Heft 4/2020 - Netzteil


Gebt alles, was ihr habt!

Einige Überlegungen zur Veränderung der Arbeitswelt in der Pandemie

Martin Conrads


„Hey, Sandra in Munich!“, „Max in Berlin! Los gehts!“, „Gebt alles, was ihr habt!“ Wer im Frühjahr 2020, also in den ersten Zeiten der Corona-Beschränkungen, den YouTube-Player startete, konnte sich (zumindest in Deutschland) sofort im Werbedauerfeuer des US-Fitness-Start-ups Peloton1 wiederfinden, das seit 2019 auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen sucht. Die bis zu 30-sekündigen, von der Hamburger Werbeagentur Kolle Rebbe produzierten Clips2 für den im vernetzten Betrieb zu fahrenden Fitness-Hometrainer Peloton priesen das Gerät als „dein ultimatives Live-Cardio-Training zu Hause“ an. Mittels eines fest auf dem Peloton-Bike installierten Touchscreen-Displays sieht man dem/der nach „Choose Your Fighter“-Prinzip ausgewählten, im Londoner Studio auf dem gleichen Indoor-Bike sitzenden TrainerIn direkt ins Auge. Diese/r – so das Ideal der Firma – diktiert den hundert- oder tausendfach in die Pedale tretenden und dabei den zahlungspflichtigen Livestream verfolgenden KundInnen personalisierte „Weiter so!“-Motivationsformeln nach Hause ins Berlin-Mitte-Condo (bodentiefe Fenster, Fernsehturm).
Das Prinzip vernetzten Indoor-Cyclings ist so neu nicht, diese Werbekampagne setzte aber (im Gegensatz zum sonst eher üblichen Spinning, bei dem die Geräte gemeinsam im Fitnesscenter bedient werden) explizit auf das eigene Zuhause als Ort des Trainings. Sie schlug so in einer Zeit ein,3 in der sich Hochschulen, Arbeitgeber, Sportvereine oder Fernsehsender darum bemühten, durch das Bereitstellen von täglichen „Power Workout“-Sportstunden auf YouTube, Zoom etc. die nun ausfallenden Einheiten in Fitnesscenter und Schule wettzumachen und dabei die Leistungsfähigkeit und Arbeitskraft von nun massenhaft daheim an ihren Schreibtischen Fixierten aufrechtzuerhalten. Insbesondere die Verzahnung von Live-Vernetzung per Stream („Absolute Spitzentrainer, eine ansteckende Community, mitreißende Playlists“4), sitzender Körpertätigkeit vor dem Bildschirm und Beschränkung auf die eigene Wohnsituation als einzig notwendigem/möglichem Ort der Aktivität lässt die Peloton-Clips zu einer lästigen, da unumgehbaren Bildmetapher für die eigene Arbeits(platz)situation unter Corona werden. Das Ganze ähnelte jenem Prozess, wie zwei Jahre zuvor die nach dem Bikesharing-Prinzip zu verwendenden Leihfahrräder zum Sinnbild für Mobilität im Plattformkapitalismus wurden.
Es wäre also kein Zufall, würde ausgerechnet das Fahrrad zum Fetisch einer nicht fernliegenden Vorstellung, in der alle Arbeit zu Hause auf dem vernetzten Heimtrainer verrichtet wird.5 Aber wer – außer Steampunks – hätte gedacht, dass das Ende der Globalisierung-wie-wir-sie-kannten durch die Rückkehr zu körperlicher Arbeit zum Zweck der gleichzeitigen Sicherstellung immaterieller Arbeit mit dem eigenen Körper gekennzeichnet sein würde? Und dies noch dazu – E. M. Forsters The Machine Stops dürfte zu den meist(wieder)gelesenen Science-Fiction-Geschichten des Jahres gehört haben – in der eigenen Zelle?
Dabei war uns seit Jahrzehnten, Körper und Raum betreffend, unsere aktuelle und zukünftige Arbeitssituation ganz anders beschrieben worden. Zur Erinnerung: In den 1990er-Jahren, kurz nachdem „Cyberspace“- und „Telearbeit“-Politparolen Mainstream wurden, galt körperliche Konditionierung als irrelevant. „Im Cyber-Space ist es überhaupt nicht nötig, sich mit einem solchen Körper zu belasten, wie wir ihn im physikalischen Raum besitzen. Die Konditionierung auf einen einheitlichen und unveränderlichen Körper wird wegfallen und durch den Begriff des ,austauschbaren‘ Körpers ersetzt.“6 Und: „Die Telearbeit ist keine Institution, sondern eine Konstitution“7, las man 1997 bei der Agentur Bilwet – wobei Konstitution und vorgeschaltete Konditionierung nur mental gedacht waren: „Körperliche Anstrengung, Kollegialität, Ellenbogenmentalität, Versetzung, Lärm und Schmutz entfallen.“8 (In Wirklichkeit, heute, auf dem Peloton: schmerzender „Rücken“ und Tinnitus, laute Kommandos,9 daneben sich stapelnde Pizzakartons.)
Auch wenn diese dem Körper zugeschriebene Rolle seitdem revidiert wurde (man denke an Jonathan Crarys Vorstellung des Schlafs als antikapitalistischer Widerstand)10, galt es noch bis 2019 als selbstverständlich, dass zumindest der physische Raum (prekär-kreativer) Arbeit weitgehend austauschbar ist. Die Analyse, dass es die jeweilige Büroumgebung sei, die die Produktionsweise der immateriellen Arbeit am besten verkörpert – und zwar derart, dass der geografische und physische Ort des Büros keine Grenzen kennt –, war kritischer Standard. Wenn Silvio Lorusso letztes Jahr noch fragte, „How did hotel rooms, cafes, trains and bookstores become informal workplaces?“11, so kehrte sich dies unter Lockdown-Bedingungen in die zukünftige Forschungsfrage um, „Wie hörten Hotelzimmer, Cafés, Züge und Buchläden eigentlich auf, informelle Arbeitsplätze zu sein?“12 Die Antwort nach Peloton lautet: indem das Zuhause zur 3D-Umgebung mutierte.
Es ist mindestens kurios, dass die Charaktere der real existierenden Peloton-TrainerInnen auf der Website des Unternehmens wie Avatare beschrieben werden. Dies folgt offensichtlich einer Logik, die schon seit den 1990er-Jahren in 3D-Umgebungen erprobt wurde, so dass das eigentlich Bemerkenswerte ist, wie die Pandemie nun nicht nur dazu beiträgt, die eigene Arbeitsplatzumgebung massenhaft auf unabsehbare Zeit ins ausschließlich Restprivate zu verschieben, sondern die privaten Räumlichkeiten so gleichermaßen zum Ernstfall von ehemals in 3D-Umgebungen getesteten Fahrrad-Trainingsstrecken werden. Und so sitzt man plötzlich zu Hause auf dem Sattel vor dem Bildschirm in jener Art von „Cyberspace“, die in den 1990er-Jahren erdacht wurde: Im Jahr 1999 schrieb der Architektur- und Medienkunstprofessor William J. Mitchell in seinem Aufsatz „Replacing Place“, der Cyberspace erfinde den Körper, die Architektur und deren komplexe Beziehung, die man als „Bewohnen“ bezeichnet, neu. Er machte dies an einigen Projekten fest, die sich eines von KünstlerInnen entworfenen Interface bedienten, unter anderem an Ken Goldbergs Telegarden und der von den Mitsubishi Electric Research Labs (MERL) entwickelten 3D-Umgebung Diamond Park13 – einer „virtuellen Gemeinschaft zum Lernen, Arbeiten und Spielen“, die von den KünstlerInnen Ilene Sterns und Stephan McKeown gestaltet wurde.
How it started – how it’s going: Liest man Mitchells Beschreibung des MERL-Projekts, stellt sich die Frage, ob er hier über Diamond Park 1995 oder, vorausschauend, über Peloton 2020 spricht: „Diamond Park ist körperlich anstrengend; fährt man bergauf, muss man stärker in die Pedale treten, man kann sich beim Erkunden des gesamten Geländes ganz schön ins Zeug legen. Während man mit dem Fahrrad herumfährt, begegnet man anderen – dargestellt als dreidimensional animierte Avatare –, die dasselbe tun. (Natürlich befinden sich die realen Personen alle auf ihren eigenen stationären Fahrrädern, die an Computer anderswo im Netzwerk angeschlossen sind.) Wenn sie nahe genug sind, kann man mit ihnen sprechen und ihre Antworten hören. Man kann mit ihnen sogar in einem virtuellen Velodrom um die Wette fahren.“14
Und tatsächlich, in einem Präsentationsvideo der Mitsubishi Electric Research Labs vom November 1995 ist unter anderem zu sehen, wie unter dem Motto „Tour de Technology“ mehrere auf Indoor-Cycling-ähnlichen Geräten tretende Personen vor Monitoren ihre simuliert fahrradfahrenden Avatare auf einer computeranimierten Radrennbahn gegeneinander antreten lassen.15 Die Ähnlichkeit zum Peloton-Clip ist zwar keineswegs frappierend, aber es drängt sich unmittelbar die Frage auf, ob „Peloton“ eine zwangsläufige Entwicklung ist, die in Diamond Park (als virtueller Arbeitsumgebung) schon angelegt war, aber erst in Pandemiezeiten ihre eigentliche Symbolkraft entfaltet. „Einsamkeit ist […] ein vernachlässigter Wirtschaftsfaktor. […] Einsamkeit ist heute so weit verbreitet, dass sie paradoxerweise zu einer gemeinsamen Erfahrung geworden ist“16, behauptete Alvin Toffler schon 1980. Zumindest stellt sich im „Prinzip Peloton“, verstanden als Arbeitsprinzip, für all diejenigen, die sich die entsprechende Hardware leisten können, eine Top-down-Korrespondenz zu all jenen her, die (sich) das Prinzip datengesteuert-einsamen Fahrradfahrens schon seit Jahren leisten mussten.
Es kommt in diesem Sinn nicht von ungefähr, dass künstlerische Arbeiten der letzten Jahre das Fahrrad als Motiv oder Objekt wählten, mit dem sich Aspekte der digital vernetzten, nicht regulierten Dienstleistungsindustrie, der Monetarisierung von Nutzerdaten, Aspekte von Crowdsourcing und der Gig Economy kritisch kommentieren lassen. Sebastian Schmiegs Projekt Gallery.Delivery17, bei dem er seit 2018 mit einem Kurierrucksack – bisher in Berlin und Mailand – Multiple-Gruppenausstellungen nach deren Online-Bestellung unter anderem nach Hause liefern lässt, fällt einem dazu ein. Auch die Netzarbeit Bicycle Built for Two Thousand18 (2009) von Aaron Koblin und Daniel Massey, bei der über 2.000 Sprachaufnahmen von Menschen aus 71 Ländern, die für je 0,06 US-Dollar über den Webdienst Amazon Mechanical Turk von den Künstlern beauftragt wurden, kurze Soundbytes eines Lieds zu imitieren und so unwissentlich – zusammengeschnitten – einen Chor der Unterbezahlten bildeten, ist hier – wenn auch eher retrospektiv – einzuordnen.19 Und Aram Bartholls Installation Unlock Life20 (2020), für die vom Grund der Berliner Spree gehobene Leihfahrräder (und E-Scooter) in ihrem nun grün bemoosten, an Military-Look erinnernden Aussehen im Ausstellungsraum verteilt wurden,21 ist als eine der aktuellsten Arbeiten zu nennen (sie kann sogar an das „Nature is Healing“-Mem anknüpfen).
Wenn eines Tages die Pandemie vorbei ist, werden dann massenhaft bemooste Peloton-Bikes aus der Spree geborgen? „Hey, Sandra in Munich!“, „Max in Berlin! Los gehts!“, „Gebt alles, was ihr habt!“

 

 

[1] https://www.onepeloton.com
[2] https://www.youtube.com/watch?v=frvafnnnqZs
[3] „Allein im dritten Quartal steigerte Peloton den Umsatz um über 60 Prozent auf 524,6 Millionen Dollar. Die Zahl der Kunden legte um knapp 100 Prozent auf 886.100 zu.“ Ingo Rentz, Peloton macht gemeinsame Sache mit dem DFB, Horizont.net, Montag, 7. September 2020; https://www.horizont.net/marketing/nachrichten/fitness-startup-peloton-macht-gemeinsame-sache-mit-dem-dfb-185550.
[4] GPRA News: Achtung! Gewinnt US-Fit-Tech Unicorn Peloton; 12. September 2019; https://www.gpra.de/news/achtung-gewinnt-us-fit-tech-unicorn-peloton.
[5] Die (Diskussionen um) Pop-up-Bike-Lanes in Paris, Berlin oder Wien erscheinen in diesem Licht anders, nämlich als Outdoor-Trainingsstrecken für vernetztes Indoor-Cycling.
[6] So der Softwareunternehmer Eric Gullichsen, zitiert in Paul Virilio, Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen. München/Wien: Hanser 1994, S. 159f.
[7] Agentur Bilwet, Elektronische Einsamkeit: Was kommt, wenn der Spaß aufhört? Köln: Supposé 1997, S. 15.
[8] Ebd., S. 14.
[9] „Das Wort ,Peloton‘ wurde während der Session ständig wiederholt. Das Ganze fühlte sich tatsächlich wie ein Kult an. Immer wieder rief Jenn den Markennamen – als ich schließlich anfing mitzuzählen, hörte ich das Wort ,Peloton‘ noch elf weitere Male.“ Nicole (@nicole_scooter): Der Peloton-Hype: Studio-Kurse vs. virtuelle Kurse: Ein sympathischer Kult. mobile geeks, 29. November 2019; https://www.mobilegeeks.de/artikel/der-peloton-hype-studio-kurse-vs-virtuelle-kurse-ein-sympathischer-kult.
[10] Vgl. Jonathan Crary, 24/7. Late Capitalism and the Ends of Sleep. London/New York: Verso 2013, S. 128.
[11] Silvio Lorusso, Entreprecariat. Everyone Is an Entrepreneur. Nobody Is Safe. Eindhoven: Onomatopee 2019, S. 102.
[12] „In einer versunkenen Epoche (ich glaube, es war gestern) pflegten Menschen einander zu erzählen, in Zukunft werde man frei, sicher, mobil leben, mit leichtem Existenzgepäck zwischen Kontinenten pendeln. Dann stürmten sie die Supermärkte, um Toilettenpapier und Reis zu bunkern.“ Tweet von Jörg Scheller, 28. Oktober 2020; https://twitter.com/joergscheller1/status/1321340036965650433.
[13] https://web.archive.org/web/19970427142955/merl.com/projects/dp/index.html
[14] William J. Mitchell, Replacing Place, in: Peter Lunenfeld (Hg.), The Digital Dialectic. New Essays on New Media. Cambridge/London: The MIT Press 1999, S. 122 (Übers. d. Verf.).
[15] https://www.youtube.com/watch?v=duzn3ULqS-A
[16] Alvin Toffler, The Third Wave. New York u. a.: Bantam 1980, S. 368 (Übers. d. Verf.).
[17] https://gallery.delivery
[18] https://www.bicyclebuiltfortwothousand.com
[19] Wenngleich die Verbindung zum Objekt Fahrrad sich hier vor allem über den Titel erschließt, während sich die Funktionsweise der Arbeit auf den vollständigen Titel – „Daisy Bell (Bicycle Built for Two)“ – des Lieds bezieht, das die Arbeit verwendet, welches das Quellmaterial der ersten erfolgreichen musikalischen Sprachsynthese war.
[20] https://arambartholl.com/unlock-life
[21] Wie die beiden anderen zuvor genannten Arbeiten war Unlock Life im Frühjahr 2020 in der von Tilman Baumgärtel kuratierten Ausstellung Eintritt in ein Lebewesen. Von der sozialen Skulptur zum Plattform-Kapitalismus im Berliner Kunstraum Kreuzberg/Bethanien zu sehen (18. Mai bis 16. August 2020); https://www.kunstraumkreuzberg.de/programm/eintritt-in-ein-lebewesen-von-der-sozialen-skulptur-zum-plattform-kapitalismus.