Heft 4/2020 - Lektüre
„Die Filmexperten haben behauptet, die revolutionäre Politik [in meinem Film Die Gesellschaft des Spektakels] sei schlecht; während die Politiker aller gauklerischen Linken meinten, es handle sich um schlechtes Kino. Ist man aber zugleich Revolutionär und Filmemacher, so lässt sich unschwer zeigen, dass ihre [der Kritiker] allgemeine Verbittertheit der unleugbaren Tatsache entspringt, dass der zur Debatte stehende Film die exakte Kritik jener Gesellschaft darstellt, die sie nicht zu bekämpfen wissen; und das erste Beispiel jenes Kinos, das sie nicht zu machen verstehen.“
Dies sind die Schlussworte von Guy Debords Film Widerlegung aller Urteile, der lobenden wie der feindlichen, die bislang über den Film Die Gesellschaft des Spektakels abgegeben wurden (1975). Der markante Titel deutet bereits an, worauf Debords Filme – insgesamt gibt es deren sechs, entstanden zwischen 1952 und 1977 – in erster Linie aus waren: nämlich seine Radikalkritik (der westlichen Nachkriegsgesellschaft und ihrer Kultur einschließlich des Kinos) so unerbittlich wie möglich selbst den wohlgesonnensten KommentatorInnen um die Ohren zu schlagen. Debord wollte selbst dort noch „Anti“ sein, wo er – wie im Kontext des Avantgardekinos – offene Türen einrannte. Sein schmales, aber gewichtiges Werk trieb die Generalabrechnung mit allem Falschen auch dort noch auf die polemische Spitze, wo ihm Zustimmung und Anerkennung begegneten.
Lange waren Debords Filme (auf sein Geheiß Mitte der 1980er-Jahre hin) gänzlich aus dem Kino verschwunden. Erst Jahre nach seinem Selbstmord 1994 wurden sie allmählich wieder zugänglich, zunächst auf den Filmfestspielen in Venedig (2001), dann auch in einer umfassenden DVD-Edition oder, im cineastischen Originalformat, in der Sammlung des Österreichischen Filmmuseums, das sich seit 2016 im Besitz des gesamten Œuvres befindet. Letzteres gab auch den Ausschlag zu der vorliegenden Publikation, die sämtliche Filmskripts und reichhaltiges Begleitmaterial versammelt und damit die Filme – textlastig, wie sie sind – einer reflexiveren Lesbarkeit zuführt, als dies bei ihrer Kinovorführung möglich ist. Vorstufen dazu gab es bereits auf Deutsch, so etwa den 1977 bei Nautilus erschienenen Band Gegen den Film oder das 1985 bei Tiamat publizierte Skript zu Debords letztem großen Film In girum imus nocte et consumimur igni, die beide dem ausgeklügelten grafischen Schema der französischen Originalausgaben folgten. Die von Werner Rappl nunmehr neu herausgegebenen und zum Teil auch neu übersetzten Texte bilden eine Art Leuchtturm für das auch im deutschsprachigen Raum nach wie vor wachsende Debord-Gelehrtentum: als formidable und solide Textbasis, die auf eine Stufe mit den theoretischen Schriften des Meisters zu stellen ist, aber zugleich auch als wissend und umsichtig kommentierte Erweiterung hin auf die zahlreichen in sie eingeflossenen Zitate und (im Original nur selten explizierten) Referenzen.
Zweckentfremdung (détournement) war bekanntlich eines der Mittel, dessen sich Debord und die Situationisten programmatisch bedienten – nicht zuletzt um eine heftigst vor den Kopf stoßende Kontextentfremdung zu forcieren. Wie Rappl minuziös nachweist, bediente sich bereits Debords erster Film Geheul für Sade (1952) ausgiebig dieser Methode: Während über volle 63 Minuten ausschließlich Weiß- bzw. Schwarzfilm zu sehen ist, hört man aus dem Off (ein durchgehendes Markenzeichen aller Debord-Filme) Zitate von Breton, Joyce oder dem Code Civile. Die Methode sollte sich im Grunde bei allen weiteren Arbeiten wiederholen, wiewohl die Texte im Lauf der Zeit immer integrativeren – Quellen unmerklich in den eigenen Sermon einbindenden – Charakter annahmen. Ganz anders die in merklicher Diskrepanz zu den Texten eingesetzten Bilder, die, in frühen Filmen wie Sur le passage des … (1959) oder Kritik der Trennung (1961) häufig noch selbst gedreht, ab Die Gesellschaft des Spektakels (1973) ausschließlich appropriiert waren: aus Werbefilmen, Nachrichtensendungen, Hollywoodfilmen oder abgefilmten Fotografien.
Faszinierend in diesem Zusammenhang ist Debord letztes Projekt, an dem er noch mitarbeitete, dessen Ausstrahlung er aber wissentlich für die Zeit nach seinem Ableben vorsah: Son art et son temps (1994), zu dem hier gleichfalls das Skript samt begleitender Notizen enthalten sind, ist ebenso wie seine „offiziellen“ Filme ein kunstvoll gestricktes Text-Bild-Konglomerat, das sich aus unzähligen bekannten wie unbekannten Quellen speist. Die Widerstrebigkeit von Bild und Textvortrag beruht, wie Rappl detailliert aufschlüsselt, zu einem guten Teil auf der gekonnten Montage von im Grunde Unzusammenhängenden – was jenes „Mehr“ oder „Über-Bekanntes-Hinausgehen“ freisetzt, jene Überschreitung, die lange als Debord-spezifische Negativität oder „Antihaltung“ angesehen wurde.
Dass es an der Zeit ist, diesen vermeintlich singulären Status innerhalb der Filmgeschichte allmählich zu revidieren, legt Alexander Horwath (der Initiator dieses Buchprojekts) dar. Antikino habe es, so wie Antikunst (als gegen die historisch vorherrschenden Übereinkünfte gerichtete Produktion, die nichtsdestotrotz Produktion ist), im zeitlichen Umfeld von Debord mehrfach gegeben. Dieses vergleichbare Gegenkino (etwa von William Burroughs oder Christopher Maclaine) in eine umfassendere Konstellation zu bringen, sei, so Horwath, überfällig – auch um Debords Werk aus seinem gleichsam solitären Käfig zu befreien. Nur so lässt sich womöglich der wahre Gehalt seiner Schlussworte in In girum imus ermessen, nämlich dass es für ihn „weder Umkehr noch Versöhnung geben [wird]. Die Weisheit wird nie kommen“. Gegenläufiger Untertitel dazu: „Von Beginn an wiederaufzunehmen.“