Als ich 1985 in Deutschland zur Welt kam, war ich ein Ausländer, 2005 wurde ich zum Mitbürger mit Migrationshintergrund, 2010 dann postmigrantisch, 2012 Schwarz, jetzt bin ich wohl BIPoC. Wie viele andere auch unterziehe ich mich verschiedensten kulturinstitutionellen und polizeilichen Anrufungen und Prüfungen.
Diskurse wandern. Sie ziehen mit ihren Träger*innen entlang von Flug-, Schifffahrts- und Unterwasserglaskabelrouten von Hafen zu Hafen, in neue Regionen und Kontexte. Deren Begriffe werden aufgenommen, verkürzt, revidiert und neu gelesen. Sie werden dringend gebraucht, nicht gehört, erweitert oder verworfen. Deren Texte werden gelesen, übersetzt, eingescannt, als PDF hoch- oder runtergeladen und auf WhatsApp geteilt. Die Expert*innen werden gehypt, eingeladen, in die Großstädte, in die mittelgroßen Städte, an große Kulturinstitutionen, in Galerien, an Universitäten. Sie machen Projekte, marschieren durch Institutionen oder geraten in Vergessenheit. Sie performen „ihre“ Kritik. Sie repräsentieren „ihren“ Diskurs. Sie werden zu dem Subjekt ihres Diskurses.
Vor einiger Zeit lernte ich einen deutschen Journalisten kennen, dem es widerstrebte, sich als Schwarz zu identifizieren. Er empfand sich als zu klug dafür, sich durch Diskurse immer wieder neue Identitäten aufdrängen zu lassen. Er könne nicht hinter seine Foucault-Lektüre zurücktreten, erklärte er mir. In meinem Feldtagebuch nannte ich ihn „the reluctant black intellectual“. Ich beneidete ihn um seinen Ungehorsam. Mittlerweile leistet er wertvolle dekoloniale Arbeit am Kanon deutschsprachiger Philosophie. Heute ist er wohl dieser Schwarze deutsche Journalist, der er nie sein wollte. Es ist, als hätte sich sein Interesse im Angesicht der Schrecken unserer Zeit von einer Beschäftigung mit der Macht (Foucault) zu einer Auseinandersetzung mit der Gewalt (Fanon) verlagert.
Schwarze Menschen grüßen sich in Europa auf der Straße, unbekannterweise. Ein Schwarzer Freund von mir, der bei seiner weißen deutschen Mutter aufgewachsen ist, meint, der Gruß symbolisiere die Solidarisierung mit dem Schicksal der anderen Schwarzen Person. Er drücke aus: I feel your pain. Ein anderer Schwarzer Freund, der als Asylbewerber nach Deutschland kam, meint über denselben Gruß, er sei Ausdruck einer verlogenen Anteilnahme, weil er die materiellen Unterschiede verschleiere. Was hätten beispielsweise Schwarze Studierende mit einem*r geduldeten Schwarzen Asylbewerber*in gemein?
Der Gruß Schwarzer Menschen auf der Straße wird häufig als kulturelles afrodiasporisches Bekenntnis gelesen. Ich verstehe ihn mehr als eine in Anführungszeichen gesetzte Wiederholung der von Frantz Fanon in Schwarze Haut, Weiße Masken (1952) beschriebenen rassistischen Urszene: Ein weißes Kind zeigt auf einen Schwarzen Mann und sagt: „Schau Mama, ein Neger. Ich habe Angst.“
Nach Pierre Macherey erkennen wir, dass das Schwarze Sein durch den imperialen Blick des Kindes in Erscheinung tritt. Fanons Figur der Anrufung ist visuell. Die schwarze Haut ist für alle sichtbar und offensichtlich. Es verwundert nicht, dass wir, so uns der soziale Aufstieg gelingt, dieses Straßenritual aktiv verlernen. Der Schrecken über die Leichtigkeit, mit der man aus der Unsichtbarkeit durch einen bloßen Blick angerufen werden kann, sitzt zu tief. Die existenzielle Angst vor dem Nigger-Moment sitzt tief.
Für den antikolonialen Vordenker Frantz Fanon offenbarte die koloniale Situation das wahre Wesen des modernen Staates: In Abwesenheit jeglicher Versprechen von Freiheit und Repräsentation erlebe das koloniale Subjekt dessen ungefilterte rohe Gewalt und den Zwang. Der*die europäische Arbeiter*in sei verwirrt, das kolonisierte Subjekt aber sehe klar. In welcher Beziehung steht also die schier grenzenlose Gewalt der historischen kolonialen Situation zu einer europäischen Heimat und Gegenwart? Was ist die historische, d. h. gewordene, Beziehung von Kolonie und Heimat?
Der Komponist Julius Eastman drückte es 1980 für die USA wie folgt aus: „Without field niggers, you wouldn’t really have such a great and grand economy that we have. So that is what I call the first and great nigger, field niggers. And what I mean by niggers is that thing which is fundamental, that person or thing that attains a ,basicness,‘ a ,fundamentalness‘ […].“
Ich werde nie vergessen, wie ich 2009 einer Tagung der amerikanischen Literaturwissenschaft in München beiwohnte. Fasziniert beobachtete ich, wie deutsche Amerikanistik-Professoren von Obama als Symbol progressiver Verheißung und Käpt’n Ahabs Schiff Pequod als drittem Raum schwelgten, während die afroamerikanischen Kolleg*innen höflich schwiegen und am Buffet die Berufung Timothy Geithners zum Finanzminister als neoliberalen Verrat Obamas bewerteten. Diskurse sind situierte Praxen, und für entnazifizierte weiße Deutsche hatte der erste Schwarze Präsident eine andere Bedeutung als für progressive Schwarze Amerikaner*innen.
Angesprochen auf ihre Lebensträume berichtete Angela Merkel 2019, dass sie als junge Frau in der DDR davon geträumt habe, mit dem Auto und Bruce Springsteen hörend durch die Rocky Mountains zu fahren. Peter „Unsere Sicherheit wird nicht nur, aber auch am Hindukusch verteidigt“ Struck erfüllte sich nach der Pensionierung den Traum, auf einer Harley Davidson die Route 66 entlangzufahren. Amerika ist ein Versprechen. Was für Merkel die Rockys und für Struck die Route 66 waren, war für mich und viele andere People of Color in Deutschland die Ordnung der Amerikanistik. Feminismus, Latinx, Black America, Film Studies. Weil Fatima El-Tayebs Schwarze Deutsche nicht verfügbar war, weil Rainer E. Lotz’ Black People: Entertainers of African descent in Europe and Germany zu obskur war, wurden bell hooks, Eric Lott und andere zu Säulen meines Denkens. Als ich mehr über die Geschichte des Blackfacings und der Minstrel Shows wissen wollte, als ich verstehen wollte, warum mich die Polizei am Sendlinger-Tor-Platz Mal um Mal kontrollierte, als ich über das Schwarzsein nicht nur als Diskriminierungsform nachdenken wollte, kurz: Wann immer ich in meinen akademischen oder persönlichen Fragen vorankommen wollte, suchte ich die Amerikanistik-Bibliothek als Ordnung der Moderne auf.
Die blinde Übernahme amerikanischer antirassistischer Diskurse trägt dazu bei, dass wir Rassismus als Erstes mit Schwarzen Körpern verbinden. Wir nehmen Eastmans „field niggers“ als Fundament unserer eigenen europäischen Ordnung an. Und ja, mit der tragischen Musik von Moor Mother et al. lässt sich vorzüglich ein Schwarzer Existenzialismus fetischisieren. Das ist mit Shisha-Bars und Fitnessstudios in Duisburg und Offenbach schwieriger. Aber dieser Afro-Amerikazentrismus der Diskurse, diese Verengung von Rassismus auf die koloniale Situation macht uns blind für die rassistische Ausbeutung vor unserer eigenen Haustür. Angesichts der immensen Black-Lives-Matter-Mobilisierung in Reaktion auf den Mord an George Floyd und der im Vergleich kümmerlichen gesellschaftlichen Reaktion auf die Anschläge von Hanau stellt sich doch die Frage: Warum bringt unsere Gesellschaft den eigenen Mitbürger*innen mit kurdischen, türkischen, bulgarischen, bosnischen, afghanischen Migrationshintergründen oder Angehörigen der Roma und Sinti nicht die gleiche Empathie und Solidarität entgegen? Wie limitiert sind unsere Diskurse, wenn wir nicht mal über die rassistische Ausbeutung derjenigen sprechen können, die unsere Autos reparieren, unsere Pakete liefern oder unseren Spargel pflücken?
Unsere postkolonialen oder dekolonialen Diskurse ergeben sicherlich Sinn. Aber nicht als von Zeit und Raum losgelöste Glaubenssätze, sondern als Versuche, mit Konzepten und Begriffen spezifische historische und geografische Situationen zu erfassen. Vielleicht gibt es kein fundamentales Wesen des modernen Staates, welches sich uns in der kolonialen Situation offenbart. Vielleicht gibt es schlicht diese Lücke zwischen der rohen Gewalt in der Kolonie und der Produktivität der Macht in der Heimat. Und in spezifischen Konstellationen bricht die eine Welt in die andere. Vielleicht ist dieser Dualismus aber auch unproduktiv. Vielleicht gibt es viele Modernen. Und vielleicht ähneln sie sich. Und vielleicht müssen wir in dieser Unübersichtlichkeit unsere Annahmen und Argumentationen überdenken. Öffentlich überdenken. Denn: I might be wrong.
Vorabdruck aus dem Band AFTER EUROPE – Beiträge zur dekolonialen Kritik, herausgegeben von Julian Warner, der im April 2021 im Verbrecher Verlag, Berlin erscheint.