Eigentlich absurd, ja geradezu widersinnig – in Zeiten, in denen alles der Pandemiebekämpfung untergeordnet ist, über Geschichte debattieren zu wollen. Als ob die gegenwärtige Herausforderung, einen adäquaten Umgang mit der nicht mehr so schnell verschwindenden viralen Bedrohung zu finden, nicht schon groß genug wäre. Insofern scheint es fast rührend, wenn vielerorts Bilder einer Zeit nach der Pandemie beschworen werden – als ließe sich jemals wieder, nahtlos und ungebrochen, dort ansetzen, wo man vor dem großen Ausbruch stand.
Was auf Umwegen dann doch wieder zum Thema Geschichte bzw. zu der Frage führt, wie man ihren Widrigkeiten und Unwägbarkeiten am besten begegnen sollte. Lange Zeit konnte man sich – durchaus Erfolg versprechend – am Phantasma der Machbarkeit von Geschichte orientieren: „History in the making“, als müssten nur die richtigen Weichenstellungen hier und jetzt vorgenommen werden, um eine freiere, ja eine universell geltende Zukunft zu ermöglichen. Dem widersprach immer schon die Tatsache, dass für menschliche AkteurInnen bei diesem intendierten „Machen“ ganz viel nicht verfügbar ist. Dass, anders gesagt, Geschichtlichkeit – Stichwort Pandemie oder auch Klima – stets zu einem Gutteil von Faktoren mitbestimmt ist, die jenseits oder unterhalb menschlicher Handlungsfähigkeit angesiedelt sind. Was wohlgemerkt nicht bedeutet, dass jedem Gegensteuern gegen unliebsame Entwicklungen generell eine Absage erteilt werden sollte.
Auf die Vergangenheit umgemünzt scheint dies alles noch viel schwieriger, sind doch die irgendwann einmal den Geschichtsverlauf beeinflussenden Stellgrößen heute in weite Ferne gerückt. Dennoch zeichnet sich hier ein weites Spektrum nachträglichen Machens und versuchten In-Ordnung-Bringens ab. Von Wiedergutmachung, sogenannter Vergangenheitsbewältigung bis hin zur Rückerstattung von Raubgut und ökonomischer Reparation reicht die Spannweite solch hochlegitimer Ansprüche – in ihrer Legitimität stets auch abhängig davon, wer von wem was genau reklamiert.
Und doch tun sich hier zahlreiche Problemfelder auf. So scheint die in vielen Bereichen erhobene Forderung nach „care and repair“ an klare Grenzen zu stoßen, wenn es um die für unterschiedliche Beteiligte nie ganz gleichen Nachwirkungen von Geschichte geht. Nicht nur lässt sich historisches Unrecht, ganz zu schweigen von veritablen geschichtlichen Katastrophen, niemals mehr ungeschehen machen. Auch geraten Aufrufe zu Wiedergutmachung und Versöhnung vielfach zu nachträglichen Linderungsversuchen, die an den Ausgangsszenarien wenig bis nichts mehr ändern können. In dieser Hinsicht stellt das Ansinnen einer Reparation, die selbst ein weites Spektrum von realer Schadensbehebung und Kompensation bis hin zur Heilung erlittener (physischer wie psychischer) Verwundungen abdeckt, ein durchaus probates Mittel der Geschichtskorrektur dar. Zugleich werden damit aber auch problematische Aspekte berührt wie eine oft ausschnitthafte, partikulare historische Perspektive, das unweigerliche Zuspätkommen geschichtsaktiven Handelns oder die Festschreibung ganzer Bevölkerungsgruppen auf einen unliebsamen Opferstatus. All dies sollte jedoch nicht davon ablenken, dass reale Traumata und deren Folgeerscheinungen Symptome eines unrechtmäßigen oder antagonistischen Geschichtsverlaufs sind.
Zuletzt hat die Debatte um historisch prolongiertes Unrecht und entsprechende Reparation durch anhaltende rassistische Gewalt, vielerorts stattfindende Denkmalstürme oder die Tilgung belasteter Geschichtszeichen und Namen neuen Zündstoff erhalten. Dass dabei stets auch die historischen Komplexe von Kolonialismus, Sklaverei, Unrechtsregimen und deren Nachwirkungen in der Gegenwart mitverhandelt werden, steht außer Frage. Ob dies umgekehrt aber auch zu einem gerechteren Status quo oder einer emanzipierteren Zukunft führt, ist der entscheidende Einsatz, um den es hier geht. Grund genug jedenfalls, um die anhaltenden Prozesse einer intendierten Geschichtskorrektur einer kritischen Befragung zu unterziehen. Grund genug auch, um nach den Bedingungen tatsächlich gelingender Geschichtsreparatur zu fragen.
So spekuliert Saidiya Hartman in ihrem Beitrag, wie sie dies auch in ihrem letzten Buch Wayward Lives, Beautiful Experiments getan hat, offen über ein Ende der White Supremacy. Anhand der eingehenden Lektüre von W. E. B. Du Bois’ Kurzgeschichte „Der Komet“, verfasst inmitten der Spanischen-Grippe-Pandemie vor 100 Jahren, lädt Hartman zu einem bestechenden Gedankenexperiment darüber ein, was es bräuchte, um die auch heute noch virulente weiße rassistische Vorherrschaft zu überwinden.
Dass die Gegenwart anders gebaut ist, wissen wir, nicht erst seit den Ereignissen rund um die US-amerikanische Kapitolerstürmung am 6. Januar. Ana Teixeira Pinto nimmt dies zum Anlass, um über die schleichende Entpolitisierung (und primäre Kriminalisierung) von rassistischer Gewalt zu reflektieren. Ihr Befund, der sich nicht zuletzt auch auf den in Kunstkreisen gepflogenen Trend zu historischen Tribunalen stützt, ist insofern ernüchternd, als die langen Nachwehen des Siedlerkolonialismus aktuell immer weniger als politische Kraft wahrgenommen werden. In eine ähnliche Kerbe schlägt der Beitrag von Gislind Nabakowski, der die rechtsnationalistischen Umtriebe mit Elsa Dorlins Philosophie der Gewalt gegenliest und solcherart Kriterien für eine wirkmächtige Geschichtskorrektur herausarbeitet.
Wie sich eine katastrophale Vergangenheit in Richtung eines radikalen Futurismus umcodieren lässt, demonstriert T. J. Demos eindrucksvoll anhand dreier künstlerischer Arbeiten von Thirza Cuthand,
Black Quantum Futurism und The Otolith Group. Auch Jochen Becker befasst sich anhand einer Gedenkausstellung zu Ehren der afroamerikanischen Philosophin und Aktivistin Angela Davis mit Fragen der historischen und kulturellen Übersetzbarkeit – vor allem was das Verhältnis zwischen Black Power und dem Staatssozialismus der ehemaligen DDR (wo Davis in den 1970er-Jahren als Heroine gefeiert wurde) betrifft. Weitere Beiträge, etwa Julian Warners Reflexion über Schwarzsein in Deutschland oder Dierk Schmidts visuelle Kommentare zur Restitutionsdebatte, ergänzen das Spektrum des hier ausgerollten, höchst vielfältigen Fragenkatalogs.
Ob sich der globale Totalschaden der Pandemie damit in irgendeiner Form lindern lässt? Wohl kaum. Ob so ein besseres Verständnis historischer Gegenläufigkeiten und Disparitäten befördert werden kann? Das hoffen wir allemal.