht und wahrgenommen wird. Selten jedoch wird dabei bedacht, inwiefern KünstlerInnen selbst diesen Prozess schreibend, text- und diskursproduzierend vorantreiben. Oder, um etwas weiter auszuholen, wie die Funktion von Kritik und reflexiver Denkungsart längst selber Eingang in das künstlerische Schaffen – und das nicht nur unter historischen Ausnahmebedingungen – gefunden hat. Dass sich dieses Schaffen heute in hohem Maße dem verdankt, was man im erweiterten Sinn als Contemporary Artist Writing bezeichnet könnte, versucht diese Ausgabe beispielhaft in den Blick zu nehmen.
Entstanden ist das Heft in Kooperation mit der Akademie der Bildenden Künste München, wo die Klassen von Florian Pumhösl, Nicole Wermers und Alexandra Bircken im Frühjahr 2020 versucht haben, diese Art von „Writing“ in einer Vortragsreihe paradigmatisch zu umreißen. Da in dieser Zeit kein Präsenzbetrieb möglich war, wurden ausgewählte GegenwartskünstlerInnen sowie einzelne KunsthistorikerInnen und KuratorInnen für einen begrenzten Zeitraum eingeladen, ihre Tätigkeit in Form von Online-Präsentationen vorzustellen. Die vorliegende Ausgabe versammelt eine Auswahl dieser Präsentationen, die für das Magazinformat noch einmal eigens adaptiert bzw. erweitert wurden.
So nimmt Nora Schultz in ihrem Beitrag die spezifische Form des Distanzvortrags in den künstlerischen Fokus. Dies erfolgt auch gestalterisch, indem ihr grafisch-zeichnerischer Ansatz unterschiedliche Parameter der zeitlichen wie räumlichen Ferne aufgreift und – medial transformiert – in einem fünfseitigen, komprimierten Arrangement vereinigt. Am anderen Ende dessen, was man als (imaginäre) Artist-Writing-Skala bezeichnen könnte, operiert Sam Lewitt. Für ihn bildet ein einzelnes – nicht künstlerisches – Bild den Ausgangspunkt, um über die Bedingungen gegenwärtigen Produzierens zu reflektieren. Es ist dies die Aufnahme einer Wärmebildkamera, wie sie heute vielerorts, vornehmlich bei Logistikabläufen, eingesetzt wird, um Effizienz und Leistung unmittelbar abzubilden und nach Möglichkeit zu steigern. Aus diesem einfach wirkenden Mapping-Verfahren leitet Lewitt Überlegungen dazu ab, wie grundlegende mathematisch-physikalische Techniken, etwa der Rasterung oder neuerdings der Gradientenreduktion, Parallelen im künstlerischen Prozess finden – einem Prozess, der sich vielfach zugutehält, über die ökonomischen Imperative seines epistemischen Umfelds entschieden hinauszugehen.
Inwiefern dieses Umfeld durch spezifisch künstlerische „Schreibarten“ konterkarierbar ist, thematisiert Ulrike Müller im Gespräch mit der Kuratorin Amy Zion. Müller hat für das Queens Museum eine große Wandmalerei, ausgehend vom Kinderbuch Die Konferenz der Tiere, entworfen, was Anlass gibt, über den Stellenwert (und das häufige Negieren) von nicht kanonisierten Kunstarten wie etwas Kinderzeichnungen nachzudenken. Einer ganz anderen Art von historischer Negation widmet sich das exemplarische Text-Bild-Kombinat von Cameron Rowland, der im Beitrag Birmingham der Geschichte der US-amerikanischen Sklavenarbeit bzw. ihrer Nachfolge im sogenannten Convict Lease System nachgeht. Camerons detail- und verweisreicher Text stellt eine profunde historisch-kritische Klammer dar, welche die von ihm installativ aufbereiteten Artefakte (in diesem Fall Gegenstände aus dem US-amerikanischen Eisenbahnwesen) zusammenhält.
Wie künstlerisches Schreiben über den konkreten Schriftakt hinaus Wirksamkeit entfalten kann, untersuchen Maurin Dietrich in ihrem Beitrag über die amerikanische „Kopierkünstlerin“ Pati Hill und Andreas Neufert im Gespräch über den aus Wien stammenden Surrealisten Wolfgang Paalen. Beiden Ansätzen ist gemein, dass in ihnen die diskursive – über das bloße Schreiben hinausgehende – Bandbreite und erkenntnismäßige Tiefe eines gegenwartsrelevanten Artist Writing aufgezeigt werden. Beide zeigen zudem auf, wie sich Andersheit und Offenheit stets auch aus dem Inneren einer (zumal diskursbezogenen) Praxis erschließen lassen.