Heft 4/2020 - Netzteil


Relational Gaming

Zum sozialen Aspekt der Videospielkunst

Lorenz Caspar Ecker


In den letzten Jahren hat das Videospiel als Medium Einzug in das Feld der Kunst gehalten. Ausstellungen im MoMA New York (2012) und dem Barbican Centre in London (2019) haben erste Ansätze zu einer Untersuchung dieses Phänomens gebracht. Inzwischen verwendet eine junge Generation von KünstlerInnen Videospiele in ihren Arbeiten sowohl als visuellen Einfluss auf etablierte Medien wie Malerei oder Installation als auch um eine eigenständige Videospielkunst zu produzieren.
Im Jahr 2019 präsentierte Art Basel Unlimited Lawrence Leks Multimediaarbeit Nøtel. Die Installation bestand aus einem Metallgerüst, auf dem vier Bildschirme angebracht waren. Rund um diese Anordnung war eine kreisförmige Bank platziert, auf der sich die BetrachterInnen niederlassen und mit dem Spiel sowie der Virtual-Reality-Tour interagieren konnten. Umgeben von weltbekannten Stars stach die Arbeit des jungen Künstlers durch die Verwendung eines ebenso jungen Mediums, nämlich des Videospiels, hervor.1
Der spielbare Teil der Installation erlaubt den BetrachterInnen, sich in eine virtuelle, offen zugängliche Welt zu begeben und sie nach Gefallen zu erkunden. Nøtel ist der Name eines fiktiven Hotels, das seinen gehobenen Gästen durch seinen vollkommen technologisierten Betrieb und die Abwesenheit von menschlichem Personal Sicherheit und Privatsphäre verspricht. Lek inkludiert Räume aus dem eigenen Umfeld in seine Werke, wodurch das Spiel und das gezeigte Terrain zwar realistischer, aber auch – durch die Absenz anderer Menschen – dystopischer erscheinen. In der First-Person-Perspektive wandert der Spieler durch die futuristische Architektur, wobei Aspekte wie Entfremdung und Zugehörigkeit in den Vordergrund treten. Die Stimme einer Künstlichen Intelligenz begleitet den Spielablauf und erläutert die Umgebung sowie das Konzept des Hotels. Darüber hinaus unterstreicht der von Goodman produzierte Soundtrack die futuristisch-surreale Stimmung des Spiels.
Videospielkunst kann grundsätzlich als das Gegenteil des „interpassiven“ Kunstkonsums gesehen werden. Durch den aktiven Beitrag zur Vollendung des Spiels als Kunstwerk werden die SpielerInnen zu KollaborateurInnen und die Interaktion mit Kunst um die motorische Komponente des Spielens erweitert. Laut Robert Pfaller und Slavoj Žižek hinterfragt die Bezeichnung „interpassiv“ im Zusammenhang mit Kunst die Delegation des Genießens der künstlerischen Produktion.2 Der direkte Umgang mit dem Spiel überwindet die Barriere des Interpassiven und positioniert die BetrachterInnen als KollaborateurInnen des Künstlers im Bezug zu seinem Videospiel. Erst durch die Interaktion der BetrachterInnen mit der Mechanik des Spiels wird diesem seine volle Tragweite entlockt. Obwohl die tatsächliche Freiheit der SpielerInnen im virtuellen Raum des Spiels begrenzt ist, ist ihre performative Interaktion mit dem Spiel als Installation bereits ausreichend, um diesen Umgang als gemeinschaftliche Interaktion zu betrachten.
Diese Verwendung des Videospiels als kollaboratives Kunstwerk kann im Weiteren auch mit der Theorie der relationalen Ästhetik erklärt werden. Nicolas Bourriaud definiert sie als künstlerische Praxis, die als theoretischen Ausgangspunkt alle menschlichen Interaktionen und deren soziale Kontexte anstelle eines unabhängigen privaten Raums verwendet.3 Durch ihre Interaktion können die SpielerInnen einen performativen Austausch mit den übrigen BetrachterInnen erzeugen. Während eine Person spielt, können umstehende BetrachterInnen durch Kommunikation mit den SpielerInnen in den Spielverlauf eingreifen. Diese verschiedenen Rollen, die das Videospiel als Kunstwerk erzeugt, hängen von den Beziehungen der BetrachterInnen untereinander sowie der Verortung des Spiels ab. Die Spannungsfelder online/offline sowie privat/öffentlich (bzw. im Ausstellungsraum) verändern die Auffassung und Interpretation des Spiels als Kunstwerk sowie die daran gebundenen Beziehungen. Die Annahme, dass die Positionierung des Videospiels den performativen Charakter des Austauschs zwischen SpielerInnen und BetrachterInnen verändert und die Bedeutung des Spiels als multimediales Kunstwerk erweitert, trifft vor allem in Räumlichkeiten wie derjenigen der Art Basel Unlimited zu. Spielende und Passive erweitern hier durch ihren Austausch das Spiel und lassen es so zu seiner vollen Kapazität als Kunstwerk wachsen. Indem die Umgebung die Bereitschaft seitens der BetrachterInnen zur Wahrnehmung als Kunstwerk fördert, wird die Auffassung der relationalen Ästhetik des Videospielkunstwerks bestätigt.
Durch den Bezug der Videospielkunst auf eine bestimmte Art von Zwischenmenschlichkeit kann diese als ein Spiel betrachtet werden, in welcher die Gesellschaft als SpielerIn bzw. Subjekt fungiert. Besonders der starke Kontrast zwischen dem Videospiel als oftmals technologische Militarisierung des Privatlebens und die durch relationale Ästhetik erreichte interaktive Erweiterung des Spiels unterstreichen die Wichtigkeit dieser Überlegung.
Diese Fragen tauchen im Werk von Rachel Rossin auf. Die amerikanische Künstlerin, geboren 1987, lebt und arbeitet in New York. Mit Virtual Reality sowie Augmented Reality erschafft Rossin an Videospiele angelehnte Werke, welche die Militarisierung und Wettbewerbssteigerung der Gesellschaft durch Videospiele kritisieren. Sowohl die Mechanik als auch die Ästhetik bekannter Spiele wie Grand Theft Auto oder Call of Duty tauchen in ihren multimedialen Arbeiten auf. In diesem Sinne können ihre Werke als „Post-Videospielkunst“ interpretiert werden. Rossins Arbeit Man Mask ist ein treffendes Beispiel dafür: Innerhalb eines surreal anmutenden Gewächshauses, in dem weder Wände noch Böden genau definiert sind, streifen mehrere Soldaten aus dem Spiel Call of Duty umher. Der Blickpunkt der BetrachterInnen befindet sich innerhalb des Körpers eines dieser Soldaten. Die übliche Ansicht eines „First-Person-Shooters“, nämlich aus der Perspektive des gespielten Charakters, wird hier abstrahiert. Anstatt einer körperlichen Nähe durch die Positionierung der BetrachterInnen in die Rolle des Soldaten gewährt Rossin wortwörtlich Einblick in das Innere des virtuellen Körpers. Ebenfalls konträr zu der interaktiven Natur des Videospiels ist die passive Rolle, welche die BetrachterInnen hier einnehmen. Die einzigen Möglichkeiten zu agieren, bestehen darin, sich umzusehen und der Stimme Rossins zu folgen, die das Video als innerkörperliche Meditation erläutert. Das passive Spiel erweist sich in diesem Fall als Entwicklung weg von Gewaltverherrlichung und Militarisierung.
Das Potenzial des Videospiels als Kunstwerk umfasst sowohl die Medien der Installation als auch der Performance. Der Konsum sowie die Kultur, die sich in den vergangenen Jahrzehnten um Videospiele gebildet haben, hält als visueller und thematischer Einfluss zunehmend auch Einzug in andere Medien, wie etwa in den an Grand Theft Auto angelehnten Gemälden von Rachel Rossin zu sehen ist. Der Vergleich zu traditionellen Videospielen sollte im Falle der hier angeführten Beispiele nicht hinsichtlich ihrer technischen Qualität, sondern ihrer medienübergreifenden Intentionen getroffen werden. Die Einführung von Videospielen in das Feld der Kunst bietet zudem eine Möglichkeit, den traditionellen Mustern der Videospielindustrie zu entkommen. Eine Kombination aus den technologischen Möglichkeiten großer Videospielstudios und den Intentionen jüngerer KünstlerInnen wie Lawrence Lek oder Rachel Rossin könnte beide Medien, das der Videospiele sowie jenes der Videospielkunst, bereichern und deutlich erweitern. Relationale Ästhetik fungiert dabei als Bindeglied zwischen den Welten kommerzieller und künstlerischer Produktion, da sie die – beiden innewohnende – interpassive Komponente untermauert. Gerade der soziale Aspekt dieser Entwicklung gibt Anlass zu großen Erwartungen.

 

 

[1] Lek, geboren 1982 in Frankfurt, lebt und arbeitet in London, kreiert Filme, Spiele und Videoessays mit Videospielprogrammen. Nøtel entstand 2015 in Zusammenarbeit mit dem Produzenten Steve Goodman (Kode9).
[2] Robert Pfaller, Interpassivity: The Aesthetics of Delegated Enjoyment. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2017.
[3] Nicolas Bourriaud, Relational Aesthetics. Paris: Les presses du reel, 2009, S. 113.