Heft 4/2020 - Artscribe


Mohamed Bourouissa – Brutal Family Roots

18. September 2020 bis 28. November 2020
ar/ge kunst / Bozen

Text: Christa Benzer


Bozen. Fast könnte man glauben, die Migration nach Europa ist 2020 zum Stillstand gekommen. Durch den Brand des Flüchtlingslagers Moria wurde die Aufmerksamkeit Anfang September zwar kurz auf die Situation der Flüchtenden auf Lesbos gelenkt – längst liegen die verheerenden Zustände dort aber wieder außerhalb des coronabedingten Fokus.
Zumindest massenmedial betrachtet. Auf der Onlineplattform hostileenvironments.eu der ar/ge kunst werden diese „feindlichen Umwelten“ – eine zynische Strategie, die Theresa May 2013 gegen illegale Migration in Stellung gebracht hat – gerade intensiv diskutiert.
Unter dem Titel Designing Hostility, Building Refugia gehen die vom Architekturtheoretiker Lorenzo Pezzani und einer Kooperative verschiedener Institutionen eingeladenen KünstlerInnen, HistorikerInnen etc. der Frage nach, welche Formen von Gastfreundschaft und Zuflucht noch existieren können, wenn Schutzräume – durch den Einsatz von Überwachungstechnologien, aber auch die Mobilisierung juristischer Geografien, bürokratischer Hürden und abschreckender Praktiken – vorsätzlich zerstört werden. Wie staatliche Institutionen bis heute strukturelle Gewalt perpetuieren, wie man Schutzräume herstellen kann und ob diese zur „Heilung“ beitragen können, war Thema des Gesprächs, das Mohamed Bourioussa auf der Plattform mit der Architekturhistorikerin Samia Henni führte. Zentraler Bezugspunkt war die Ausstellung Brutal Family Roots in der ar/ge, wo sich Mohamed Bourioussa mit Frantz Fanon, dem Vordenker der Ent-Kolonialisierung und Leiter einer Psychiatrie (1953–56) in Blida, Algerien, auseinandersetzte.
Mohamed Bourioussa wurde dort 1978 geboren. Aufgewachsen ist der Künstler in den Banlieues von Paris, wo auch seine Fotoserie Périphérique (2005–08) entstand. Die 2020 mit dem Preis der Deutsche Börse Photography Foundation ausgezeichnete Serie galt dem Versuch, den stereotypen Darstellungen junger arabischer Männer einen unverstellteren Blick auf deren Alltag, die Langeweile, das Warten, die Verhandlungen usw. entgegenzusetzen.
Ältere Arbeiten tauchen bei Bourouissa immer wieder auf. In Bozen knüpft er an sein Projekt für die Liverpool Biennial 2018 an: Er reiste dafür nach Blida und besuchte die Psychiatrie von Frantz Fanon, der bei der Behandlung seiner PatientInnen unter anderem auf Ergotherapie setzte: Die gemeinsame Arbeit im Garten sollte zum einen die physische und psychische Widerstandskraft stärken, zum anderen aber auch dabei helfen, die – sich in der Klinik fortsetzende – strukturelle gesellschaftliche Segregation zu bekämpfen. Bourioussas Resilience Garden in Liverpool war eine Hommage an Fanon und seinen Versuch einer gemeinsamkeitsstiftenden, antirassistischen Heilung. Zentrales Element von Bourioussas auf Partizipation angelegtem Projekt war ein runder, weißer Pavillon, um den herum ein Gemeinschaftsgarten erarbeitet wurde.
In Bozen taucht die Pavillonkonstruktion – der offenen, prozessualen Arbeitsweise des Künstlers entsprechend – noch einmal auf. Sie bildet dort den räumlichen Rahmen für die Projektion des Films Whispering of Ghosts (2018–20), in dem Bourouissa seine Erfahrungen in Liverpool mit Gesprächen in Blida, aktuellen Nachrichtenbildern aus Frankreich, aber auch Zeichnungen von Pflanzen zu einer erratischen Filmcollage verknüpfte. Hauptdarsteller ist Mohamed Bourlem, letzter noch lebender Patient von Fanon, der den Garten in Blida angelegt hat. Er führt Bourouissa durch das Gelände und zeigt ihm seine Tattoos, mit denen sich sein Hass auf die Kolonialmacht („Kampf oder Tod“) in seinen Körper einschrieb. Er war Kämpfer im Unabhängigkeitskrieg, wurde im Gefängnis gefoltert und erzählt, dass ihn später die Stimme von einem Dschinn, einem Geist, bedrängt hat. Nicht immer scheint der alte Mann so klar und deutlich, wie wenn es um seinen Garten geht. Natürlich kennt er die Namen der Pflanzen und er erzählt, wie er diese den Fassaden anpasste und die Entfernung zwischen den Bäumen mit einer Schnur ausmaß. Im Gespräch wirft er dem Künstler irgendwann vor, dass er durch seine Migration nach Frankreich ein „Fremder“ geworden ist – es ist ein entscheidender Moment, der auf der Bildebene den Garten von Blida mit dem in Liverpool verbindet und von dem seltsamen Zwischenstatus von MigrantInnen erzählt: In Liverpool lässt eine Stimme aus dem Off den Künstler wissen, dass ihn die Moslems dort nicht brauchen und er besser nach Algerien geht.
Inmitten dieser fremdenfeindlichen, teils widersprüchlichen Vielstimmigkeit tauchen auch die feingliedrigen Zeichnungen der regionalen Pflanzenwelt auf: Bourioussa hat in der Bibliothek in Blida ein Herbarium entdeckt und fehlende Bilder um eigene Zeichnungen ergänzt. Incomplete Herbarium, der zweite Film der Präsentation, ist diesem Buch gewidmet: Bourioussa geht die Seiten Blatt für Blatt durch und legt jedem Pflanzennamen die entsprechende Zeichnung bei. Die Behutsamkeit, mit der er das über zehn Minuten lang macht, hat eine fast meditative Wirkung. Zu hören ist das Rascheln der Blätter und der Sound, den die Paradiesvogelpflanze auf dem Sessel daneben macht.
Eine Soundkünstlerin hat die Frequenz der Pflanze mit einem speziellen Programm hörbar gemacht. Bourioussa verleiht der Umwelt so eine Art symbolisches Mitspracherecht, wohl wissend, dass es bei Migrationsfragen mittlerweile vor allem um deren Intaktheit geht.