Heft 1/2021 - Netzteil
In ihrer performativen Medienkunst spekuliert Lauren Lee McCarthy über die Auswirkungen von Überwachung und Automation auf die Menschen. Die Corona-Pandemie macht ihre Fragen noch dringlicher.
Vor Covid wäre dieser Text über Lauren Lee McCarthy sicher anders ausgefallen. Die Pandemie hat den Blick auf die Arbeiten der US-amerikanischen Künstlerin verändert, zum Beispiel den auf I. A. Suzie (2019, zusammen mit David Leonard). In der einwöchigen Performance fragte sie: Was wäre, wenn Smart-Home-Systeme wie Amazon Alexa oder Google Home die Care-Arbeit für SeniorInnen übernähmen? Könnten sie Familie und Pflegende ersetzen? McCarthy schlüpfte selbst in die Rolle der KI, beobachtete die 80-jährige Mary Ann in deren Haus über mehrere 360-Grad-Kameras, sprach mit ihr, steuerte die Beleuchtung und Geräte. Angesichts von Millionen isolierter alter Menschen ist das plötzlich ein wahrscheinliches Szenario.
Zusammen mit Facebook, Apple und Microsoft gehören Amazon und Google zu den fünf derzeit mächtigsten Unternehmen der Welt. Ihr Wettbewerb um Überwachungserträge ziele auf unsere Körper, auf unsere Kinder, unser Zuhause, unsere Städte, warnt Shoshana Zuboff, und fordere so in einer gewaltigen Schlacht um Macht und Profit die menschliche Autonomie und demokratische Souveränität heraus.1 Zuboff prägte dafür den Begriff des Überwachungskapitalismus.
Und jetzt die Pandemie. Private Kommunikation, Arbeit, sogar Arztbesuche finden virtuell statt, mithilfe von Produkten der großen kalifornischen Tech-Unternehmen. Sie alle konnten ihre Umsätze 2020 massiv steigern. „Wir sind darauf angewiesen, schnell zu kommunizieren. Die Produkte dafür werden im Eiltempo auf den Markt geworfen und eingesetzt. Da bleibt kaum Zeit, um über Datenschutz nachzudenken“, sagt McCarthy per Videotelefonat von Lockdown (Los Angeles) zu Lockdown (Berlin).
Alarmierend ist auch der weltweite Einsatz digitaler Technologien, um die Pandemie unter Kontrolle zu bringen. Smartphone-Apps sammeln biometrische und geografische Daten, automatisieren die Kontaktverfolgung. Gesichtserkennungskameras helfen, Quarantänen durchzusetzen: So weiten Staaten wie Russland oder China ihren Überwachungsapparat aus. Die Organisation Freedom House, die jährlich über die Entwicklung digitaler Rechte berichtet, warnt: Stein für Stein legten Regierungen und Unternehmen in Reaktion auf die öffentliche Gesundheitskrise ein Fundament für den Überwachungsstaat von morgen.2
Steuern wir auf eine perfekte Disziplinierung der Körper durch Überwachung zu, wie Michel Foucault sie beschrieb? Sein Kapitel über den „Panoptismus“ begann er mit einem Vergleich zur abgeriegelten Stadt während der Pest im 17. Jahrhundert, die zur Gänze von „Hierarchie und Überwachung“ durchdrungen war.3 In der Peststadt zeigten sich die in ihren Häusern eingesperrten BürgerInnen einmal am Tag zur Kontrolle am Fenster. In Indien müssen Menschen in Quarantäne heute den Behörden täglich Selfies mit Geodaten schicken. Einmal implementierte Instrumente zur Überwachung, warnt Freedom House, blieben in der Regel bestehen, auch wenn die Gefahr, die ihre Implementierung begründete, gebannt sei.4
Amazon Alexa ist in hübsch gestaltete Lautsprecherboxen integriert. Per Spracheingabe wählt das System Musik aus oder steuert Geräte: Lampen, Stecker, Sensoren, Türschlösser. Kaufe man sich einen Toaster, so McCarthy, wisse man: Er toastet. Die Software in Geräten wie Alexa aber könne sich kontinuierlich aktualisieren, sich verändern und auch ohne das Wissen der NutzerInnen deren Zuhause abhören oder Geräte kontrollieren. „Ich versuche, das mit Metaphern greifbarer zu machen. Natürlich könnte ich sagen: Deine Daten gehen jetzt durch ein Amazon-Datenzentrum. Wenn dich aber eine echte Person beobachtet, verstehst du das besser.“
Auch für ihr Projekt Lauren (seit 2017) schlüpft die Künstlerin in die Rolle der KI. Sie installiert auf Einladung Interessierter Kameras, Mikrofone und verschiedene Geräte in deren Wohnungen und Häusern, überwacht sie für drei Tage aus der Ferne, führt Anweisungen aus (dimmt das Licht, wechselt den Song), bietet sich aber auch als Gesprächspartnerin an.
Im Verlauf der Performance entwickelt sich bisweilen auch freundschaftliche Nähe zwischen der Künstlerin und den Beobachteten. Gefühle, das sind im Überwachungskapitalismus vor allem Ressourcen. Sie zu erheben oder gar zu beeinflussen, ist ein gewinnbringendes Geschäftsmodell. Nachdem Diskussionen zu Studien von Facebook aufgekommen waren, in denen das Unternehmen untersuchte, wie von Algorithmen gesteuerte negative und positive Inhalte die Stimmung von NutzerInnen manipulierten, reagierte McCarthy mit dem Facebook Mood Manipulator (2014). Es ist dies eine Browser-Erweiterung, mit deren Hilfe NutzerInnen auswählen können, wie sie sich fühlen möchten, und ihren Feed entsprechend filtern.
Kurz vor Weihnachten 2020 boomten in Los Angeles genauso wie in Berlin Corona-Schnelltests. In den Geschäftsbedingungen eines US-amerikanischen Anbieters fand McCarthy den Hinweis, dass die erhobenen Daten samt DNA für Forschungszwecke verwendet würden. „Bioüberwachung – vermutlich ist das die nächste Grenze, die überschritten wird“, sagt sie und erinnert an 23andMe, eine von Google finanzierte kalifornische Privatfirma. KundInnen schicken eine Speichelprobe an die Firma und erhalten eine DNA-Analyse per App. So sollen sie sich über Herkunft und gesundheitliche Risiken informieren können. Vor allem aber werden ihre Gendaten an die Pharmaforschung verkauft.
Es fühle sich so an, sagt McCarthy, als hätten wir den Geist gerade erst aus der Flasche gelassen. Zurück bekämen wir ihn nicht mehr. „Die Frage ist nun, wie wir uns kritisch und bedacht vorwärtsbewegen. Dafür brauchen wir ein Gefühl von agency: handlungsfähig sein, das Wissen, dass man Technologien hacken oder unterwandern kann.“ McCarthys vielleicht wichtigstes Projekt ist p5.js (seit 2013), eine Open-Source-Plattform mit über 1,5 Millionen NutzerInnen, die es ermöglicht, selbst visuelle Inhalte für das Web zu schaffen. McCarthy engagiert sich damit auch in der Processing Foundation. Diese verhilft Menschen zu Medienkompetenz, die historisch kaum Zugang zu Technologien, Programmieren oder Kunst hatten.
Auch in der Pandemie sind jene benachteiligt, die am verletzlichsten sind. Laut Freedom House müssen zum Beispiel die unter schlechten Bedingungen untergebrachten ArbeitsmigrantInnen Singapurs eine App zur Kontaktverfolgung nutzen und damit ihren Gesundheitszustand melden, andere EinwohnerInnen jedoch nicht.5 Digitale Technologien verstärken Ungleichheiten und repräsentierten vorhandene Machtstrukturen, das wird in der Pandemie einmal mehr deutlich. „Technologien sind nie neutral“, betont McCarthy, „die Werte und Überzeugungen ihrer ErschafferInnen sind stets in sie eingelassen.“
Auf den Ausbruch der Pandemie reagierte McCarthy mit einer Reihe von Arbeiten. Eine davon ist die Performance I Heard Talking Is Dangerous (2020). Eine App transferiert getippten Text in vom Smartphone gesprochene (und zum Mitlesen über den Bildschirm laufende) Sprache. Die Künstlerin tauchte vor Türen auf und erklärte mithilfe der App, sie habe gehört, Abstand und Maske seien nicht mehr genug, die Empfehlung sei nun, nicht mehr miteinander zu sprechen. Auch das: ein gar nicht so unwahrscheinliches Szenario.
Silvia Federici mahnte kürzlich: Nach Hunderten Jahren eines Systems, das Individualisierung als Stärke verkauft und uns trainiert, andere als Bedrohung zu sehen, steigere die Covid-Krise nun die Angst voreinander. Individualisierung führe dazu, die Möglichkeit der Zusammenarbeit aus dem Blick zu verlieren und somit leichter beherrscht werden zu können. Zwar müsse man sich in der Pandemie notwendig isolieren, doch käme es künftig darauf an, Individualisierung zu überwinden.6 Auch der Erfolg des von Foucault beschriebenen, auf panoptischer Überwachung beruhenden Machtsystems wurde erst durch die Vereinzelung der Menschen möglich. So könnte man McCarthys Performance als Aufruf lesen, in der Pandemie nach Lösungen für ein Miteinander zu suchen – ein Miteinander, das sich als medien- und technologiekompetenter Widerstand denken lässt.
[1] Vgl. Shoshana Zuboff, Im Zeitalter des Überwachungskapitalismus; https://netzpolitik.org/2019/im-zeitalter-des-ueberwachungskapitalismus/ (Übersetzung eines Vortrags vom 11. Oktober 2018).
[2] Vgl. Allie Funk/Adrian Shahbaz, False Panacea: Abusive Surveillance in the Name of Public Health, 2020; https://freedomhouse.org/report/report-sub-page/2020/false-panacea-abusive-surveillance-name-public-health.
[3] Vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Frankfurt am Main 2016, S. 255.
[4] Vgl. Funk/Shahbaz, False Panacea.
[5] Vgl. ebd.
[6] Vgl. Silvia Federici, Commons und Utopie, Vortrag im Rahmen von Utopie. Konferenz für praktische Kritik, 9. Oktober 2020, Forum Stadtpark, Graz, in Zusammenarbeit mit dem steirischen herbst ’20; https://www.paranoia-tv.com/de/program/content/357-silvia-federici-commons-und-utopie.