Heft 1/2021 - Geschichte reparieren
Er beobachtet den Strom der Menschen, der sich zielstrebig den Broadway entlang bewegt. Zögernd wartet er auf dem oberen Treppenabsatz, während sich KundInnen und Bankangestellte an ihm vorbeischieben. Ein Nicken, ein wiedererkennender Blick, ein knappes Hallo, eine widerwillige Bestätigung seiner Existenz bleiben aus. Auf der Straße wimmelt es nur so von Menschen. Niemand, dessen Blick ihn zufällig streift, würde eine Formulierung wählen wie „hochgewachsene Gestalt“ oder auch nur einen Moment darauf verschwenden, über seine Stellung in der Bank nachzudenken; vielmehr kratzen Worte wie nutzlos oder Tagedieb oder un-beherrscht oder unterwürfig an den trüben Rändern des Bewusstseins, latent und ohne sich dessen vollends gewahr zu werden oder es ausdrücklich zu denken, denn das Gros derer, die sich so eilig durch die Straßen des Finanzzentrums bewegen, nimmt ihn kaum wahr. Nur wenige bemerkten ihn. Nur wenige hatten ihn jemals bemerkt, außer in einer Weise, die wehtat. Er war außerhalb der Welt – „nichts!“
Wenn ihre Blicke ihn treffen, spürt er sie wie Klingen auf der Haut, und sein Körper schreckt vor dem Angriff zurück, weicht ihm in weiser Voraussicht, wo der Stoß treffen wird, aus. Sein Fleisch ist zu einem Sensor geworden. Seine Muskeln sind angespannt.1 Trotz der geringen Distanz zwischen Treppenabsatz und Gehsteig bewohnt er eine Welt, und die weißen Männer mit Anzug und Krawatte, die hastig durch die Straßen eilen, existieren in einer anderen. Nein, es ist vielmehr so, dass sie in der Welt sind und er aus ihr verstoßen wurde. (Nun ist nicht die Zeit, um dies zu erklären oder die Biografie eines Schwarzen Boten in New York zu skizzieren, noch um zu theoretisieren, wie AfrikanerInnen erst zu Gefangenen und dann zur Ware wurden, oder detailliert jene Formen von Knechtschaft zu beschreiben, die das Los Schwarzer Menschen bestimmt, oder um ein Bild der Abgrenzung zu liefern oder zu erklären, warum die Bank die Schwelle zu dem Alles und Nichts darstellt, das der Schwarze ist, die Pieza de India, bewegliches Gut, wandernder Grundbesitz, die Spielarten seiner Besitzlosigkeit. Die Gründe dafür zu liefern oder auf solche Fragen einzugehen, noch bevor der Kontext der Geschichte klar geworden, sein Verfasser genannt, die Figuren benannt, der Schauplatz vorbereitet und die Handlung in Gang gekommen ist, wäre verfrüht; auch spräche man damit nur das allzu Offensichtliche aus: Er ist in der Welt nicht zu Hause. Ich könnte dies weiter ausführen und zusätzliche Anzeichen liefern, zum Beispiel, wie winzig er vor dem Hintergrund des massiven Gebäudes erscheint und wie sehr seine solide und massive Granitstruktur sowie der Rahmen aus riesigen dorischen Säulen diesen Eindruck noch verstärken. Doch diese Details gibt die Geschichte nicht her, so dass die Stufen ebenso gut aus Beton und die Bank säulenlos sein könnten, wobei die Mahagonitüren am Eingang in dem Falle genügen müssten, um die Erhabenheit von Kapital und Weltreich heraufzubeschwören. Die Schifffahrtsgesetze, die internationalen Handelsabkommen, der Sklavenhandel, die Seeversicherung, das gestohlene Leben und das Land, die notwendig waren, um das Mahagoni zu beschaffen, die Bäume zu fällen, sie nach Europa und Nordamerika zu transportieren und die Türen in kunstvoller Handarbeit herzustellen, all dies würde hinter der Schönheit des dunklen Holzes und der polierten Messingbeschläge stehen.)2
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Ein Name so nichtssagend und allgemein wie seiner, könnte genauso gut ein Pseudonym sein oder ein Deckname, ein Homonym für den Durchschnittsmenschen, ein männliches besitzanzeigendes Pronomen auch für die Besitzlosen, ein Name, der seinen Besitzer zu gar niemandem macht. Es ist aber auch ein mit Bedeutung befrachteter Name: wegen der Reise eines anderen, der versucht, auf einem Mississippi-Floß seinen Weg in Richtung Freiheit zu machen, aber in die falsche Richtung gefahren ist, wobei jede Richtung die falsche, jeder Weg vereitelt und dem Verrat preisgegeben ist, sodass er, selbst wenn er abhaut und flieht, selbst wenn die Strömung des Flusses ihn trägt, selbst wenn er unzählige Flüsse überqueren muss, niemals die Verachtung abschütteln kann, die wie ein grausamer Titel oder eine brutale Anrede für immer und ewig an dem Namen haftet. N*gger Jim. Jim Crow. Crow Jim. Ein Name, der sich in den Fibeln von Erstklässlern und Kinderreimen findet: Him, Jim, Slim. Wie sein Namensvetter schlägt er sich durch ein von Gewalt geprägtes Leben, ist Beschimpfungen und Verletzungen ausgesetzt, überlebt von einem Tag zum anderen, immer unter Todesgefahr. Es ist schwer, all jene zu vergessen, die seinen Tod herbeisehnten, die auf sein Verschwinden warteten, die davon besessen waren, ihm noch in diesem minderwertigen Zustand sein Existenzrecht zu verwehren. (Nun ist nicht die Zeit, die Geschichte zu erzählen oder die Umstände zu beschreiben, die zu dieser Verweigerung geführt haben, oder Begriffe bar jeder Musikalität einzuführen: Akkumulation – ursprünglich oder primitiv oder wiederkehrend–, Fungibilität, natal alienation – der Verlust aller mit Geburt und Abstammung verbundenen Ansprüche und Identifikationsmöglichkeiten –, Verwandtschaftslosigkeit; oder die Kräfte zu beschreiben, durch die er im Finanzdistrikt, dem räuberischen Herzen der Stadt, auf der Treppe dieser Bank gelandet ist, Kräfte, die ihn in die tiefsten Tiefen verbannt haben als ein Nichts, ein Niemand; oder zu offenbaren, dass er heulen könnte,3 gefangen auf den Stufen dieser Kathedrale des Kapitalismus, als seien sie der Scheideweg zwischen Menschsein und Nichtssein.)
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Du siehst mich an, ohne mich zu sehen. Und selbst wenn, wäre es dir egal.4
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Ich habe zu viel gesagt und bin zu weit abgekommen von dem Mann, der angespannt und verängstigt am späten Vormittag von der Ecke Wall Street und Broadway auf die Welt blickt, nur ein paar Blocks entfernt vom ersten Sklavenmarkt New Amsterdams; ich habe abgelenkt von dem ungewöhnlichen Drama, das sich im Laufe des Tages entfalten wird, wenn die Katastrophe für eine Öffnung sorgt, die Unterschiede nivelliert und es ihm ermöglichen könnte, in seiner Haut zu atmen und sich aus der Umgrenzung des Nichts und der Verurteilung zum Schwarzsein zu befreien.5 Kurz vor Mittag wird die Zerstörung der Welt ihm die Chance bieten, ein Mensch zu sein wie andere. Das sonderbare Strahlen und die Musik in Moll, die durch den Zusammenbruch der Ordnung, durch die Katastrophe erzeugt werden, verheißen ein unbehelligtes Schwarzes Leben.
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Der Komet. Alle sprachen davon. Sogar der Direktor, als er eintrat, ihn herablassend anlächelte und fragte:
„Nun, Jim, hast du Angst?“
„Nein“, sagte der Bote kurz.
„Ach übrigens, Jim“, sagte er und wandte sich wieder dem Boten zu, „ich möchte, dass du heute in die unteren Gewölbe hinuntergehst.“
Der Bote folgte dem Direktor schweigend. Natürlich wollten sie, dass er in die unteren Gewölbe hinunterging. Für wertvollere Menschen war das zu riskant.
Auf dem Weg in die unteren Gewölbe verschluckt ihn die undurchdringliche Finsternis des Innenraums. Er findet die beiden Bände mit den Aufzeichnungen und entdeckt eine eiserne Truhe, die mindestens hundert Jahre alt und völlig zugerostet ist. Als er das Schloss aufbricht, scheint ihm der matte Glanz von Gold entgegen. Die verlorenen Aufzeichnungen der Bank und ihre versteckte Beute, das weggeschlossene und in Vergessenheit geratene Gold, entdeckt von einem Mann ohne Wert – eine schöne Allegorie auf den Kapitalismus und die Sklaverei. Die Krypta birgt die Geheimnisse, das geleugnete Wissen und die fehlenden Unterlagen, auf denen das prächtige Finanzgebäude ruht, dieselbe Geschichte, die Jim in die Eingeweide der Erde verbannt hat.
Das Gold, das er in dem übelriechenden, glitschigen, von Ratten bewohnten Loch gefunden hat, ist nicht der Auftakt zu einer erfolgreichen Schatzsuche oder die Geschichte eines Mannes, dessen Schicksal sich durch Reichtum zum Guten wendet; die Szene im Lagerraum, mit den verlorenen Aufzeichnungen, dem Gold und dem Schwarz, fügt sich zu einer modernen Version des urzeitlichen Entstehungsakts zusammen. Auch wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt wird, bildet die Sklaverei den thematischen Grund[6 ]dieses versunkenen Orts.
In den Fängen des Kapitals, wenn man so will, ist er mit seinen Ursprüngen konfrontiert, und wie ein Stachel trifft ihn die Erkenntnis, überfällt ihn das unheimliche Gefühl, dass da eine Äquivalenz besteht oder eine Dopplung zwischen dem Gold in der Truhe und dem Schwarzen in der Gruft. Eine Philosophin hat diesen Zustand einmal als Pieza-Bewusstsein beschrieben, die Wahrnehmung der eigenen Existenz als Sache, als Ware oder Werteverhältnis (und die Weigerung, dies zu akzeptieren).7
Bumm! Unvermutet fällt die schwere Steintür der inneren Kammer zu und schließt ihn ein. Nach scheinbar endlosen Stunden gelingt es ihm, sie aufzustemmen und zu entkommen. Auf dem Weg nach oben, zur Ebene der wertvollen und qualifizierten Menschen, stößt er auf die Leichen des Tresorangestellten, der Wachleute, der KassiererInnen, der BuchhalterInnen und schließlich des über seinen Schreibtisch gebeugten Bankdirektors. Da kam ihm schlagartig ein neuer Gedanke: Wenn sie ihn hier finden würden, allein – mit all dem Geld und all diesen Toten –, was wäre sein Leben dann noch wert? Weniger als nichts. Es spielt keine Rolle, dass er nichts getan hat; seine Existenz macht ihn schuldig, und was erschwerend hinzukommt: Er lebt, und weiße Männer sind tot. Als er aus dem Seiteneingang der Bank ins Freie tritt, verstohlen und voller Angst, man könne ihn für das Massaker verantwortlich machen, sieht er auf der Wall Street und am Broadway überall Tote. Mitten am Tag ist die Welt vollkommen still.
Im Rinnstein liegt die Leiche eines Zeitungsjungen. In dessen verkrampfter Hand warnt die Mittagsausgabe zu spät vor der Katastrophe. Ein Komet ist in die Erdatmosphäre eingedrungen, das hat Giftgas freigesetzt und die gesamte Bevölkerung New Yorks getötet. Die Welt ist tot.
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Bei der hier nacherzählten Geschichte handelt es sich um W.E.B. Du Bois’ Kurzgeschichte „The Comet“ (Der Komet)8, eine spekulative Erzählung vom Ende der Welt, die er nach der Pandemie des Jahres 1918 schrieb, in der Zeit nach dem sogenannten Roten Sommer von 1919 und im Kontext kolonialistischer Expansion und Gräueltaten. In diesem Klima veröffentlichte Du Bois 1920, also vor einem Jahrhundert und doch so vorausschauend, den Sammelband Darkwater, dessen vorletztes Kapitel „The Comet“ ist. Die Sammlung beinhaltet Erzählungen, Essays, Gedichte, Gebete, Lieder, Gleichnisse, Choräle sowie eine Bestandsaufnahme verschiedenster Grausamkeiten (untersucht werden Weißsein, Lynchen, Sklaverei, imperialistische Kriege, die Schmähung Schwarzer Frauen, Kolonialismus, Raubtierkapitalismus, Schönheit, Glück, Tod und das Erhabene). Der Ton reicht von Wut bis Verzweiflung; manche sehen darin gar den Urtext des Afropessimismus, wobei die Stimmung tragischer ist. Die lichten Momente der Sammlung sind geprägt vom Verlangen nach einem messianischen Ende dessen, was ist, angetrieben von einer Vision vom Ende der Welt; der Zufall wird zum Geschenk, der Tod eine willkommene Erlösung. Aber was will man erwarten, nach Jahrzehnten des Terrors und der Enttäuschung? Nachdem Schwarze Frauen, Kinder und Männer in den Straßen von East St. Louis ermordet, gelyncht, verstümmelt und lebendig verbrannt werden, nachdem vier Jungen an einem Julinachmittag auf einem Floß über den Lake Michigan fahren und dabei in für Weiße vorbehaltene Gewässer geraten, wodurch sie die Wut und Rachsucht einfacher weißer Leute auf sich ziehen, die sich sogleich in einen unerbittlichen Mob verwandeln, einen der Jungen ermorden und auf ihrer todbringenden Mission alle Schwarzen, die ihnen über den Weg laufen, verstümmeln und verletzen. Darkwater ist eine rote Bilanz9 modernen Weißseins im 20. Jahrhundert, eine Chronik der Siedlerrepublik und ihrer notorischen Gewalt, der Atlas „einer Welt in Flammen“, eine Litanei für die SklavInnen und UreinwohnerInnen, ermordet von europäischen BeherrscherInnen und denen der Neuen Welt.
Die Grippepandemie des Jahres 1918 taucht in dieser Bestandsaufnahme nicht auf. Vielleicht weil Mikroben Du Bois im Vergleich zum Blutvergießen des Roten Sommers harmlos vorkamen. Oder weil zwischen 1906 und 1920 die jährliche Sterberate innerhalb der Schwarzen Bevölkerung in den Städten genauso hoch war wie die der weißen auf dem Höhepunkt der Pandemie.10
Während der Spanischen Grippe starben einfach nur mehr von ihnen, aber eine Pandemie erlebten sie bereits seit über einem Jahrzehnt. Du Bois widerstand dem Impuls, Mortalitätsraten zu vergleichen oder Tabellen mit Todesfällen zu erstellen, weil es so offensichtlich war. Er wusste, dass die Fakten, die Schwarzes Leben bestimmen, die Statistiken, die mathematischen Gleichungen und die Wahrscheinlichkeitsrechnungen nichts ändern würden.11 Man hatte zugesehen, wie sie massenweise starben, ohne dass eine Krise ausgerufen wurde.
Mitten in der Pandemie dachte er noch über das Werk des Mobs nach, über East St. Louis, Brooks und Lowndes County, über Georgia und das, was Walter Whites Artikel in The Crisis (September 1918) als „den Holocaust der Lynchmorde“ bezeichnet hatte. Die Männer zu ermorden, war schon brutal genug, aber was der Mob Mary Turner angetan hatte, war so entsetzlich und die Details so grauenvoll, dass es Du Bois als Herausgeber der Zeitschrift schwerfiel, darüber zu berichten. Mary Turner hatte sich erdreistet, den Mord an mehreren Männern, darunter ihr Ehemann, als Unrecht zu bezeichnen, und damit gedroht, die Namen der Männer, die ihren Mann gelyncht hatten, preiszugeben und ihre Verhaftung zu erwirken. Sie wurde bei der Brücke über den Little River an einem Baum erhängt, mit Öl und Benzin übergossen und in Brand gesteckt. „Während sie noch lebte, nahm jemand ein Messer, das offenbar dem Zerteilen von Schweinen diente, und schlitzte ihr den Leib auf, bis ihr Ungeborenes aus ihrem Mutterleib und zu Boden fiel. Das Frühgeborene stieß zwei schwache Schreie aus, dann wurde sein Kopf von einem der Männer mit dem Absatz seines Schuhs zertreten. Danach feuerten sie Hunderte von Schüssen auf den Körper der Frau, die zum Glück inzwischen gestorben war, und es war vorbei.“
Du Bois fand es wichtig, solche Geschichten zu erzählen. Im Nachhinein sollte er den Umstand, dass er ernsthaft davon überzeugt war, intelligente Argumente und ein vernünftiges Urteilsvermögen könnten den Rassismus besiegen, damit begründen, dass er sich nicht wirklich mit Psychoanalyse befasst hatte. Er „war nicht freudianisch genug, um zu begreifen, wie selten menschliches Handeln auf Vernunft basiert“12 und wie grundlegend die Psyche am Rassismus beteiligt ist, was andere seither als die triebhafte Ökonomie einer antischwarzen Welt bezeichnet haben.13 Er hatte angenommen, dass „die Mehrheit der AmerikanerInnen sich für die Demokratie starkmachen würden“, sobald ihnen bewusst würde, dass Rassismus eine Gefahr für sie darstellte, nicht nur für Schwarze, sondern auch für Weiße, „nicht nur in Amerika, sondern auf der ganzen Welt“.
Obgleich Pessimismus in diesem Klima keiner großartigen Rechtfertigung bedurfte, konnte Du Bois sich nicht recht vorstellen, wie die Welt rekonstruiert werden könnte, wie es möglich sein könnte, eine Hoffnung zu nähren, die, wenn auch nicht hoffnungsvoll, zumindest nicht hoffnungslos ist.14 „The Comet“ ist eine spekulative Erzählung und zugleich eine Satire über das Scheitern der Demokratie. Der Autor malt sich aus, wie es wäre, wenn die color line und ihre Zuteilung von Leben und Tod, ihre willkürliche Grausamkeit und „Neigung zu grundlosen Morden“ abgeschafft wären.15 Eine Umweltkatastrophe16 führt zu diesen weitreichenden Veränderungen. Und paradoxerweise ist es die Auslöschung der Menschheit, die sowohl die Antwort als auch das Korrektiv für das moderne Projekt des Weißseins liefert, welches Du Bois als das Eigentumsrecht an der Welt für immer und ewig, also den Besitzanspruch über das Universum selbst definiert. Der Würgegriff des weißen Überlegenheitsanspruchs scheint so unüberwindlich, so ewiglich, dass nur das Ende der Welt und der Tod der Menschheit seine Niederlage garantieren können. Weder Krieg noch Recht und Gesetz haben es geschafft, aus SklavInnen wieder Menschen zu machen oder den Rassismus auszumerzen. Erst infolge der Katastrophe wird es dem Boten als dem letzten Schwarzen auf Erden gestattet sein, zum ersten Mal wie ein Mensch zu leben. „Ich lebe, ich lebe“, könnte er in den Straßen Manhattans rufen, ohne Angst vor Bestrafung oder sonstigen Repressalien. Er lebt, weil die Welt tot ist.
In der zerstörten Welt erlebt er einen Zustand der Freiheit, der ihm nie zuvor vergönnt war. In den Ruinen der Metropole ist es ihm möglich, ein edles Restaurant zu betreten, in dem man sich zuvor geweigert hätte, ihn oder andere Schwarze zu bedienen. Gestern hätten sie ihn nicht bedient, doch der Bruch zwischen der alten Welt und dem Jetzt bietet neue Möglichkeiten. Zum ersten Mal bewegt er sich durch die Stadt, ohne mit Gewalt oder Beleidigungen rechnen zu müssen. Es gibt keine weißen BürgerInnen und keine Polizei, die seine Bewegungen einschränken oder gar stoppen könnten. Es gibt niemand anderen, der oder die ihm wiedererkennende Blicke verweigern oder zuteilwerden lassen könnte, obwohl er das Gefühl nicht loswird, dass ihn jemand beobachtet. Die kräftezehrende Suche nach Überlebenden in Downtown Manhattan bleibt erfolglos. Es war ein Massensterben: /i>Überall standen, lehnten, hingen und lagen die Toten herum, in grausiger und entsetzlicher Stille.
Schwer zu glauben, dass alle tot sind. War niemand ... Er wagte nicht, daran zu denken. Plötzlich blieb er stehen. Daran hatte er nicht gedacht. Mein Gott! Wie hatte er nicht daran denken können?
An wen oder was er nicht gedacht hatte, ist unklar. Eine Geliebte, seine Mutter, seine Frau? Sie fallen ihm erst später ein. Sind sie vielleicht nur ein Randgedanke? Oder ist dieses Übersehen, dieses Versäumnis vielmehr symptomatisch für ein größeres Dilemma verwundeter Familienbeziehungen und des prekären Schwarzen gesellschaftlichen Lebens anstatt eines Zeichens von Gleichgültigkeit? Erst als er erkennt, dass in der ganzen Stadt niemand sonst überlebt hat, erinnert er sich an die Namenlosen, die im Schwebezustand zwischen alles und niemand existieren. Und auch wenn es unwahrscheinlich ist, dass er die, an die er nicht gedacht hat, findet, eilt er nach Uptown New York.
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Auf dem Weg nach Harlem hört er einen schrillen Schrei und nimmt in der 72. Straße eine Lebensform war, die sich aus dem Fenster eines Gebäudes beugt.
Hallo – hallo – zu Hilfe, in Gottes Namen!
Er bahnt sich einen Weg durch die Leichen, die den Aus- und Fluchtweg des Wohnhauses versperren, und tritt ein. Noch jemand hat überlebt. Eine Lebensform, belebte Masse, ist alles, was er registriert. Die Vernichtung hat die vertikale Ordnung zwischen „Mensch, nicht ganz Mensch und Nicht-Mensch“ gekippt17 und die Kluft zwischen überlegen und austauschbar überbrückt. Für einen Augenblick zählt nur der Unterschied zwischen lebendig und tot, eine Kluft, die nicht länger auf ethnischer Zugehörigkeit beruht. Am Ende der Welt ist Schwarzsein wieder Leben und der Schwarze wieder Mensch.
Es ist eine Gnadenfrist.
Er hatte nicht bemerkt, dass sie weiß war. Sie hatte vorher nicht bemerkt, dass er Schwarz war.
Dann kann sie es nicht übersehen, kann nicht umhin, seine Schwarze Haut und seine rauen Arbeiterhände zu bemerken.
Nicht dass er kein Mensch war, denkt sie, aber er lebte in einer Welt, die so weit von der ihren entfernt war, so unendlich weit, dass er nur selten in ihren Gedanken vorkam.
Sie sieht den Schwarzen an, der sie davor bewahrt, ganz allein zu sein in dieser zerstörten Stadt, und denkt, wie eigenartig – ein Schwarzer wird auf wunderliche Weise zu ihrem Retter.
Er sah nicht so aus, wie Männer in ihrer Vorstellung zu sein hatten. Er war ihr mehr als fremd.
Ihr innerer Monolog bedient sich derselben Sprache wie „Die Seelen der Schwarzen“18, ein Essay über die Philosophie der weißen Welt, in dem Du Bois schreibt, die weiße Kultur würde die Theorie entwickeln, „,Farbige‘ seien die geborenen Lasttiere der Weißen ... keine „Menschen“ in dem Sinne, wie EuropäerInnen Menschen sind.
Er kann nicht umhin zu bemerken, dass sie weiß ist und eine Frau, von seltener Schönheit und prächtig gekleidet mit dunkelgoldenem Haar und kostbaren Juwelen geschmückt. Gestern, dachte er bitter, hätte sie ihn wohl kaum eines Blickes gewürdigt. Er wäre nichts als Dreck unter ihren zarten Füßen gewesen.
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Ich wollte ein Mensch sein, einfach nur ein Mensch.
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Nachdem er in einem edlen Restaurant eine Mahlzeit „erbeutet“ hat, nachdem er auf der Suche nach Überlebenden durch die verlassene Stadt gelaufen ist, nachdem er schließlich an alle gedacht hat, die er fast vergessen hatte, nachdem er zu spät nach Uptown aufgebrochen ist, nachdem er eine Lebensform gerettet hat, eine entzückende weiße Fremde, und mit ihr im Schlepptau in Harlem angekommen ist, nach alledem ist es zu spät, um noch andere zu retten. Die 135. Straße ist ebenso tot wie alle anderen Straßen der Stadt.
Er lässt sie im Auto und kehrt schnell wieder zurück.
„Haben Sie jemanden verloren?“, fragt sie. „Ich habe alles verloren“, erwidert er nur, „es sei denn.“ Er rannte zurück und blieb mehrere Minuten weg. „Alles“, sagte er, als er langsam zurückkam. Er hielt etwas Weiches, Fließendes in der Hand und steckte es in seine Tasche.
Er entschuldigt sich, sie mit nach Harlem genommen und erst nach seinem Alles gesucht zu haben, bevor sie sich auf die Suche ihrem Vater und ihrem Verlobten gemacht haben. „Tut mir leid, ich war egoistisch“, nuschelt er. Sie fahren zurück in die Stadt. Überall das Gleiche – Stille und Tod.
Als sie am Metropolitan Tower ankommen, suchen sie ihren Vater J.B.H. – die Initialen stehen auf seinem Briefpapier – und ihren Verlobten Fred vergeblich in deren Büros. Julia findet nur eine Notiz: Liebe Tochter, ich mache eine 100-Meilen-Spritztour in Freds neuem Mercedes. Bin vor dem Abendessen nicht zurück. Ich bringe Fred mit. Ihre ist die Welt der Eigennamen und ablesbaren Beziehungen. Sie fürchtet, dass ihr Vater und ihr Verlobter tot sind. Zum ersten Mal wird ihr die ganze Tragweite ihrer Situation bewusst; sie ist allein auf der Welt mit einem Schwarzen Fremden. Er war ihr fremd, sein Blut wie seine Kultur – unbekannt, womöglich unbegreiflich. Es war furchtbar! ... Er durfte sie nicht mehr sehen. Wer weiß, was für scheußliche Gedanken – Was würde er tun? Das Schlimmste ahnend flieht sie vor ihm in die vermeintlich sicheren, mit Leichen übersäten Straßen. Doch der Gestank und die Zerstörung der Welt sind zu viel für sie, sie erträgt es nicht allein, also kehrt sie zu ihm zurück, dem einzigen anderen Überlebenden.
Ihre ersten Worte sind: „Nicht – das.“
Es ist eine Anklage und ein Appell.
Er antwortet langsam, emphatisch: „Nein – nicht das!“
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Am Ende der Welt fürchtet sie ihn mehr als das Unbekannte.
Sie schreckt zurück. „Fass mich nicht an. Fass mich nicht an.“
„Das ist gut. Das ist wirklich lustig“, erwidert er. „Wir sind wahrscheinlich die beiden letzten Menschen auf der Welt, und alles, was Sie sagen können, ist, ‚fass mich nicht an‘.“
„Ich habe Angst“, sagt sie.
„Das sehe ich. Keine Sorge, ich werde Sie nicht anfassen.“19
Später, als sie von ihm berührt werden möchte, wird er sich weigern, aus Angst, die Welt könnte wiederhergestellt werden.
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Stundenlang streift das ungleiche Paar suchend durch die Stadt, findet aber niemanden. Sie rufen um Hilfe, verschicken Telegramme und Nachrichten im Morsealphabet; sie schießen Leuchtraketen ab, doch niemand antwortet. Von aller Welt verlassen ziehen sie sich zur Nacht auf das Dach des Metropolitan Towers zurück. Die Lautlosigkeit der Stadt ist spürbar. Die einzigen Geräusche kommen von dem dunkeln und unruhigen Wasser, das die Insel umgibt. Das Wasser plätscherte ans Ufer, in seinem lockenden, tödlichen Rhythmus. Er denkt, zu sterben wäre leicht. Leise fragt er, „Die Welt liegt jetzt unter dem Wasser – darf ich gehen?“
„Nein“, antwortet sie mit klarer und ruhiger Stimme. Sie hält ihn in der Welt. Gemeinsam wandten sie sich wieder dem Leben zu.
Die Abenddämmerung tauchte die Welt in Zwielicht ... Das grelle Licht der Wirklichkeit schien dem Traum von einer romantischen Liebesgeschichte zu weichen. „Wie unsinnig einem unsere menschlichen Unterscheidungen jetzt vorkommen“, sagte sie und blickte dabei hinunter auf die riesige tote Stadt.
„Ja – gestern war ich – kein Mensch“, sagte er.
Sie sah ihn an. „Und deine Leute waren nicht meine Leute“, sagte sie, „aber heute –“
„Der Tod ist ein Gleichmacher!“ murmelte er.
„Und ein Offenbarer“, flüsterte sie sanft und richtete sich mit großen Augen auf. Vor ihr tat sich die Vision einer Welt auf. Es ist die Vision der kommenden Welt. Sie war nicht bloß eine Frau. Sie war die Urfrau, die mächtige Mutter aller künftigen Menschen und Braut des Lebens. Sie blickte auf den Mann an ihrer Seite und vergaß alles bis auf seine Männlichkeit, seine starke, kraftvolle Männlichkeit – seine Trauer und seinen Verlust. Sie sah ihn verklärt. Auch er ist verändert, auf ihm lastet nicht mehr das erdrückende Gewicht seiner Kaste. Das Ende der Welt hat ihn befreit. Die Ketten schienen rasselnd von seiner Seele abzufallen. Auf dem Friedhof der Welt: ihre Seelen entblößt in der Nacht. Es war nicht Lust; es war nicht Liebe – es war etwas Größeres, Mächtigeres ... Hinter ihnen und überall um sie herum erglühte der Himmel in einem schwachen und fremdartigen Glanz, der die sich verdunkelnde Welt durchdrang und beinahe eine Musik in Moll erzeugte.
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Die Musik in Moll, das durchdringende Echo einer von der Ordnung des Menschen befreiten Welt, hallt in der nivellierten Stadt wider und verkündet dieses neue von der Apokalypse eingeläutete Miteinander, das Schwarzsein nicht länger auf Nichtssein und Tod reduziert. Die Katastrophe selbst bringt diese große Liebesgeschichte hervor, als sei der Untergang eine Grundvoraussetzung für die Liebe zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, als könnten die Grenzen des Schwarzseins nur aufgebrochen und gesellschaftliche Unterschiede nur abgeschafft werden, wenn die Welt zerstört wird. Ist Abschaffung ein Synonym für Liebe?
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Sie bewegten sich aufeinander zu ... Sie riefen es einander zu, nahezu mit einer Stimme, „Die Welt ist tot.“ Diese Worte sind verheißungsvoller als ein „Ich liebe dich“. Noch bevor sie die Schönheit des Satzes „die Welt ist tot“ wiederholen, in ihrem Untergang und der Verheißung einer kommenden Welt schwelgen oder ausrufen können, „in unserem geteilten Elend sind wir alle Menschen oder alle nichts“, werden sie vom Hupen eines Autos unterbrochen. Es erstickt die Musik in Moll, das Summen und Murmeln der menschlosen Erde. Tuut! Tuut! Der zornige Schrei der Welt.
Die tote Stadt ist erwacht, und die Weißen sind zurückgekehrt, darunter Julias Vater und ihr Liebster. „Meine Tochter!“, schluchzt ihr Vater. Fred, der Verlobte, flüstert, „Julia, mein Liebling, ich dachte, wir hätten dich für immer verloren.“ „Bist du unversehrt?“ Mit einem Blick auf Jim knurrt er, „Verdammt! Das ist ein N*gger – Julia! Hat er – hat er es gewagt –“. Jim wird auf seinen angestammten Platz zurückgeschickt, in die Zone des Nichtseins, in die N*gger-Negierung.
„Gewagt hat er – alles, um mich zu retten“, sagt sie leise, „und ich bin ihm sehr dankbar.“ Julia spricht diese Worte, ohne den Schwarzen an ihrer Seite anzusehen. Sie hat ihn nicht mehr angesehen und wird es vermutlich nie wieder tun. Die Rückkehr der Welt hat jede Aussicht auf eine Liebe zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe zunichtegemacht; er ist nicht länger verklärt, sondern für immer darauf festgelegt, ein Mensch mit geringerem Wert zu sein.
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Sie reden unaufhörlich vom Menschsein, und doch schlachten sie Menschen ab, wo immer sie sie finden.
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Eine Menge weißer Männer strömt aus den Aufzügen hinaus aufs Dach, begierig, die einzigen Überlebenden New Yorks zu sehen.
„Wer wurde verschont?“
„Ein weißes Mädchen und ein N*gger – Stell dir vor.“
„Ein N*gger? Wo ist er? Lynchen wir ihn, diesen verdammten_________“
„Halt den Mund. Er ist in Ordnung. Er hat sie gerettet.“
„Von wegen gerettet! Er hatte kein Recht__________“
„In ganz New York nur ein weißes Mädchen und ein N*gger.“
Dem sezierenden Blick ihres weißen Hasses preisgegeben steht er wie angewurzelt im grellen Schein des elektrischen Lichts, eine winzige, benommene Gestalt. N*gger wiederholen sie, damit die Brutalität, die mit der Wiederherstellung der Welt einhergeht, ihn wie ein Schlag in die Magengrube trifft und ihn an den Hass erinnert, der ihren Nährboden bildet. Die Uhr wurde zurückgedreht und er abermals vom Menschsein ausgeschlossen. Mit dem leeren Blick des Schlafwandlers, gebrochen von der süßen Erfahrung dessen, was hätte sein können, steht er stumm unter dem grellen Licht. Er hört nichts. Aus seiner Tasche zieht er eine Babymütze.
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Eine braune, kleine, von Arbeit gezeichnete Frau mit der Leiche eines Schwarzen Babys auf dem Arm bahnt sich einen Weg durch die Menge. Die beiden sind das Alles, das er auf der 135. Straße gesucht und tot geglaubt hatte. Niemand scheint zu interessieren, wie sie es geschafft hat, von Harlem ins Finanzzentrum der Stadt zu gelangen. Die Tatsache, dass sie überlebt hat, ist weder Anlass zur Sorge noch zum Staunen. Sie ist weder schön noch prächtig gekleidet, lediglich effizient. Eine erschöpfte Schwarze ist ein vertrauter Anblick, eine Arbeitssklavin, die der Versorgung aller dient. Als sie das Dach erreicht, berät der weiße Mob gerade über sein Schicksal. Sie ist eine gezeichnete Frau, doch niemand nennt sie Queenie oder Bitch. Der Mob teilt sich und lässt sie ungehindert passieren. Er ruft sie nicht beim Namen. Für einen Augenblick bewahrt sie ihn vor den unbarmherzigen Blicken der anderen. Mit einem Schrei wankte sie auf ihn zu. Sie nennt ihn beim Namen. „Jim!“ Er drehte sich rasch um und fing sie mit einem freudigen Schluchzer in seinen Armen auf. Der Schluchzer erklingt anstelle ihres Namens, als wäre ein Schrei besser als ein Name und genauso gut wie ein Liebesschwur.
Er ist überrascht, sie dort stehen zu sehen, immer noch in ihn verliebt. Mit einem Schrei wankte sie auf ihn zu. Er drehte sich rasch um und fing sie mit einem freudigen Schluchzer in seinen Armen auf. Im Text beschränkt sich ihre gesamte Beziehung auf diese knappen Zeilen am Ende der Geschichte. Das banale Ende einer dystopischen Erzählung? Keineswegs. Durch die Babyleiche wird jegliche Hoffnung für die Zukunft in Zweifel gezogen, zu früh und zu abrupt endet der Familienstammbaum in ihren Armen. Der tote Nachwuchs verringert die Aussicht auf das, was hätte sein können, auf eine neue Generation und ein Vermächtnis, und verweist auf ihr Versagen zu nähren und zu beschützen. Was ist das für eine Mutter, die ihr Kind nicht zu retten vermag? Diese verstörenden letzten Zeilen suggerieren kein Gefühl des Abschlusses oder der Auflösung, deuten jedoch darauf hin, dass ein Funke der Beziehung die Katastrophe überlebt zu haben scheint.
Ein Schluchzen entweicht seinen Lippen, als er sie sieht, aber er ruft sie nicht beim Namen. Vielleicht, weil das Symbol dessen, was sie sind oder nicht sein können, stärker wiegt als jeder Unterschied oder jede Besonderheit; oder sie bleiben verhaftet in einem Moralstück über die Schwarze Familie, die gefangen ist in einer Endlosschleife, welche jede Chance auf ein Happy End im Keim erstickt. Er sagt nicht „Schwester“ oder „Ehefrau“; er flüstert nicht „Baby, ich dachte ...“ oder küsst die Stirn des toten Kindes. Sie ist die Mutter des Babys. Wer sonst würde mit einem toten Kind im Arm die ganze Stadt durchqueren? Und doch wird das genaue Verwandtschaftsverhältnis nicht geklärt oder erklärt, als gäbe es für diese Form von Intimität keinen passenden Begriff. Womöglich ist es ihnen lieber, dass die übliche lexikalische Erfassung oder Erklärung entfällt. Der Körper des Kindes – die Überreste einer verdunkelten Zukunft – symbolisiert, was wir nur zögerlich erkennen: Sie können nicht leben, wie andere leben, und ihre Kinder auch nicht. Ein solches Verhältnis zum Tod, ein solches Leben-im-Tod, stellt die Verherrlichung des Lebens, die für uns so selbstverständlich ist, infrage, ebenso wie seine Abgrenzung und Trennung vom Tod.20 Und dennoch ein Schluchzer der Freude und eine Umarmung: die einer von Arbeit gezeichneten Frau und eines grobschlächtigen Hilfsarbeiters, die zwischen sich ein totes Baby wiegen. Gewiss, „die große Romanze“ einer Liebe zwischen Menschen unterschiedlicher Hautfarbe, die ihnen neue Regeln und einen neuen Menschen verspricht, bleibt ihnen verwehrt. In der Stadt ist die Musik in Moll verstummt, man hört nichts als die Stille der weißglühenden Lichter und das Murren wütender Männer.
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Er schluchzt, und sie umarmen sich. Ein fragiles Beziehungs- und Liebesgeflecht verbindet die drei, was in der unausgesprochenen oder unterdrückten Anrede deutlich wird. Selbst wenn er der Vater ist, zeugt das tote Baby in ihren Armen von ihrer Unfähigkeit, neue Generationen hervorzubringen, geschweige denn, ihre Zukunft zu sichern. Dies kennzeichnet unwiderruflich den Charakter ihrer zarten Vertrautheit. Sie werden versuchen, ihr Leben neu zu beginnen, auf der Basis dessen, was ihnen geblieben ist, einen Überlebensplan aufstellen und sich trotz aller Verluste bemühen weiterzumachen. Wie werden sie sich in der zerstörten Stadt wieder ein Leben aufbauen? Die Wiederherstellung der Welt scheint zu bestätigen, dass Schwarze Zukunft keine Option ist, verwundete Familienbeziehungen und versagte Mutterschaft dagegen unausweichlich sind. Welche Möglichkeiten bleiben der von Arbeit gezeichneten Frau und ihrem Bruder/Mann? Ein Vermächtnis sicher nicht. Das kann weder sie noch ihr totes Kind versprechen.
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Sollen sie bleiben oder weglaufen? Sie kann sich einen neuen Ort vorstellen.21
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Ein Jahrhundert später wird sich die Szene wiederholen. Wenn die Pandemie die Stadt überrollt, werden sie in Scharen sterben, wird ihr Leid noch größer sein. Wenn der Mob kommt, werden sie so mutig sein wie Mary Turner und die Namen ihrer Mörder rufen. Sie werden sich nicht ergeben; sie werden sich nicht vertreiben lassen. In dieser anderen Version ist die Frage nicht weniger dringlich: Wie kann Liebe möglich sein für Menschen, denen die Zukunft genommen wurde und die ständig in Lebensgefahr sind? Ist Liebe ein Synonym für Abschaffung? In einem türkisfarbenen Chevrolet Impala fahren sie von Louisiana nach Florida in der Hoffnung, von dort nach Kuba zu gelangen, wo sie dem Tod entrinnen und dem Schicksal entgehen können, Eigentum der Strafvollzugsbehörde von Ohio und damit des amerikanischen Staats zu werden. Ein Liebeslied erklingt. Sie sind auf der Flucht, fliehen tausend Meilen Richtung Freiheit, auf einem nicht enden wollenden Pfad, prallen aufeinander, er fragt sie, was sie will. Sie sagt: „Ich will, dass ein Mann mir zeigt, wer ich bin. Ich will, dass er mich so sehr liebt, dass ich keine Angst habe, ihm zu zeigen, wie hässlich ich sein kann.“ Sie fragt ihn, was er will. „Ich will eine, die mich für immer liebt, egal, was passiert. Eine, die meine Hand nimmt und nie wieder loslässt. Sie wird mein Vermächtnis sein. Weißt du, ich werde die Welt nicht verändern.“22 Im Hintergrund ertönt „A million days in your arms“, während die beiden sich über den frühen und den späteren Stil von Luther Vandross streiten. Das erwartete tragische Ende dient lediglich dazu, die Lektion aus „The Comet“ zu untermauern – ihre Liebe hat kein Vermächtnis. Sie wird nicht über die Welt triumphieren oder die beiden unsterblich machen oder sie vor willkürlicher Gewalt schützen oder die Kinder verschonen, dennoch sind die beiden dankbar für die Liebe. Die Liebe vermag so viel: Du wirst gesehen, jemand hält bis zum Ende deine Hand, betet dich an, auch wenn du hässlich bist, küsst dich tausendmal, hält dich fest, wenn du dich aufführst wie eine Bitch, tut alles für dein Baby, schwingt für deine Liebe sogar ein Messer, riskiert alles für einen letzten Tanz, tauscht Liebesschwüre aus, auch wenn es nicht den Hauch einer Chance für eine gemeinsame Zukunft gibt, sieht den Himmel in ihren Augen, trägt auf der Suche nach ihm den Leichnam eines Babys durch eine verwüstete Stadt, vermisst sie, bis er daran zerbricht, möchte nie mehr von jemand anderem geliebt werden. Doch eines vermag die Liebe nicht: ein Vermächtnis zu begründen oder eine Zukunft garantieren. Alles, was ich brauche, ist deine Liebe – eine schöne Lüge, ein Refrain, der nötig ist, um all das zu überleben, eine Tragödie nach der anderen zu überstehen, einen weiteren Trauerfall zu verwinden, als wäre „unsere Liebe“ eine Festung und immer genug.
Das Trio auf dem Dach des Metropolitan Tower wird keinen neuen Menschen hervorbringen, und das flüchtende Paar, das auf dem Asphalt ermordet wird, wird nicht in den Genuss der Freiheit kommen oder es bis nach Kuba schaffen. Doch während sie im Friedhof der Welt gefangen und jeglicher Zukunft, auf die sie bauen könnten, beraubt sind, halten sie einander fest, schluchzen vor Freude, lassen die Hand des anderen nicht mehr los, zeigen sich ihre Narben, umarmen sich, während sie fallen, und hören die endlose Playlist der Liebe in einer Welt, in der das Leben für Schwarze so gut wie unmöglich ist.
© 2020 Saidiya Hartman. Mit freundlicher Genehmigung von The Wylie Agency (UK) Limited.
Die englische Originalfassung ist erschienen in BOMB 152, Sommer 2020; www.bombmagazine.org.
Übersetzt von Gaby Gehlen
[1] Vgl. Frantz Fanon, Black Skin, White Masks (1952). Neuauflage New York 2008, S. 99, und The Wretched of the Earth (1961). Neuauflage New York 2005, S. 16. Auf Deutsch: Schwarze Haut, weiße Masken. Aus dem Französischen von Eva Moldenhauer. Frankfurt am Main 1980, Nachdruck Wien/Berlin 2013, und Die Verdammten dieser Erde. Aus dem Französischen von Traugott König. Frankfurt am Main 1981.
[2] Siehe die Ausstellung von Cameron Rowland, 3 & 4 Will. IV. c. 73, ICA, London 2020; https://www.ica.art/media/03104.pdf.
[3] Vgl. Black Skin, White Masks, S. 119.
[4] Siehe The World, the Flesh and the Devil, USA 1959, Regie: Ranald MacDougall.
[5] Vgl. Khalil Muhammed, The Condemnation of Blackness. Harvard 2010.
[6] Vgl. Hortense Spillers, Changing the Letter: The Yokes, The Jokes of Discourse, or Mrs. Stowe, Mr. Reed, in: dies., Black, White, and in Color. Chicago 2003.
[7] Vgl. Sylvia Wynter, Beyond the Categories of the Master Conception: The Counter-doctrine of the Jamesian Poesis, in: Paget Henry/Paul Buhle (Hg.), C.L.R. James’s Caribbean. Durham 1992.
[8] Eine deutsche Fassung der Kurzgeschichte „The Comet“ von W.E.B. Du Bois findet sich in Natasha A. Kelly (Hg.), The Comet – Afrofuturismus 2.0., Berlin 2020. Im vorliegenden Essay wurden die Zitate aus Du Bois’ „The Comet“ neu übersetzt.
[9 Vgl. Ida B. Wells, The Red Record: Tabulated Statistics and Alleged Causes of Lynching in the United States (1895).
[10] Vgl. James Feigenbaum/Christopher Muller/Elizabeth Wrigley-Field, Regional and Racial Inequality in Infectious Disease Mortality in U.S. Cities, 1900–1948, in: Democracy 56, 2019. S. 1371–1388.
[11] Vgl. Katherine McKittrick, Mathematics Black Life, in: The Black Scholar, 44.2, 2014.
[12] Vgl. W.E.B. Du Bois, My Evolving Program for Negro Freedom, in: Rayford W. Logan (Hg.), What the Negro Wants. Chapel Hill 1944, S. 41, 57.
[13] Vgl. W.E.B. Du Bois, The Passing of the First Born, in: The Souls of Black Folk. Chicago 1903.
[14] Vgl. ebd.
[15] Siehe Aimé Césaire, Discourse on Colonialism (1955). New York 2000; Achille Mbembe, Critique of Black Reason. Durham 2019; und Frank B. Wilderson III, Red, White & Black. Durham 2010.
[16] Zu anti-blackness und einer postmenschlichen Welt siehe Axelle Karera, Blackness and the Pitfalls of Anthropocene Ethics, in: Critical Philosophy of Race 7.1, 2019. S. 32–56; Zakiyyah Iman Jackson, Becoming Human. New York 2020.
[17] Vgl. Alexander Weheliye, Habeas Viscus. Durham 2016.
[18] Vgl. W.E.B. Du Bois, Die Seelen der Schwarzen. Übersetzt von Jürgen und Barbara Meyer-Wendt. Freiburg 2003.
[19] Vgl. The World, the Flesh and the Devil, USA 1959, Regie: Ranald MacDougall.
[20] Vgl. Karrera, Pitfalls of Anthropocene Ethics, und Jared Sexton, Affirmation in the Dark: Racial Slavery and Philosophical Pessimism, in: The Comparatist, 43, Oktober 2019.
[21] Vgl. Hortense Spillers, Black, White and in Color. Chicago 2003; Denise Ferreira da Silva, To Be Announced, in: Social Text 31.1, Frühjahr 2013 und Hacking the Subject, in: philosophia 8.1, Winter 2018, sowie Zakiyyah Iman Jackson, Becoming Human. New York 2020.
[22] Siehe Queen and Slim, USA 2019, Regie: Melina Matsoukas.