Wien. Der Weg geht in zwei Richtungen und endet immer in der Mitte, im eigenen Jugendzimmer. Ein Besuch in einer geschlossenen Ausstellung. Die erste museale Einzelausstellung der chinesischen Fotografin Luo Yang, mit ausgewählten Arbeiten der Serien GIRLS und YOUTH im Francisco Carolinum Linz. Die Serie GIRLS ist ein als Langzeitprojekt angelegter Fotografiezyklus, begonnen 2007 mit Fokus auf chinesische Frauen der eigenen Generation. Die aktuelle Serie YOUTHv beschäftigt sich mit der Generation Z. Noch bevor die Blicke durch den Raum wandern, ist eine Entscheidung zu treffen, eine Weggabelung der zeitlichen Perspektiven. Durch die zwei halbgeöffneten Türrahmen blitzen ferne Gesichter heraus. Auf den Mauern gleich neben dem Ausstellungstext an der Außenwand hängen zwei Repräsentantinnen im Großformat. YOUTH wird durch eine schattig gehaltene Fotografie visualisiert. Pakting. Pakting hat die Augen abgewendet und schminkt sich für das, was noch so kommen wird. Daneben Chengzi. Sie steht auf einem Dach, den Oberkörper nach unten gebeugt. Der Himmel ist weiß.
Ein Schritt nach links: YOUTH. Über die erste Wand erstreckt sich ein Ausschnitt der Geschichte von Princess Butterfly. Das Mädchen mit den pinken Stirnfransen und den viel zu schwarzen Augen. Das Mädchen, das im öffentlichen Raum so posed wie im Studio. Ein Hello-Kitty-Traum zwischen Hochglanzperversion, Projektionskörper und stilisierter Selbstbestimmung. Luo Yang fand sie auf Instagram. In die üblichen Posen geworfen, für immer erstarrt. So wie das ist auf Fotos und im Internet, die Bewegung wird durch äußere Trigger verursacht. Innen bleibt es unbewegt. Nur auf einem Bild sieht man sie ohne Make-up, ohne aufwendige Outfits, ohne iPhone. Fast wie ein Schnappschuss blickt sie überrascht in die Linse und lässt damit den Rest der selbstbestimmten Inszenierung für einen kurzen Moment fallen. Luo Yang sammelt Personen. Manche blicken direkt, andere wenden sich ab, konfrontieren, wollen verbergen. Keinem werden die Mundwinkel nach oben gezogen, wie man das sonst so gerne macht auf Fotos. Alle werden gesehen, auch wenn sie nicht immer lächeln wollen. Sie zeigt Bekannte und Fremde nebeneinander, als Gemeinschaft. Bekannte werden zu Fremden. Die Fotos tragen echte Namen. Neben den Physiognomien der ProtagonistInnen erzeugen die Namen einen unmittelbaren Moment des Kennenlernens. Ein Detail. Luo Yang verwebt Artifizielles und unbedeckte Intimität zu einem glänzenden Abbild zwischen intimen Raum- und Straßenkanten. Die Fragilität der Augenblicke bleibt auch im glänzenden Abbild erhalten. Namen erzeugen Bilder und umgekehrt. Die Summe der Bilder zeigt die vielschichtigen Möglichkeiten des Porträtierens. Aus den Fotografien quillt eine lange Referenzgeschichte. Die Architektur der Hängung funktioniert von beiden Seiten gleichermaßen, ohne Verluste. Mit dem iPhone dann Fotos der Fotos. Der Blitz prallt ab und verliert sich in den hohen Räumen. An der physischen Schnittstelle von YOUTH und GIRLS, im Zentrum des Raums findet sich eine niedrige Anrichte, darauf eine Auswahl von Fotografien in Posterform als Take-away. Die Gummiringerl sind schon lange verschwunden. Dieser inszenatorische Einsatz von Postern lässt sofort ferne Reminiszenzen an irgendwelche vollgepflasterten Jugendzimmer, verfärbte Haare und die eigene Suche nach Role Models wiederkehren. In meinem Vorzimmer hängt jetzt auch eine Luo Yang, den Namen habe ich dort gelassen.
shèng nü – „die übrig gebliebene Frau“, findet sich als stilles Echo hinter den Bildern und Geschichten. Unterhalb der ästhetischen Oberflächen. Darüber sind die im Internet entstandenen inzwischen normierten und global vereinheitlichten Codes des Andersseins, der Ablehnung von Stereotypen gewachsen. Tattoos, kurze, gefärbte Haare und andere Styletrends überwuchern das Echo und die Schwarz-Weiß-Bilder der chinesischen Gesellschaft. Der Begriff shèng nü steht nun im Wörterbuch und dient gleichermaßen als Urteil für eine ganze Generation. „Ungenießbare“, „verdorbene Frauen“ sind die, die sich nicht den gesellschaftlichen Heirats- sowie Familienvorstellungen unterwerfen, genauso wie den chinesischen Gender-, Körper- und Schönheitsnormen. Luo Yang zeigt sie und lässt den Begriff unausgesprochen zum Politikum werden. Das Fotografieren wird zum Ausbalancieren, zum Ausloten zwischen dem Motiv, in seinen/ihren subjektiven Vorstellungen und Luo Yang selbst. Außenblick und Innenwelt werden zu einer gemeinsamen Form im Rahmen. Trotzdem kommt einem die Ästhetik der Bilder merkwürdig bekannt vor, die Bildsprache ist instagrammable. Die überkommenen Stereotypen lassen neue entstehen. Jeden Tag verlieren sich die Augen mehr in den Bilderfolgen und den Folgebildern, stets ungewiss, ob sich überhaupt noch eine „reale“ Person hinter den Inszenierungsschichten verbirgt. Zuvor am iPhone die Exhibition-Views durchgeklickt und dabei kurz vergessen, dass die virtuelle Kunstexperience eine Einschränkung ist. So schnell geht das. Alleine in einer geschlossenen Ausstellung erscheint es im Nachhinein fast so, als wären viele da gewesen.