Heft 4/2020 - Netzteil
Wendy Hui Kyong Chun warnt davor, technologischen Kontrollsystemen zu viel Macht zuzuschreiben, indem sie effektiver und durchdringender wahrgenommen werden, als sie tatsächlich sind. Chuns Haltung nimmt einen Platz zwischen utopischen und dystopischen Positionen ein, die beide von einer allmächtigen Technosphäre ausgehen. Sie beharrt stattdessen auf der Möglichkeit „des Scheiterns und [den] tatsächlichen Funktionsweisen der Technologie“1. Eine vergleichbare Haltung tritt in aktuellen performativen Videoarbeiten zum Vorschein, in denen menschliches Verhalten in Bezug auf Robotik, Avatare oder maschinelles Lernen im Fokus steht. Auffällig ist, wie diese Auseinandersetzung unter Einsatz des menschlichen Körpers erfolgt und die Imitation der Maschine dabei in den Vordergrund gerückt wird.
Heute erleben wir, wie Maschinen durch KI angeblich immer menschenähnlicher werden, gleichzeitig sollen Menschen so funktionieren, als seien sie Maschinen. An der Schwelle dieser Unschärfe setzt Anna Witts Drei-Kanal-Videoinstallation Unboxing the Future (2019) an. Der Film bezieht sich auf die Automatisierung in den Toyota-Werken in Japan, wo 50 Prozent der Arbeit von Robotern getätigt wird. Auf drei Projektionsflächen führen einzelne ArbeiterInnen der Autofabrik repetitive, mechanische Handgriffe aus. In der performativen Darbietung verschwimmt die Unterscheidung von menschlicher und maschineller Arbeit. Als Zahnräder im Getriebe spezialisierter, monofunktionaler Arbeit müssen die ArbeiterInnen sich an die Maschinen anpassen. Eingebettet in zarte Koto-Klänge haftet den schlichten, höchst konzentriert ausgeführten Bewegungen aber auch etwas Meditatives an.
Die FabrikarbeiterInnen und EntwicklerInnen führen nicht nur ein mechanisches Ballett auf, sie bringen auch ihre Erfahrungen, Hoffnungen und Ängste über die zunehmende Automatisierung zur Sprache. Die Diskussion changiert zwischen negativen und positiven Aspekten. Noch hätten sie Fähigkeiten, die unersetzbar seien. Witts Film illustriert die Angst davor, dass sich das ändern könnte: An die Stelle der TänzerInnen treten nach und nach Detailaufnahmen vollautomatisierter Arbeitsschritte. Daraufhin denkt die Gruppe über eine Gesellschaft ohne Arbeit nach, und die Performance geht unter geänderten Vorzeichen weiter. Spezifischen Arbeitsschritte werden nun gemeinsam eingeübt, bis es zu einer synchronen Aufführung kommt. Die so erzeugte Choreografie lässt rationale Einzelaktivitäten zu einer selbstorganisierten Gruppenaktivität werden, die weniger an Fließbandarbeit als an Tai-Chi erinnert. Vollends selbstbestimmte Kreativität wird am Ende des Films freigesetzt. Wie in einem Akt der Befreiung spielen die ArbeiterInnen eine zwanglose Jam-Session und schneiden sich gegenseitig ihre Arbeitskleidung vom Leib.
Während im Gespräch in Unboxing the Future menschliche Wesensmerkmale herausgestellt werden – das Auge und die Finger –, deren Komplexität die Maschinen (noch) nicht vollständig kopieren können, ist der Schwerpunkt in Euphoria Physics (2020) von Andreas Bunte und Stefan Panhans nahezu entgegengesetzt. Nicht der Mensch hat hier Vorbildfunktion, sondern das Fallvermögen von Game-Avataren. Der Film wurde in einem Motion-Capture-Labor an der Universität Münster gedreht. In einem scheinbar wissenschaftlichen Experiment üben ein Mann und eine Frau eine Vielzahl von Bewegungen aus. Sie taumeln auf die Sportmatten, versuchen völlig verdreht auf dem Boden anzukommen, probieren, sich kaum merklich anzurempeln und trotzdem umzufallen oder so sanft aufeinander zu landen, als wären sie Stoffpuppen.
Dabei stellt die betont unechte Natur der Bewegungsstudien kein Unvermögen dar, sondern zielt auf eine zu erwerbende Fähigkeit. Die Choreografien basieren auf Bewegungsmustern von Avataren, die in neueren Computerspielen in Echtzeit berechnet werden. „Euphoria Physics“, wie sich nicht nur der Film, sondern auch die Avatar-Technik nennt, beruht auf einem ausgeklügelten Verfahren, das mit biomechanischer KI operiert und nicht mit Animation. Dass die Performer Fallmuster von Avataren einstudieren, wird spätestens dann deutlich, wenn der Tänzer mit einer Waffe in der Hand versucht auszurutschen, ohne hintenüber zu fallen. Die Situation ruft eine im Vorspann des Films gezeigte Szene aus dem Computerspiel Grand Theft Auto V wach, in der die rückwärts stolpernde Spielfigur statt hinzufallen eher wie schwerelos über den Boden gleitet. Euphoria Physics kehrt das Phänomen des „Uncanny Valley“ um: Der Unterschied zwischen Mensch und Avatar wird nicht als Mangel an algorithmischer Replikation gesehen, es ist ironischerweise der menschliche Körper, der im Vergleich zu seiner digitalen Emulation mangelhaft erscheint, unfähig, seine berechneten Choreografien zu wiederholen, da er der Schwerkraft unterliegt. Das menschliche Makel könnte im übertragenen Sinn als Kritik an der zunehmenden technologischen Beeinflussung und Optimierung menschlichen Verhaltens verstanden werden. Die Ästhetik des menschlichen Fallens widersetzt sich der algorithmischen Vereinnahmung. Statt das vorgegebene Optimum zu erreichen, tritt die Schönheit menschlicher „Unzulänglichkeit“, das heißt Eigenheit, zum Vorschein.
Julien Prévieuxs Videoperformance Where Is My (Deep) Mind? (2019) übersetzt Prinzipien des maschinellen Lernens in menschliche Aktionen, die von vier Performern ausgeführt werden. Dass Menschen in gewisser Weise leiblich zum Computerprogramm werden bzw. dieses nachahmen, hat einen prominenten Vorgänger in der Computerentwicklung: Der sogenannte Logiktheoretiker („Logic Theorist“) wird oft als das erste Programm für künstliche Intelligenz bezeichnet. Die 1956 erfundene Denkmaschine konnte Theoreme aus Alfred North Whiteheads und Bertrand Russells Principia Mathematica beweisen. Die erste Version vor der Implementierung war eine „Handsimulation“, die als „Nachahmung eines Computerprogramms“2 diskutiert wird. Herbert Simon beteiligte seine Frau, seine drei Kinder und Doktoranden an der Simulation, alle erhielten eine der Karteikarten mit den Regeln für die Komponenten des Programms und simulierten so das Verhalten des Logiktheoretikers mit einem Computer aus menschlichen Komponenten.3 Diese kuriose Choreografie, bei der Menschen einen Computer spielten, als ob es sich um ein Brettspiel oder eine Performance handeln würde, ist inzwischen sozialen Medienplattformen mit nutzergenerierten Inhalten gewichen, die unbewusst Trainingsdaten für maschinelle Lernanwendungen kreieren.
Ähnlich gelagert sind bei Prévieux Passagen, in denen Lernprozesse von virtuellen Assistenten nachgespielt werden. Dabei werden zum Beispiel absurde Tauschverhandlungen über Bälle, Bücher und Hüte vorgeführt, die nach Slapstick klingen, aber auf dialogischen Versuchsanordnungen aus Facebooks KI-Forschungslabor von 2017 beruhen. Kodifizierte Worte, die auf Maschinen übertragen werden, die sich des kulturellen Kontexts nicht bewusst sind, führen zu unerwarteten Fehlern und zu Verhalten mit komödiantischem Unterton. Ein Kommentar aus dem Off weist aber auch darauf hin, dass die Algorithmen Täuschungsmanöver benutzen würden, ohne dass sie dazu programmiert worden wären. Wo also führt das alles hin? Prévieuxs Performances drehen sich um die zunehmende Verstrickung zwischen Mensch und Maschine, wollen aber gleichermaßen die Differenz aufrechterhalten. Der Fokus auf die Imperfektion der Maschine und die Verkehrung von KI ins Absurde bricht ironisch mit Vorstellungen technologischer Singularität, der menschlichen Intelligenz wird dabei der Vorrang erteilt. Ein Kommentar am Ende des Films warnt aber auch, dass die menschliche Arbeit, die derzeit noch die Fehlerhaftigkeit der Maschine ausgleicht, durch ständige Verbesserungen ihre eigene Redundanz einläutet.
[1] Wendy Hui Kyong Chun, Control and Freedom: Power and Paranoia in the Age of Fiber Optics. Cambridge, Mass.: MIT Press, 2006, S. 9.
[2] Herbert A. Simon, Models of My Life. Cambridge, Mass.: MIT Press, 1996, S. 205.
[3] Siehe ebd., S. 206–207.