Ein endlos scheinender Filmstreifen ist es, der sich da quer durch den enormen, abgedunkelten Ausstellungsraum des Kunstverein Harburger Bahnhof zieht. Wie dunkles, glänzendes Absperrband trennt er den Saal in zwei Teile, während er sich leise, stetig, von der einen Seite der Halle auf die andere abrollt. An fünf Stellen, in regelmäßigen Abständen, machen Projektoren Teilstücke des Films sichtbar, werfen ihr Licht an parallel zum Film gehängte Leinwände: Gebirge, Täler, weite Ebenen, immer neue Landstriche ziehen da vorbei, langsam und stetig, stets entlang einer dünnen, ungebrochenen Linie, die scharf durch die Landschaft schneidet. Nur langsam wird klar: Es sind Bahnschienen, die man da sieht, eine Zugstrecke aus der Vogelperspektive, welche die große Halle – selbst einst der Wartesaal des Harburger Bahnhofs – durchquert.
Es sind Satellitenbilder der Güterzugverbindung von China nach Europa, der sogenannten Neuen Seidenstraße, die der junge Hamburger Künstler Paul Kolling für diese Installation aus verschiedensten Quellen recherchiert und für seine Filminstallation Break of Gauge mittels digitaler Methoden zu einem schnurgeraden und nahtlosen Verlauf der Strecke zusammengestückelt hat. Über 10.000 Kilometer sind es, die sich hier im Ausstellungsraum auf einem 300 Meter langen 35-mm-Filmstreifen kondensiert finden. 16 Tage dauert ein einziger Durchlauf des Films, so lange wie die Dauer der Ausstellung selbst – und damit genauso lange, wie ein Güterzug vom chinesischen Ausgangspunkt der Reise nach Hamburg, direkt vorbei am Kunstverein selbst, laut Ausstellungstext braucht. Ganz buchstäblich: Tatsächlich rollt parallel zum Film ein mittels GPS getrackter Container unaufhaltsam in Richtung Ausstellungsort.
Eine Versuchsanordnung in Echtzeit, ein Spiel mit Raum und Zeit, so denkt man zunächst, wenn Realzeit und Filmzeit zu verschmelzen scheinen. Und Film und Zug, sind das nicht schließlich beides sowieso „Manifestationen der Moderne, die unsere Wahrnehmung von Raum und Zeit massiv beeinflusst haben“? So zumindest schreibt der Ausstellungstext, der zunächst diese clevere Analogie stark macht. Ist es nicht ein Kulminationspunkt moderner Entfremdung, wenn die Landschaft wie Filmstreifen an den Reisenden vorbeirast, Raum und Zeitgefühl abhandenkommen?
Kollings Arbeit ist natürlich mehr als ein Spiel mit Medien, mehr als eine Frage nach der Wahrnehmung der Welt. Denn die fünf Projektoren werfen vor allem Schlaglichter auf eine weitgehend unbekannte Welt, die der Künstler da über die Leinwände ziehen lässt: Wo gerade in Hamburg die allgegenwärtigen Containerschiffe von der Globalisierung erzählen und wo Lkw und Frachtflüge Klimadebatten bestimmen, rattert die gigantische Eisenbahnstrecke, die ein wichtiger Teil von Chinas gigantischem Infrastrukturprojekt der Neuen Seidenstraße ist, leise und unbemerkt, beinahe heimlich durch ganz Eurasien. Güterzüge fahren nicht durch unsere Innenstädte, halten nicht an Hauptbahnhöfen.
„Extrastatecraft“ nennt die Architekturwissenschaftlerin Keller Easterling Auswüchse globaler Infrastruktur, die beinahe unreguliert über Ländergrenzen und staatliche Gewalt hinweg unser aller Leben bestimmt, ohne wirklich beachtet zu werden – und Kollings Rechercheobjekt lässt sich nicht unschwer in diese Riege einordnen: Was wissen wir denn über die Wege, die die in Europa konsumierten Güter auf dem Weg hierher nehmen? Was wissen wir schon wirklich, etwa über die zahlreichen „Free Zones“ auf dem Weg, die in den letzten Jahren von China bis Kasachstan, von Georgien bis in die Türkei installiert wurden, um lokale Steuergesetze zu umgehen? Tatsächlich ist wenig bekannt: Bis auf wichtige Knotenpunkte ist nicht einmal die genaue Linienführung öffentlich – weshalb Kollings Strecke alleine schon aus diesem Grund keine hundertprozentige Entsprechung der Trasse sein kann, sondern eine trügerische, mittels Recherchen und Vermutungen erstellte fiktive Version, voll mit mehr oder weniger offensichtlichen Bruchstellen.
Geht es also um mangelnde Informationen, um manipulierte Bilder, um den Zusammenhang zwischen Landkarten und Realität? Sind es neokoloniale Strukturen, die Kollings Film offenlegen will? Vielleicht auch. Aber der Künstler wertet oder dämonisiert nicht in seinem Film, der die gigantischen Dimensionen dieser Transportlinie zumindest theoretisch einmal in ihrem wahren Ausmaß fassbar, oder besser, unfassbar macht. Vielmehr schafft er durch den zusammengestückelten Bildteppich ein halb abstraktes, faszinierendes Kaleidoskop des Warenverkehrs, das durch seine stetige Bewegung einen unaufhaltsamen, hypnotischen Sog erzeugt: Man sieht, aber kann trotzdem nicht begreifen. Die Landschaft zieht hypnotisch vorbei, mehr als abstrakte Form denn als zuordenbare geografische Marker.
Doch das Abbilden der konkreten Strecke scheint sowieso nicht das Ziel der Arbeit zu sein. Denn Kollings Film, der sich hier so stetig abrollt, hat trotz des Echtzeitmoments im Grunde nur sehr wenig mit einer realen Zugfahrt gemein. Der Film rattert nicht, er gleitet reibungs- und lautlos durch die slicken schwarzen Projektoren. Er hält nicht an, kennt keine Stationen: Hoch oben in Beobachterposition, über allen Wolken findet sich der Besuchende, nicht etwa im Führerhaus, nicht im Waggon. Wir befinden uns hier, im Harburger Bahnhof, weit entfernt von der zarten Linie der Schienen, von den Bahnhöfen, dem Dreck und der körperlichen Arbeit, die etwa mit dem Umspuren der Bahn – dem „Break of Gauge“ – zwischen Ländergrenzen verbunden ist. Alles ist hier sauber – nicht mal die schwarzen, minimalistischen Projektoren wirken wie Maschinen der Infrastruktur, sondern mehr wie Designstücke, wie pure Warenästhetik.
Und so scheint das Vorbeiziehen der cleanen Satellitenbilder, des exakt zugeschnittenen Landschaftsstreifens nicht wie die Reise eines Güterzugs, sondern rückt mit seiner halb abstrakten Flut von endlosen Satellitenbildern mehr in die Nähe digitaler Datenströme, die mit der Neuen Seidenstraße schließlich genauso untrennbar verbunden sind wie die materiellen Güter, die auf ihr transportiert werden: Wo die Schienen für den Transport der physischen Materie sorgen, sorgen unterirdische Kabel und Satelliten für den Rest; für die Koordination, die Kommunikation, die Bezahlung und die Überwachung – wie auch Kolling selbst seinen Container per GPS tracken lässt. Es ist eine Versuchsanordnung, die ironischerweise gerade durch das Sichtbarmachen der Gleisinfrastruktur die unsichtbaren Bedingungen ihrer Nutzung umso klarer hervortreten lässt. Nicht umsonst gehörte beim Bau der Strecke quer durch Asien zum Verlegen der Gleise auch das Verlegen von Highspeed-Internet dazu. (Man erinnere sich an dieser Stelle daran, dass das Verlegen von Breitbandinternet in Schwellenländern nicht automatisch der lokalen Bevölkerung zugutekommt, sondern vor allem das Abschöpfen von Profiten und Arbeitskraft erleichtert – auch das lässt sich bei Keller Easterling nachlesen.)
In dieser verstörenden Gegenüberstellung liegt die Spannung dieser Schau, in der zwei Netze der Globalisierung, die massiven Einschnitte in die Landschaft einerseits und die unsichtbaren Datenströme andererseits, gleichermaßen in eins fallen – und dabei noch in cleaner Warenästhetik konsumierbar werden. Und vielleicht findet sich in der überästhetisierten Optik der Installation sogar auch ein Kommentar zur Rolle der Kunst in der heutigen Welt, wenn wir in der abgedunkelten, gedämpften Bahnhofwartehalle, die lauten Züge von draußen kaum wahrnehmend, Kollings Installation bestaunen: Ist man hier nicht ständig in der vermeintlichen Beobachterposition und doch abhängig von Waren-, Daten- und Geldströmen gleichermaßen?
Paul Kolling, Break of Gauge, Kunstverein Harburger Bahnhof, Hamburg, 27. Juni bis 19. Juli 2020.