Berlin. Hexen besetzen das Zentrum für Aktuelle Kunst (ZAK) in der Zitadelle, Spandau in Berlin mit ihren Arbeiten. Die Ausstellung Disturbance: Witch, kuratiert von Alba D’Urbano und Olga Vostretsova, kommentiert anhand von zeitgenössischen künstlerischen Positionen den Archetyp der Hexe reloaded im Wandel der Zeit. Schauplatz ist die historische Zitadelle: eine alte Kaserne aus Backstein, die die Machtstrukturen des Patriarchats seit Jahrhunderten verkörpert. Einst eine militärische Anlage, ein Gefängnis oder Refugium für ungefällige Frauen und echter Hexenverfolgungen, ist dieser Ort das richtige Gehäuse, um künstlerische Störungen vorzunehmen.
Dass der Topos „Hexe“ die Kunstwelt begeistert, ist kein neues Phänomen, vergleiche zum Beispiel die Ausstellung Magic Circle 2018 im Kunstraum Niederösterreich. Der Zeitrahmen lässt sich vom Mittelalter über die Freud’sche Hysterie bis hin zu popkulturellen Sitcoms spannen, die Inhalte lassen an Care, Dekolonisierung und Queerness anknüpfen. Hexen und Feminismus sind alte Freundinnen und in Gender Studies diskursives Stilmittel. Silvia Fredericis Caliban und die Hexe: Frauen, der Körper und die ursprüngliche Akkumulation wird in der Ausstellung mehrfach zitiert.
Was sind aktuelle Hexen? An diese Definition sind auch neue Bedeutungen der Hexenjagd gebunden. Trotz der Leistungen von Frauen und queeren Personen und sogenannten Minderheiten werden diese Gruppen immer noch in der Gesellschaft als „Irritationen“ wahrgenommen. Die Hexe lässt sich auf diverse Körper und Kämpfe übertragen.
Jeder Schritt durch die Räume, gefüllt mit Skulpturen, Wunderkabinetten, Tarotkarten, Fotografien, Zeichnungen, Sound- und Videoinstallationen, verändert den Begriff. QueerfeministInnen können sich viele Zugänge herausholen. Die Hexe ist ein Symbol für Weiblichkeit*, Fantasie, Begierde und Lust. Oft genau der Grund für ihre Verfolgung. In der Licht- und Soundinstallation PAN-DOOR-AAAAH (2018) von Sarah Decristoforo fließen allegorische Figuren wie Vladimir Nabokovs Lolita, die griechische Mythenfigur Pandora und Dora, das Fallbeispiel der Hysterie zusammen. Verbote wie Frauen und Neugier, Mädchen und Sexualität, Hysterie und Weiblichkeit werden zu einer Collage der Hoffnung. Die Karikatur der Hexe als esoterische, „böse“ Frau wird mit der Infragestellung von Körpernomen konfrontiert. Franziska Meinerts figürliche Darstellung aus Pappmaschee der Kupferstichillustration von Giovanni Battista de’ Cavalieris emanzipiert eine altertümliche Aufzeichnung. In ihrer Skulptur wird der nackte Frauenkörper mit Hufen und Busen um die Arme gewickelt desexualisiert und gewinnt dadurch neue Kräfte als Mutant. Emilio Bianchics Uh La Lá LA la lA (2016) verwandelt eine dicht behaarte Hand in einen Fuß mit langen roten Nägeln, der in einem Stiletto liegt. Lysann Buschbecks Haarball (2011), der auf einem Kissen thront, manifestiert ein Gegendenkmal der Scham und wirkt wie ein ruhiges, verzaubertes Haustier. Mit normativem Blick, Grund zur Unruhe? Geschlechter und Zuschreibungen werden uneindeutig, Proportionen und Standards geraten aus dem Gefüge, aber genau darin steckt ihre Selbstermächtigung.
In der Zusammenschau wird die Funktion der Hexe als HeilerIn und HelferIn herausgearbeitet. Orchidee und Kaktus wachsen einer heimischen südamerikanischen Wahrsagerin aus dem Schritt, über den Dächern von São Paulo in Nilbar Güreş’ Wildness C-Print. Das Model lächelt verschmitzt in die Kamera. In lateinamerikanischen und afrokaribischen Kulturen gibt es verschiedene okkulte Praktiken, auf Spanisch sind sie als Brujer bekannt. Matriarchal und medizinisch kann Hexerei auch als Carework verstanden werden. Vom globalen Süden über den europäischen Westen ist die zeitgenössische Aufgabe der heutigen Hexe zu dekolonisieren. In Monument for Modern Slavery (2020) setzt die Künstlerin Natalia Pershina-Yakimanskaya unter dem Pseudonym Gluklya ein Mahnmal gegen vergangene Hexenverbrennung und heutige ausbeuterische Arbeitsverhältnisse in der Modeindustrie. Holzpfeiler, die mit Kleidung behangen sind, stehen vor der Galerie.
Die Hexe ist eine Linke am Rande der Gesellschaft, die aber von einer besseren Gesellschaft träumt. In Sharon Kivlands La Femme-Renarde (2019) und The Foxes (2016) findet eine Verwandlung zur Sozialistin oder Kommunistin statt. In ihren Zeichnungen blitzt einer Frau ein Fuchsschweif unter dem Rock hervor. The Foxes sind ausgestopfte Füchse mit roten, phrygischen Hauben bestückt, die den Ausstellungsraum durchqueren. In ihren Mündern tragen sie verschiedene Ausgaben von Das KapitalIm Grunde ist die Hexe eine HeldIn. Veronika Eberharts Videoarbeit 9 is 1 and 10 is none (2017) illustriert sie als Wesen der Fähigkeiten. Androgyne SuperheldInnen mit wallendem Haar geistern durch eine verlassene Holzwerkstatt in Spandexuniform. In diesem Arbeitsraum arbeiten, posieren und heilen sie, angelehnt an Hans Baldungs Urdarstellung der Hexe auf einer Neujahrsgrußkarte. Versteinerter Holzleim aus der Werkstatt im Video ist in einer Vitrine auch zu sehen und wirkt wie eine hinterlassene Botschaft. Eberhart fragmentiert die sexualisierte historische Abbildung der Hexen, sodass neue Ikonen entstehen. Diese Position auf die anderen KünstlerInnen übersetzt: Hexen sind ArbeiterInnen.