Heft 4/2020 - Lektüre



Joe Sacco:

Wir gehören dem Land

Aus dem Englischen von Christoph Schuler

Zürich (Edition Moderne) 2020 , S. 76 , EUR 25

Text: Martin Reiterer


Er sei in einem Kanu aus Elchleder zur Welt gekommen und habe seine Kindheit im Busch verbracht – bis irgendwann ein Flugzeug vorbeigekommen sei. Zu Beginn seiner Annäherung an die Lebenswelt der kanadischen UreinwohnerInnen lässt Joe Sacco in Wir gehören dem Land einen Gesprächspartner von seiner Kindheit erzählen. Die Erinnerungen schildern eine Symbiose zwischen Mensch und Natur, in der die Menschen auf die Natur hören und das Wissen darüber in einem ständigen Prozess des Lernens erneuern.
An die vier Jahre hat sich Sacco, bekannt durch seine Comicreportagen zu Palästina und dem Krieg in Exjugoslawien, intensiv mit der Situation der indigenen Gruppe der Dene auseinandergesetzt. Die Nordwestterritorien, wie das Gebiet heißt, das sie bewohnen, ist flächenmäßig fast 14-mal so groß wie Österreich. Der Zeichner ist selbst in diese Region mit subpolarem Klima gereist, hat mit Dutzenden Personen Interviews geführt und schließlich ein Werk geschaffen, das ebenso faszinierende wie erschütternde Einblicke in die Kultur, die Geschichte und die gegenwärtigen Agenden der Dene im Mackenzie River Valley gewährt.
Inzwischen haben sich Land und Lebensweise stark verändert. Bereits in vergangenen Jahrhunderten, als sich der Pelzhandel etablierte, hinterließen die Eingriffe in die Natur Spuren. Heute sind es die reichen Bodenschätze, neben Gold und Diamanten vor allem Öl und Gas, die zwar Arbeit und Geld bedeuten, aber auch eine massive Bedrohung des Ökosystems wie des Lebensraums der indigenen Bevölkerung. Doch Sacco stößt auf ein weiteres Problem: Warum ist der Alkoholismus ein derart unvergleichlich verbreitetes Phänomen unter Kanadas Indigenen? Nahezu jede/r GesprächspartnerIn beginnt davon zu erzählen, viele können aus eigenen Erfahrungen schöpfen. Noch schlimmer ist die damit einhergehende alltägliche Gewalt, bis hin zu Vergewaltigungen.
„Liebe Leser, es liegt etwas Bedrohliches über diesen Geschichten“, lässt der Autor seine eigene Bestürzung an einer Stelle durchsickern, denn bisher habe er nur die Auswirkungen beschrieben – „aber wir müssen genauer hinsehen.“ Es hängt mit jenen Flugzeugen und Helikoptern zusammen, die plötzlich in den Nordwestterritorien landeten: In den 1960er-Jahren hat die kanadische Zentralregierung die Kinder der Indigenen ausgeflogen, um sie für neun, zehn Monate jährlich zum Zwecke der Zivilisierung in Internate zu stecken. Sechsjährige, Achtjährige wurden abgeholt, den Familien regelrecht entrissen. Seine Wurzeln hatte dieses System im 19. Jahrhundert. Der erste kanadische Premierminister, John McDonald, fasste das dahinterstehende Programm in eindeutige Worte: „Indianerkinder sollten so weit wie möglich dem elterlichen Einfluss entzogen werden, doch das geht nur, wenn man sie in zentrale Schulen steckt, in denen sie die Sitten und Denkart der Weißen erlernen.“
Das Ausmaß der Zerstörung, das ehemalige SchülerInnen beschreiben, ist erschreckend. Offenbar ging es darum, „die Identität der Kinder als Individuen und Mitglieder einer Gemeinschaft auszulöschen“. Neben psychischen Demütigungen waren physischer und sexueller Missbrauch an der Tagesordnung. Die Folge waren Generationen traumatisierter junger Menschen. 2008 entschuldigte sich die Bundesregierung formell für das Internatssystem. Im gleichen Jahr wurde die „Kommission für Wahrheit und Versöhnung“ gegründet, in deren Abschlussbericht von 2015 steht, dass sich Regierung und Kirche eines „kulturellen Völkermords“ schuldig gemacht hätten.
In den 1960er-Jahren kamen auch die Maschinen der Ölkonzerne ins Land, mit der Absicht, eine Pipeline durch das Mackenzie-Tal zu ziehen. Doch da trat das Problem der Landrechtsverträge auf. 1973 gelang es einer Gruppe von Häuptlingen unter François Paulette, die in den 1920er-Jahren abgeschlossenen Landabtretungsverträge – Modell Sir Henry Morton Stanley – infrage zu stellen. Der „Fall Paulette“, bei dem es erstmals zu Anhörungen der Bevölkerung kam, war ein Meilenstein im Überlebenskampf der Indigenen. Ihm folgten ab 1975 die Berger-Untersuchungen, die ein Moratorium und schließlich die Abwehr der Pipeline mit sich brachten. Der Erfolg beinhaltete eine weitere Ebene: So begannen die unterschiedlichen Gruppierungen im Lauf der Vorladungen, mit einer Stimme zu sprechen. Nannten sie sich zu Beginn der Untersuchungen noch „Indianer“, bestanden sie am Ende auf die Bezeichnung „Dene“. Das war ein wichtiger Schritt zur „Selbst-Dekolonisierung“. Doch die Vorgänge waren, wie der Comic anschaulich macht, selten so eindeutig. Viel öfter findet sich ein Ineinander von Erfolgen und gegenläufigen Prozessen. Politische und soziale Partizipation erweist sich nur unter der Bedingung als möglich, dass die Dene die „Strukturen der Weißen“ anerkennen. Teile der jüngeren Generation, deren Eltern oder Großeltern oftmals durch die „Hölle“ der Internate gegangen sind, begreifen die Probleme von Alkoholismus und Gewalt als Teil des Kolonialismus. Manche besinnen sich heute auf ihre eigenen Wurzeln, denn sie „gehören dem Land“, das sie nicht „als ihr Eigentum betrachten“. Doch dazu müssen sie erst wieder ihre vergessenen Sprachen erlernen und das kulturelle Wissen ihrer Vorfahren. Saccos Comicreportage ist ein in Bild und Text durchkomponiertes Kunstwerk ersten Ranges und ein differenziertes Porträt der Dene.