Heft 4/2020 - Contemporary Artist Writing


Konferenz der Tiere

Gespräch zwischen der Kuratorin Amy Zion und der Künstlerin Ulrike Müller über deren Projekt The Conference of the Animals

Ulrike Müller, Amy Zion


The Conference of the Animals im Queens Museum in New York ist ein zweiteiliges Projekt der Künstlerin Ulrike Müller und der Kuratorin Amy Zion, das dem Publikum ab dem 5. April 2020 hätte offenstehen sollen. Die Ausstellung wurde schließlich mit fünfmonatiger Verspätung im September eröffnet. Kurz darauf setzten sich Müller und Zion zusammen, um über das Projekt, die Pandemie und allgemeinere Fragen zu ihrer jeweiligen Praxis zu sprechen.
Im Queens Museum machen SchülerInnen einen bedeutenden Anteil des Publikums aus, und die Direktorin erwägt, die Einrichtung um eine Kindergalerie und einen Spielplatz zu erweitern. Im Vergleich zu anderen Museen für Gegenwartskunst in New York ist das Queens Museum außergewöhnlich, da es neben zeitgenössischer Kunst auch historische Exponate präsentiert. Sie dokumentieren zwei Weltausstellungen, für die das Gebäude ursprünglich entworfen und als Pavillon genutzt wurde. Zudem dient das Museum in dem Stadtviertel, in dem viele NeuzuwanderInnen leben, als Nachbarschaftszentrum. The Conference of the Animals besteht aus einem monumentalen Wandbild Ulrike Müllers und einer von Amy Zion kuratierten Ausstellung von Kinderzeichnungen.

Ulrike Müller: Beginnen wir gleich hier im Corona Park unter der Unisphere, wo wir nach der Eröffnung unserer Ausstellung zusammensitzen. Es scheint ja fast unglaublich, dass das Projekt nach langer Unterbrechung doch noch realisiert wurde. Dass wir heute die Möglichkeit hatten, es im kleinen Freundeskreis zu sehen, bedeutet viel. Im August haben wir die Ausstellung aufgebaut, während auf der anderen Seite der Wand Lebensmittelpakete ausgegeben wurden. Wir stehen unter dem Eindruck des unglaublichen Verlusts, den das Viertel erlitten hat, und fragen uns, wie sich dies auf die Rolle des Museums in Bezug auf sein unmittelbares Publikum auswirkt.

Amy Zion: So ist es. Die Situation ist ganz anders als zu Beginn unserer Zusammenarbeit und natürlich zu Beginn deiner Arbeit hier. Du warst vom Queens Museum eingeladen worden, ein Projekt für die große Wand umsetzen. Wie bist du dabei auf das Thema Kinderzeichnungen gekommen?

Müller: Mir ist vor Ort sofort eines aufgefallen: Hinter der „großen Wand“ verbirgt sich das Panorama von New York City. Das Miniaturmodell dieser Großstadt wird von einer riesigen Wand umschlossen, die mir als Bildträger dienen sollte. Mir kam der Gedanke, dass es sich im Hinblick auf meine Arbeit und den Ausstellungsraum als produktiv erweisen könnte, Kinderzeichnungen unmittelbar in mein Wandbild einzubinden. Ich wollte die Gelegenheit nutzen, mein Formenvokabular in einen eindeutig sozialen Kontext zu stellen. Dabei musste ich feststellen, dass das große Format Fragen zur Art und Weise der Ansprache aufwirft und dazu, wie meine Arbeit ihre BetrachterInnen positioniert.
Meine eher kleinformatigen Bilder basieren auf Begegnungen zwischen Objekten und BetrachterInnen. Seine Ausmaße allein würden das Wandbild jedoch in den Bereich öffentlicher Kunst rücken. Ich machte mir Sorgen, dass das Spielerische verloren gehen und etwas entstehen könnte, das als kontrollierend und autoritär wahrgenommen wird.
Auf die Kinderzeichnungen kam ich in einem Gespräch mit Studierenden an der Cooper Union, wo ich letztes Jahr eine Mal- und Zeichenklasse unterrichtete. Ich ließ sie Donald Winnicott lesen, der bekanntlich Kinderzeichnungen sammelte, von Kindern, die während der Luftangriffe auf London von ihren Familien getrennt wurden. Cate Pasquarelli, eine meiner Studentinnen, erzählte mir von Zeichnungen, die sie als Kind nach dem 11. September 2001 gemacht hatte und in denen Rauch ein wiederkehrendes Motiv war. Sie erwähnte die Zeichnung einer Katze, aus deren Ohren Rauch quoll. Irgendetwas hat da bei mir Klick gemacht; es hatte mit der Wahrnehmung von Kindern zu tun, der Art und Weise, wie sie die Stadt erleben. Ich stellte eine Verbindung her zwischen dem Miniaturmodell der Stadt, Kindern, die Geschehnisse in der Stadt verarbeiten, und der Geschichte des Gebäudes, aber mir war nicht klar, was ich daraus machen sollte.

Zion: Dann hat uns die Kuratorin Alhena Katsof einander vorgestellt. Sie wusste von meinem Interesse an Kinderzeichnungen und von einem Ausstellungsprojekt, das eigentlich 2018 hätte stattfinden sollen, aber abgesagt wurde. Meine Recherche hing in der Schwebe, und ich versuchte, ein neues Setting für mein Projekt zu finden.
Katsof hatte zunächst ein Treffen mit der Kuratorin Lynne Cooke arrangiert, die ich sehr bewundere. Das hat mir geholfen, mir über einiges klar zu werden. Die ursprüngliche Ausstellung sollte anhand von Kinderzeichnungen eine annähernd chronologische Geschichte der Vereinigten Staaten erzählen. Meine ersten Recherchen hatten ergeben, dass westliche Gesellschaften während des 20. Jahrhunderts dazu neigten und auch heute dazu tendieren, politische Ereignisse mit Kinderzeichnungen zu dokumentieren. Das hat mich fasziniert. Cooke hat mir in unserem Gespräch jedoch einen viel umfassenderen Denkansatz eröffnet. Sie meinte, das könne nur ein Teil einer viel breiter angelegten Ausstellung sein und stellte unter anderem folgende Fragen: Wie lassen sich Kinderzeichnungen psychologisch betrachten? Wie in die Kunstgeschichte einordnen? Wie in die internationale Diplomatie? Als wir beide uns begegneten, war das eine gute Gelegenheit, diese Ausstellung als ein erstes Kapitel zu betrachten: eine Ausstellung als Teil deines Projekts, für das Museum konzipiert, insbesondere die spezifische Geschichte des Gebäudes, in dem von 1946 bis 1950 die Generalversammlungen der Vereinten Nationen abgehalten wurden.

Müller: Kinderzeichnungen sind allgegenwärtig, werden aber zugleich ignoriert. Menschen mit engen Beziehungen zu Kindern messen ihnen Bedeutung bei, aber von der Kunstwelt werden sie nicht zur Kenntnis genommen. Was bedeutet das für die Kreativität in einer Zeit, in der unsere gemeinsame Zukunft auf dem Spiel steht und es notwendig scheint, komplett andere Szenarien zu entwerfen? Die Herstellung von Bedeutung als sozialer Prozess, was ja auch meine Arbeit antreibt, ist in Kinderzeichnungen unmittelbar präsent, zumindest bis zu einem gewissen Alter. Sie erfinden die Sprache für das, was sie sagen wollen, während sie es sagen.

Zion: Es war spannend, dank deiner Einladung an diesem Projekt mitwirken zu können. Du hast geahnt, dass du für das Format Kinderzeichnungen brauchen würdest, aber in welcher Form stand noch offen.

Müller: Es war ein langsamer Prozess von der Idee bis zum konkreten Konzept. Du bist relativ spät dazugestoßen, es blieben nur wenige Monate, um die Ausstellung vorzubereiten. Jetzt, da das Projekt steht, können wir darüber nachdenken, dass es nicht nur eine thematische Klammer zwischen dem Wandbild und deiner Ausstellung gibt. Ich finde, die beiden Teile hängen auf mehrere Arten zusammen.

Zion: Auf jeden Fall. Spannend finde ich auch, dass dein Interesse an Kinderzeichnungen auf die Geschichte deiner Studentin und den 11. September 2001 zurückgeht. Als wir gemeinsam an dem Projekt zu arbeiten begonnen haben, wollte ich sichergehen, dass ich Material mit direktem Bezug zu New York City finde. Dann habe ich die Zeichnungen aus der 9/11-Sammlung des Children’s Museum of Art entdeckt. Dieser Fund hat mich darin bestärkt, dass eine umfassende Ausstellung machbar ist. Das war natürlich noch im Oktober 2019, die Pandemie konnte niemand vorhersehen. Jetzt zeigt sich, dass das Projekt unter anderem auch von diesen traumatischen Ereignissen geprägt ist, insbesondere in ihren Auswirkungen auf Kinder in New York. Das ist jetzt gerade besonders aktuell, vor allem auch angesichts der Schulschließungen.
Kinder und Tiere sind die ProtagonistInnen in Erich Kästners Roman Die Konferenz der Tiere, dessen Titel die Ausstellung trägt. Auch in unseren jeweiligen Projekten kommen sie beide vor. Wieso ist es dir so wichtig, sie zu verbinden?

Müller: In der Druckwerkstatt war ich durch die Arbeit an Monotypien bei tierähnlichen Formen gelandet. Der Prozess hat in meiner Arbeit angelegte Fragen nach Lesbarkeit und Abbildung verdeutlicht, was sich in den Zeichnungen für das Wandbild fortgesetzt hat.
Der Titel war zunächst auch intuitive Verbindung. Irgendwann erinnerte ich mich an Die Konferenz der Tiere, ein Buch, das ich als Kind besaß. Als ich es dann noch einmal las, stellte sich heraus, dass es auch mit einem ganz bestimmten Kapitel der Vergangenheit verknüpft ist: Erich Kästners Roman ist geprägt von seiner pazifistischen Haltung und der Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Also ja, viele kleine Schritte führten zur Aneinanderreihung einer in traumatischen Ereignissen verankerten westlichen Geschichte des 20. Jahrhunderts. Einer Geschichte, die auch in diesem Gebäude gegenwärtig ist und die in krassem Gegensatz zu den Fortschrittsidealen der Weltausstellungen steht, für die das Gebäude des heutigen Museums einst entworfen wurde.

Zion: Das stimmt natürlich und erinnert an die Zeit vor dem Ausbruch der Pandemie. Ich meine, das Ausmaß der ständigen Krisen war anders, und doch schien nichts jemals zur Ruhe zu kommen. Man stand unter dem Eindruck ununterbrochener ökologischer oder politischer Krisen. Aber diese Umstellung hin zu einem dauerhaften Ausnahmezustand, die viele, wenn nicht sogar größte Teile der Welt, bereits durchgemacht haben, treibt uns, glaube ich, beide um. Was machst du als Künstlerin in dieser Situation?

Müller: Der Lockdown in New York war in praktischer Hinsicht ein kompletter Einschnitt und eine Unterbrechung unseres Lebens. Aber die Pandemie an sich hat nur auf etwas hingewiesen, was wir längst wussten: Unsere Lebensweise ist zerstörerisch und untragbar. Was das angeht, hat die neue Situation die Besorgnis erhöht und Resonanzen verstärkt. Es ist nicht so, als hätte sich alles Denken völlig verändert.

Zion: Nein. Und ich glaube, so sprechen viele Menschen über die Pandemie. Sie hat lediglich ein Schlaglicht auf all das geworfen, was ohnehin vor sich ging. Es wurde zwangsläufig sichtbar.

Müller: Die Pandemie ist in vielerlei Hinsicht ein weiterer Umverteilungsfaktor in einer dystopischen Gegenwart, in der einige durch Privilegien geschützt sind und viele andere nicht. Die Krise betrifft den Körper so unmittelbar, dass sie denjenigen ihre Verwundbarkeit vor Augen geführt hat, die sich bisher relativ sicher gefühlt hatten, also insbesondere die weiße Mittel- und Oberschicht. Wie wir in den vergangenen Monaten im Rahmen der Black-Lives-Matter-Bewegung gesehen haben, gibt es ein Potenzial für Solidarität, das bisher nicht existiert hat.

Zion: Ganz genau. Zum einen bin ich wirklich froh, dass unser Projekt nun zu sehen ist, zum anderen aber auch, dass wir nicht zu Hause saßen, als der Lockdown anfing, und uns überlegt haben: „Wie bekommen wir das online hin? Wie machen wir daraus etwas anderes?“ Von einem Moment auf den anderen wurden Termine verschoben und Orte verändert. Plötzlich wussten wir nicht mehr, wann die Ausstellung eröffnen würde oder ob überhaupt. Daraufhin habe ich zusätzliche Gespräche geführt: mit Petrit Halilaj, um seine Kinderzeichnungen in die Ausstellung hineinzunehmen, und mit Nancy Gillette, einer Kuratorin des U.S. Holocaust Memorial Museum. Das kam der auf die Schnelle organisierten Ausstellung zugute. Die Verschiebung bedeutete jede Menge zusätzliche Arbeit, jede Menge Unsicherheit und jede Menge institutioneller Hürden, mit denen wir sonst nicht konfrontiert gewesen wären. Aber gleichzeitig hat sie diesen seltsamen Bonus mit sich gebracht: Du bist bereit zum Aufbau, und dann hast du plötzlich fünf Monate Zeit, das zu überdenken, was du in großer Eile zusammengestellt hast.

Müller: Während meiner Arbeit an dem Wandbild habe ich mich mit Tierskulpturen in sozialen Wohnbauprojekten aus der Mitte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt, besonders in Wien, wo ich vor meinem Umzug nach New York gelebt habe. Diese unaufdringlichen öffentlichen Skulpturen entspringen bestimmten historisch-politischen Gegebenheiten, aber auch einer bestimmten Art und Weise des Kunstschaffens abseits der internationalen Kunstwelt und des Starsystems. Künstlerlnnen wurden damals etwa damit beauftragt, eine Gruppe Seehunde oder spielende Ponys für den Hof eines Gemeindebaus zu entwerfen. Sie sagen etwas über den Ort aus und nehmen zugleich Abstand von Heldendarstellungen im Stil der radikal-sozialistischen Vorstellungen des frühen 20. Jahrhunderts.
Der Sozialismus wandelte sich zur Sozialdemokratie, und statt der muskulösen Körper von ArbeiterInnen gab es nun spielende Tiere zu sehen. Die Rolle der Kunst wandelte sich von Agitprop zu etwas, das darauf hinarbeitete, Menschen über die Parteigrenzen hinweg zu verbinden, und das Werte wie Familie, Spiel, Vertrautheit und das Miteinander ansprach. All das wirkt zwar behaglich, verstärkt jedoch Normen, sorgt für Ausgrenzung und ist daher problematisch. Ich wollte einen kritischen Bezug zu dieser Geschichte herstellen, aber auch die unmittelbar emotionale Wirkung der Tierfiguren nutzen. Man kann sagen, dass auch ich Tiere als Vehikel benutze, aber ich habe versucht, diese auf eine offenere, unspezifische Weise als nicht benennbare Geschöpfe darzustellen.

Zion: Das ist dir zweifellos gelungen. Du sprichst davon, als abstrakte Künstlerin bezeichnet zu werden, obwohl du dich selbst nicht so siehst. Willst du damit sagen, dass du dein Werk in gewisser Weise als gegenständlich betrachtest?

Müller: Nein, aber meine Arbeit scheint sich langsam in Richtung Abbildung zu bewegen. Abstraktion im Sinne des 20. Jahrhunderts bedeutet: Du schaust dir ein Stillleben an und hast letztendlich einen Haufen Würfel. Bei mir ist es aber eher anders herum: Die Formen sind Bausteine und lassen sich zu einem wackeligen Stapel anordnen, der etwas Bildhaftes andeutet, also eine Art Umkehrung.

Zion: Interessant fand ich, dass du dich bei deiner Recherche intensiv mit den Wandbildern befasst hast, die durch die Works Progress Administration (Arbeitsbeschaffungsbehörde) im Rahmen des New Deal in Auftrag gegeben wurden. Viele spannende Kunstwerke von Kindern, die New York zeigen, gehen ebenfalls auf Programme der WPA zurück. Aus Informationsmaterial des Children’s Museum of Art, das diese Sammlungen beherbergt, habe ich erfahren, dass die WPA beabsichtigte, die Kunst aus dem elitären Kulturbereich herauszuholen und der gesamten Gesellschaft zugänglich zu machen, sie also buchstäblich in die Schulen zu bringen und in das öffentliche Leben. Mein Interesse an Kinderzeichnungen beruht auf meinem Interesse an der Art brut. In gewisser Weise verfolgte auch Jean Dubuffet dieses Ziel, das heißt die Einnahme einer „antikulturellen Positionen“, um den Menschen die Kunst näherzubringen – eine Art von Durchmischung und Verunreinigung.

Müller: Ich musste mich fragen, ob man meine Arbeit wirklich als mural bezeichnen kann. Dieser Begriff ist historisch aufgeladen und verweist meist auf eindeutig politische Werke, die sich der Formensprache des sozialen Realismus und ähnlichen bildhaften Darstellungen verschrieben haben. Ich wusste bereits etwas über die ungewöhnliche Geschichte abstrakter KünstlerInnen, die im Auftrag der WPA Wandbilder in New York geschaffen haben, wie die Williamsburg Murals oder die Wandmalereien für das Goldwater Hospital. Es war interessant, dem weiter nachzugehen und zugleich die räumliche Organisation und Farbpalette dieser Werke zu studieren. Der Leiter der WPA-Abteilung für Wandmalerei in New York war ein abstrakter Maler namens Burgoyne Diller. Er engagierte abstrakte MalerInnen für Wandbildprojekte, aber um die ideologischen Kämpfe zu vermeiden, die sich entzündet hätten, wenn die abstrakten Kompositionen als murals bezeichnet worden wären, nannte man sie „Wanddekorationen“.
Apropos Dekoration: Ich verwende für mein Wandbild bewusst ganz gewöhnliche Wandfarbe. Einige Bereiche wurden mit dem Schwamm aufgetragen, das ist eine verbreitete dekorative Technik und suggeriert eine Art von billigem Luxus.

Zion: Es ist interessant, dass du den Aspekt des Dekorativen ansprichst. In diesem Bereich kann sich viel Spannendes ereignen, allerdings nicht unbedingt so, wie man es sich wünschen würde, im Sinne von Anerkennung und größerer Sichtbarkeit. Der Bereich Dekoration war stets ein Rückzugsort, an dem Frauen und Kinder als ProduzentInnen agieren konnten. Meine erste Kunstgeschichtslehrerin war eher eine Historikerin für das Kunsthandwerk. Sie sagte immer, dies sei das wahre Leben: der Teller, von dem wir essen, und das, was er aussagt, und nicht eine abgesonderte, elitäre Kultursphäre mit Dingen an den Wänden, die wenig über die allgemeine Lebenswelt erzählen.
Es ist sehr interessant, über die beiden Extreme nachzudenken, wenn es um Kinderzeichnungen geht. In der Kunstgeschichte werden sie völlig ignoriert oder nur als Inspiration betrachtet. Berühmte Bilder von Kindern kennen wir nicht. Wir können allerdings Personen nennen, die Kinderzeichnungen sammeln oder studieren, und wir können Kinderzeichnungen berühmter KünstlerInnen im Nachhinein einen Wert beimessen, doch Kinder als KünstlerInnen schätzen wir nicht. Andererseits werden Zeichnungen von Kindern im Kontext von Krieg und Hilfskampagnen sehr ernst genommen und als Beweismaterial genutzt. Es vergeht kaum ein Tag, an dem ich nicht auf irgendeine Geschichte stoße, wo Kinderzeichnungen völlig unkritisch auf diese Art eingesetzt werden, als Wahrheit über „tatsächliche Geschehnisse“. Ich denke, wir sollten diesem Impuls gegenüber wirklich kritisch sein. Es scheint keine Methode zu geben, dieses Material zu analysieren, obwohl es nachweislich ideologisch gefärbt ist und die Autorität von Erwachsenen deutlich widerspiegelt.

Müller: Warum, denkst du, haben Kinderzeichnungen in der Kunstgeschichte noch viel weniger Aufmerksamkeit bekommen als außereuropäische Kunst und Kunstwerke von Menschen in psychiatrischen Einrichtungen, die modernen KünstlerInnen laut Susan Sontag als „Modelle und Mysterien“ dienten?

Zion: Weil wir glauben, dass Kinder außerhalb der Zeit stehen. Erst wenn sie erwachsen sind, schaffen sie ernst zu nehmende Werke, dann haben sie einen Namen und eine Karriere, die man beurteilen kann.

Müller: Die westlich-koloniale Perspektive versteht auch sogenannte „primitive Andere“ als außerhalb der Zeit stehend, an Traditionen gebunden und unfähig zu Neuerungen.

Zion: In Bezug auf afrikanische Kunst ist eine Verschiebung bzw. Korrektur ziemlich offensichtlich: „Oh, wir haben diese Kulturen absichtlich als unveränderlich und rückständig eingeordnet, obwohl sie das natürlich nicht sind.“ Außerdem gibt es WissenschaftlerInnen aus diesen Regionen oder WissenschaftlerInnen, die gerade dort waren und dazu arbeiten konnten, weil es so viele Belege für das Gegenteil gibt. Ähnliches gilt für die Arbeit von Lynne Cooke mit Judith Scott. Cooke sagt im Grunde: „Da ist eine Person, die etwas schafft. Könnten wir das ernst nehmen und sie in einen umfassenderen Diskurs einbeziehen?“ Warum nicht? Mit der Kunst von Kindern ist das auf diese Weise nicht möglich, es sei denn, die Kinder werden zu erwachsenen KünstlerInnen und man betrachtet ihr Werk im Rückblick.

Müller: Vielleicht hat es damit zu tun, dass das westliche Denken so stark auf den Fortschritt ausgerichtet ist, dass Erwachsenen nur eine sentimentale Beziehung zu ihrer Kindheit möglich ist. Anstatt frühere Erfahrungen weiterhin mitschwingen zu lassen, herrscht unausgesprochen Einigkeit darüber, dass die Kindheit immer schon vorbei und in der Vergangenheit verortet ist. Andererseits geben ich und viele meiner Bekannten Unmengen an Geld für Psychoanalyse und andere Therapieformen aus, die diesem Zeitverständnis widersprechen. Aber auch auf globaler Ebene haben wir zunehmend und zweifelsohne mit Zerstörungen und Verwüstungen zu tun, die durch den Glauben an Fortschritt und Wachstum als Voraussetzung für das Fortbestehen des Kapitalismus verursacht werden. Das war jetzt ein ziemlicher Sprung.

Zion: Aber es ist wahr. Es ist wahr, weil wir dieser Vorstellung anhängen, wie sie auch in der Kunstgeschichte angelegt ist, dass Zeit linear ist und es Fortschritt und Teleologien gibt. Heute versuchen wir zwar, das Ganze geografisch zu erweitern, es komplexer zu machen und sagen: „Dies ist zur selben Zeit passiert wie jenes.“ Dabei bilden wir jedoch immer noch Teleologien ab, nur nebeneinander. Wir denken nicht ernsthaft darüber nach, dass Geschichte als etwas Zyklisches begriffen werden könnte.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok