Heft 1/2021 - Netzteil
An TürsteherInnen vorbeizukommen, war bei den Clubnächten des Berliner CTM-Festivals eigentlich nie ein Problem, vorausgesetzt, man befand sich im Besitz eines Tickets oder eines Festivalpasses. Diesmal, 2021, war alles anders (der Grund bedarf keiner Erklärung): So konnte man bei Project Hyphae, der über sechs Stunden auf einem privaten Minecraft-Server stattfindenden virtuellen Clubnacht des Club-Matryoshka-Kollektivs aus Manila, nicht nur passiv per Twitch-Livestream zuschauen, sondern mit einem Avatar die zwei parallel geöffneten, sich in gigantischen 32-Bit-Architekturen verlierenden Floors erkunden (verschiedene Acts beschallten den eigens gebauten Planeten Alpha Lebbeus) und sich dort mit anderen ClubgängerInnen per Chat austauschen. Doch davor musste man erst einmal über einen „The Bouncer“ betitelten Bot eine ungewohnte Menge sowie ungewöhnliche Arten von Daten auf dem Server der großzügig mit Silicon-Valley-Investitionsgeld ausgestatteten Firma Discord hinterlassen. Neben unter anderem der Angabe der eigenen Mobilnummer und von Links zu drei eigenen Social-Media-Accounts sollte man sich, bevor man eintreten durfte, zudem mit „nur“ hundert Emojis selbst beschreiben, den letzten favorisierten Song und das letzte favorisierte Album benennen sowie einen Haiku schreiben.
Ob der von dem philippinischen Kollektiv als „dekolonisierter Raum“ verstandene, seit 2019 existierende virtuelle Veranstaltungsort Club Matryoshka in dieser Verbindung tatsächlich dem eigenen Selbstverständnis als Ort „außerhalb westlicher Erwartungen an kapitalistische Strukturen“ gerecht wird, sei einmal dahingestellt. Als Symptom einer sich den pandemischen Bedingungen entsprechend in diesem Jahr ausschließlich auf Online-Formate verlegenden 22. Ausgabe des Festival for Adventurous Music & Art funktionierte die in der Club Matryoshka x CTM Clubnacht zu erlebende Körperlosigkeit allemal. (Wie viele der zu Hunderten auf Alpha Lebbeus herumhüpfenden Rave-Avatare dabei tatsächlich von – im Navigieren durch Minecraft-Architekturen fraglos geübteren – Kindern der zu Hause im Lockdown sitzenden älteren FestivalbesucherInnen gesteuert wurden, wird sich wohl nie ergründen lassen.)
Unter dem den allgemeinen Umständen gerecht zu werden suchenden Festivalmotto „Transformation“ waren die drei künstlerischen Leiter (Oliver Baurhenn, Jan Rohlf und der sich täglich per Videowetterbericht aus seinem Corona-Exil im maskenfreien Tasmanien zuschaltende Remco Schuurbiers) das technische und programmatische, unbedingt achtbare Wagnis eingegangen, digitale und ohne Vor-Ort-Publikum an verschiedenen Berliner Örtlichkeiten stattfindende analoge Formate in Form von Livestreams auf der neu gestalteten CTM-Website zu bündeln, ohne dabei den Festivalcharakter aufgeben zu wollen.
Im unter anderem auf postkoloniale und queere Themen ausgerichteten Diskursprogramm funktionierten dabei vor allem jene Formate mit ausreichender Zeit zur Entfaltung. Hierzu gehörte etwa die erstmalige Vorstellung der „transkulturellen“, auf eine mikrotonale Tonskala setzenden, generativen Browser-Software Apotome durch ihren Entwickler, den irakisch-britischen Komponisten und Musiker Khyam Allami. Aufschlussreich war auch die Diskussion zwischen verschiedenen MusikerInnen (Deena Abdelwahed, Matana Roberts, Tero Parviainen und Allami) über mögliche Effekte dieser Software im Sinn einer Demontage westlicher Voreingenommenheiten bei der Konzeption von Musiksoftware wie auch die Live-Anwendung von Apotome durch hierfür vernetzt vor Ort agierende MusikerInnen (etwa Allami mit Nene H, Tot Onyx, Enyang Ha, Tyler Friedman und Lucy Railton). Andererseits legten sich Gamification-Elemente à la Project Hyphae über das Festival wie der Mehltau einer für Zukunft gehaltenen, ästhetisch aufgebrühten Techno-Vergangenheit, wozu etwa die HR-Giger-artigen Flüssigmetallavatare gehörten, die bei der von Club Qu und IOR50 Studio präsentierten queeren CQ5-Clubnacht in einer Datenbank gespeicherte Moves verschiedener TänzerInnen ausführten, was an eine ungelenke Mischung von Boston Dynamics und The Lawnmower Man erinnerte.
Als ungeplantes Gamification-Cliffhanger-Moment des Festivals erwiesen sich die Unklarheiten bezüglich des Launchs der eigentlich im Vorfeld als zentraler Festivalteil kommunizierten Online-Plattform CTM Cyberia, eine nach Vorlagen des diesjährigen Festivaldesigns (Logo und Trailer durch VOJD/Marius Rehmet) von Lucas Gutierrez (Visuals) und Elvin Brandhi (Sound) entwickelte Multiplayer-Umgebung. Neben der zuletzt für Mai 2021 angekündigten und das Festival so später zu ergänzen suchenden CTM-Soundworks-Ausstellung in der Betonhalle des silent green Kulturquartiers sollte sie als Ausstellungsformat für Auftragsarbeiten unter anderem von Peaches & Pussycrew, Mouse on Mars oder Byrke Lou dienen. Erst in der letzten Phase des zehntätigen Festivalzeitraums wurde klar, dass der Start von CTM Cyberia „aus technischen Gründen“ erst zwei Wochen nach Festivalende werde stattfinden können und dieser virtuelle Festivalort ab dann für einen Monat per Avatar zugänglich sein werde. Für die FestivalbesucherInnen blieb so vorerst nur, eine Präsentation durch Gutierrez (im Dialog mit der so omnipräsenten wie geschickt über manche technische Festivalpanne rettenden Moderatorin des CTM-Streaming-Programms, der Berliner Musikjournalistin Aida Baghernejad) sowie einen später via FACT Magazine nachgeschobenen Videopreview anzusehen. Namentlich an das Computerspiel „Cyberia“ von 1994 und das im selben Jahr gegründete gleichnamige Londoner Internetcafé angelehnt, war eine in der Computerspiel-Umgebung „Unity“ gebaute virtuelle 3D-Ausstellung zu erkennen. Farblich erinnerte diese an Metasepia pfefferi (die Flammende Sepia) und architektonisch an eine monumentale Moderne irgendwo zwischen Mies van der Rohes Neuer Nationalgalerie und dem Berghain. Für den Festivalzeitraum hätte sie zweifellos so etwas wie einen verbindlich-stabilen Gemeinschaftsort erschaffen können, den die zwar auf YouTube archivierten, sich auf dem Weg nach Hause dann aber doch oft verflüchtigenden Livestreams nicht bieten können.
Die abhandengekommene soziale Realräumlichkeit wurde, verbunden mit dem Fehlen von eigener und anderer Körperlichkeit, von den sich rege in den Chats oder per gesendeter Videogrußbotschaft zu Wort meldenden, teils mit freiwillig gekauftem „Solidarity Pass“ ausgestatteten FestivalbesucherInnen mehrfach angemerkt. „What’s the point of watching it ‚live‘ if I can rewind?“, fragte ein/e ChatteilnehmerIn während Christina Wheelers von den hypnotisch-zähen Bildwelten Aaron Kuliks unterfütterter Gesangs-/Soundperformance Surrender to the Totality of Blackness – um gleich wie entschuldigend hinterherzuschieben: „Marvellous vocals though.“ Oder wie es Festivalleiter Rohlf in einem Chat während der aus der so großen wie leeren Betonhalle übertragenen Musik- und Tanzperformance von Isabel Lewis und Loraine James selbst ausdrückte: „Dancing in isolation between media machines strangely and beautifully catches the pandemic mood.“ (Der Tanz in Isolation zwischen den Medienmaschinen fängt seltsam und schön die pandemische Stimmung ein.)