Heft 1/2021 - Geschichte reparieren
„Die Arena der Menschenrechte ist der Gerichtssaal, genauer gesagt das Tribunal zur Aufklärung von Gräueltaten. Werden Gräueltaten begangen, machen MenschenrechtsaktivistInnen die Schuldigen ausfindig, benennen und beschämen sie, stecken sie vielleicht sogar ins Gefängnis. Allerdings versuchen diese AktivistInnen nur selten zu verstehen, warum diese Gräueltaten geschehen sind oder was sie uns über die politische Gemeinschaft sagen. Menschenrechte ignorieren den historischen Hintergrund, entpolitisieren dadurch die Gewalt und behandeln diese als rein kriminell. Wenn Gewalt bloß kriminell ist, können wir sie nur als Folge einer individuellen Pathologie sehen und nicht als politische Konsequenz, die eine politische Lösung erfordert.“
Mahmood Mamdani, Neither Settler nor Native, 2020
Am 6. Januar 2021 stürmte ein weißer Mob das Kapitol der Vereinigten Staaten mit dem Ziel, die Präsidentschaftswahlen zu kippen. Als ich CNN einschaltete, hörte ich als Erstes die Worte: „So sind wir nicht!“ Hier in Lissabon, wo ich geboren wurde, klingen diese Worte fadenscheinig. 1975 haben die USA versucht, die Nelkenrevolution zu stürzen, die gerade das faschistische Regime verdrängt hatte. Pinochets Putsch 1973 in Chile lieferte Henry Kissinger, dem damaligen nationalen Sicherheitsberater, die Blaupause für eine bewaffnete Intervention in Portugal. Aber ich möchte das hier gar nicht weiter ausführen, die Verwicklung der USA in Regimewechsel, sei sie offen oder verdeckt, ist hinlänglich bekannt. Vielmehr möchte ich darauf verweisen, dass das, was am 6. Januar geschah, Aufschluss über den Zusammenhang zwischen Faschismus und Siedlerkolonialismus geben könnte.
Trump ist keine Ausnahmeerscheinung. Richard Nixon wurde 1968 zum Präsidenten gewählt, weil die vorherigen Amtsinhaber John F. Kennedy und Lyndon B. Johnson – wenn auch widerwillig – auf die Forderungen von Schwarzen eingingen und erste Vorstöße in Richtung Aufhebung der Rassentrennung machten. Die sogenannte Südstaatenstrategie ist ein Euphemismus für weiße Vorherrschaft: Aus Angst vor dem Ende der seit der Reconstruction bestehenden rassistischen Ordnung der Lebensverhältnisse lehnte die weiße Wählerschaft die Demokratische Partei und damit auch die Idee einer Bundesregierung ab. Die Bürgerrechtsbewegung erstarkte in dem Maße, in dem die weiße Opposition gegen Bundesprogramme an Zuspruch gewann, und die Unterstützung für eine kleine Bundesverwaltung führte schließlich dazu, dass Ronald Reagan 1980 Präsident wurde.
Unter denen, die das Kapitol erstürmten, waren etliche, die Konföderiertenflaggen schwenkten und Tierfelle oder auch gehörnte Kopfbedeckungen trugen, die an den Wilden Westen erinnerten; die New York Times sprach von einer „Aggression im Faschingskostüm“. Dieses karnevaleske Element – ein entscheidendes Merkmal der ideologischen Bewegung, die als „Alt-Right“ bekannt ist – brachte andere MeinungsmacherInnen dazu, die humorlose Absicht der Menge zu ignorieren und die Verwendung von Begriffen wie „Putsch“ oder „Aufstand“ zu verurteilen.1 Die Invasion der Hauptstadt war ihrer Ansicht nach ein „Pseudo-Ereignis“, ein Ausbruch unorganisierter, unkonzentrierter Wut oder eine Cosplay-Revolution.
Diese beiden Positionen – die eine ruft nach Strafverfolgung, während die andere dies als „Verfolgungshysterie“ verhöhnt – mögen gegensätzlich erscheinen, schließen sich gegenseitig aber nicht aus: Beide betrachten den Angriff auf das Kapitol als einen Moment rechtswidriger Gewalt, einen Ausbruch von Irrationalität, der in den öffentlichen Raum überschwappt und das bürgerliche Publikum überrollt. Sie unterscheiden sich lediglich in der Frage, ob man die TäterInnen bestrafen oder sich nur über ihre Unfähigkeit lustig machen sollte. Weiße Vorherrschaft, so Charles W. Mills, „erscheint nie als politisches System“, sie bildet lediglich die Kulisse, vor der sich „andere Systeme“ abspielen, „die wir als politisch ansehen sollen“2. Indem beide Positionen die Gewalt ausblenden, entpolitisieren sie diese und verschleiern die strukturbildende Kraft des Rassenkonstrukts in der amerikanischen Politik – in einem Land, dessen Gründung verknüpft ist mit einem Krieg, der geführt wurde, um die Sklaverei als Institution zu bewahren,3 und mit einem Genozid an der indigenen Bevölkerung.
Beim Kolonialismus handelt es sich, wie Nikhil Pal Singh meint, nicht um etwas, das in unserer Vergangenheit passiert ist, sondern um einen expansiven Prozess, der sich immer weiter vor- und nach außen bewegt, formelle und informelle Herrschaft strukturiert und die unterschiedliche Verteilung von Nutzen und Lasten vorgibt. Obwohl die USA den Faschismus nicht als natürlichen Bestandteil ihrer politischen Kultur betrachten, so Singh, sind viele der Elemente, die den Faschismus definieren, Teil der Konflikte, die mit der Ausdehnung der Grenzen, der Sklaverei und der Verdrängung der indigenen Bevölkerung einhergingen. In abgewandelter Form kehren sie immer wieder zurück, und das bis in die Gegenwart. Das sei der Grund dafür, so Singh weiter, dass „die liberale Demokratie in den Vereinigten Staaten immer eine sehr angespannte und eingeschränkte Institution war, beherrscht von einer Reihe von Ausnahmen, welche aus dem Erbe des Siedlerkolonialismus, der Sklaverei und der Jim-Crow-Gesetze hervorgegangen sind“.4 Auch in Europa ist die Demokratie nicht das absolute Gegenteil von Totalitarismus, sondern kann eine totalitäre Dimension in sich tragen, indem sie unterscheidet zwischen denen, die das Gesetz schützt, aber nicht bindet, und denen, die das Gesetz bindet, aber nicht schützt; zwischen denen, die von der Haftung ausgenommen sind, und denen, die staatlichem oder staatlich sanktioniertem Terror ausgesetzt sind, egal, ob dies heißt, dass sie von rassistischer Unterdrückung im Inland und von kolonialer Gewalt im Ausland betroffen sind.
Es gibt jedoch eine lange wissenschaftliche Tradition, nach der Faschismus eine Sache der Unvernunft ist, eine geistige Pathologie sozusagen. Wie Mahmood Mamdani in Neither Settler nor Native ausführt, haben die Alliierten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg eine neue Sichtweise des Nationalsozialismus entwickelt, indem sie diesen fortan weniger als „politisches Projekt“ denn als „Anhäufung individueller Verbrechen“ betrachteten. Indem sie sich auf die Gräueltaten konzentrierten, konnten die Sieger den Nationalsozialismus „als Verbrechen von Hunderttausenden, ja Millionen von Individuen“ begreifen und Gerechtigkeit für seine Opfer fordern. Die Entnazifizierung wurde somit eher zu einem „Bemühen um Strafe als um politische Transformation“5. Die gleiche Tendenz zur Individualisierung und Pathologisierung politischer Gewalt liegt auch den viel gelesenen, 1950 veröffentlichten Studien zum autoritären Charakter von Theodor W. Adorno, Else Frenkel-Brunswik, Daniel Levinson und Nevitt Sanford zugrunde, deren Forscherteam die sogenannte F-Skala (Faschismusskala) als Maßstab für die psychische Veranlagung zum Faschismus unter demokratischen BürgerInnen entwickelte und populär machte.
Auf der Grundlage derartiger Kriterien zur Identifizierung faschistischer Wesenszüge herrschte in der Nachkriegszeit weitgehend Einigkeit darüber, dass der Faschismus ein Persönlichkeitsmerkmal sei, das aus der „Entartung“ des individuierten und autonomen liberalen Subjekts in einen irrationalen, rasenden Mob resultiere. In seinem oft zitierten Essay Der ewige Faschismus untermauerte der italienische Theoretiker Umberto Eco diese Ansicht, indem er argumentierte, dass „Mussolini überhaupt keine Philosophie, sondern nur eine Rhetorik hatte“. Viele AutorInnen schlossen sich seiner Meinung an und vertraten die Ansicht, dass der Faschismus weder eine politische Ideologie noch eine Ideologie an sich besitze. Um es mit den Worten von Barbara Spackman zu sagen: „Es gab im Faschismus keine Ideen und damit auch keinen Appell an die Vernunft, es gab nur Rhetorik und hinter dieser Rhetorik die zunächst illegale und dann staatliche Gewalt.“ Vernunft und Rationalität spielten nach dieser Darstellung „im Faschismus keine Rolle“6. Maßgeblich ist hier die Logik, die auch den Nürnberger Prozessen zugrunde lag: Die Einzigartigkeit des Holocausts beruht auf seiner Irrationalität, und seine Irrationalität erschließt sich aus der grausamen Natur der begangenen Verbrechen.
Der Prozess der Entnazifizierung behandelte, um Mamdanis These hier aufzugreifen, die Gräueltaten der Nazis als Formen krimineller statt politischer Gewalt, wodurch der Nationalsozialismus abgekoppelt wurde von anderen Modalitäten des Nationalismus bzw. seinem Vermächtnis von außergerichtlichen Tötungen, Deportationen, ungleicher Ressourcenzuteilung, rassifizierter Staatsbürgerschaft oder der Aufwiegelung mörderischer Mobs. Die Beziehung zwischen Siedlerkolonialismus und Faschismus wurde weiterhin nur unzureichend theoretisiert und verstanden und das Politische während des Kalten Kriegs auf einen epischen Kampf zwischen den Kräften der Freiheit und denen der Unfreiheit reduziert. Dies erlaubte es dem Westen, die koloniale Frage und die Kämpfe der Dritten Welt auszublenden und Faschismus und Kommunismus letztendlich unter der pauschalen Bezeichnung „Despotismus“ oder „Totalitarismus“ zu vereinen. Mit der Zeit wurde der Faschismus zu einem weiteren Gattungsbegriff, um ein undifferenziertes Übel zu bezeichnen, und in der Nachkriegszeit einigte man sich auf die Vorstellung, der Faschismus sei eine Negation oder Verzerrung der Moderne und nicht eines ihrer konstituierenden Merkmale.
Aber der Faschismus ist kein psychologisches Phänomen, und er ist auch nicht anormal oder irrational. Faschismus ist ein strukturbildender Aspekt der Moderne. Der moderne Nationalstaat, so Mamdani, entstand 1492, als die kastilische Monarchie versuchte, ein christliches Gemeinwesen zu errichten, indem sie MaurInnen und JüdInnen vertrieb. Der Nationalismus, so behauptet er, „ging weder dem Kolonialismus voraus, noch war der Kolonialismus die höchste oder letzte Stufe in der Schaffung einer Nation. Die beiden sind gleichzeitig entstanden. Die Geburt der modernen Nation inmitten von ethnischen Säuberungen und Überseeherrschaft lehrt uns etwas Neues über die politische Moderne: Sie ist weniger ein Motor der Toleranz als der Eroberung.“7 Wenn man von der Singularität des Holocausts aufgrund der irrationalen Natur der begangenen Verbrechen spricht, sagt man damit nichts anderes, als dass man die koloniale Logik als Grundlage einer bestimmten Handlungsweise akzeptiert, unabhängig davon, dass diese mit einem Genozid endete. Was in Europa „Faschismus“ genannt werde, so Aimé Césaire in seinem Essay Über den Kolonialismus, sei lediglich koloniale Gewalt, die nach Hause zurückkehre.
Individualisierte Gewalt
Die Tendenz, Gewalt als kriminell und nicht als politisch zu betrachten, um auf Mamdanis Argument zurückzukommen, hat mit der Ende der 1980er-Jahre aufkommenden Vorstellung vom „Ende der Geschichte“8 zu tun, die die breite kulturelle Konvergenz einer iterativen liberalen Ökonomie als endgültige Form menschlicher Regierung durchsetzte. Da durch den Markt ermöglichter Wohlstand und ungebremstes Wachstum uns von politischem Zwist und ideologischem Antagonismus befreien würden, sei die Ära der „gesetzgebenden (politischen) Gewalt zu Ende“9. Alle Gewalt sollte von nun an als kriminell erscheinen. Das Rechtsforum, das, vermutlich wegen seines theatralischen Potenzials, für die zeitgenössischen Kunstschaffenden so attraktiv ist, trat an die Stelle des Kampfs für soziale Gerechtigkeit. Aber TäterInnen ausfindig zu machen und vor Gericht zu bringen, sei es buchstäblich vor den Internationalen Strafgerichtshof oder performativ in zeitgenössischen Kunstinstitutionen, individualisiert die Gewalt und löst sie aus dem größeren historischen Kontext, aus dem sie hervorgeht. Obwohl die Wahl des Begriffs „Tribunal“ in einem Projekt wie dem NSU-Tribunal10 an sich schon eine Anklage gegen das deutsche Justizsystem und dessen Versuch ist, den Staat vor einer genaueren Überprüfung abzuschotten, gleiten parajuristische Projekte wie Milo Raus Kongo-Tribunal, so Sven Lütticken,11 in exzessive Personalisierung ab und haben Mühe, die rassistische Dimension der Geopolitik, die der Plünderung im Kongo zugrunde liegt, miteinzubeziehen: Sie lagern die Schuld aus, indem sie das Weißsein dezentrieren, um es dann über das abstoßende Bild vom weißen Erlöser wieder in den Mittelpunkt zu rücken, was genau die Strategie der Werteextraktion dupliziert, die der Film infrage stellen möchte.
Die Logik der Kriminalisierung ist die Logik der Schuld, und Schuld spricht die Sprache der Reue. In den letzten Jahren ist es üblich geworden, sich ausgiebig für weiße Privilegien zu entschuldigen – natürlich gibt es weiße Privilegien, und diese bringen eine Menge unverdienter Vorteile mit sich –, aber es besteht ein feiner, wenn auch beträchtlicher Unterschied zwischen Sühne und Wiedergutmachung. Die Kolonialmächte des Westens haben weder geplünderten afrikanischen Staaten noch versklavten AfrikanerInnen oder deren Nachkommen je irgendeine Form von Wiedergutmachung angeboten. Stattdessen zahlte Großbritannien Reparationen an weiße SklavenhalterInnen (britische SteuerzahlerInnen haben bis 2015 Entschädigungen an Sklavenhalterfamilien gezahlt, was bedeutet, dass die Nachkommen der Versklavten, die selbst nie entschädigt wurden, weiter zur Bereicherung der ehemaligen SklavenhalterInnen beitrugen). Frankreich zwang Haiti nach dessen erfolgreichem Aufstand, die damalige Entsprechung von rund 20 Milliarden Euro als Entschädigung für entgangene Einnahmen zu zahlen, ein Betrag, für den der Inselstaat Kredite aufnehmen musste, an dessen Zinsen er noch bis 1947 zu zahlen hatte. Zwar gelobte Emmanuel Macron, geplünderte afrikanische Artefakte zu restituieren, doch gibt es keine öffentliche Debatte über den CFA-Franc, der Ende des Zweiten Weltkriegs geschaffen wurde und Frankreichs ehemalige afrikanische Kolonien nach wie vor in einem neokolonialen wirtschaftlichen Würgegriff hält. Dekolonisierung ist keine Metapher, wie Eve Tuck und K. Wayne Yang betonen, während sie sich fragen, „ob eine weitere Maßnahme der SiedlerInnen zur Erreichung der Unschuld darin besteht, sich auf die Dekolonisierung des Geistes oder die Kultivierung eines kritischen Bewusstseins zu konzentrieren, als ob dies die einzige Aktivität der Dekolonisierung wäre, und zuzulassen, dass die Bewusstseinsbildung an die Stelle der unbequemeren Aufgabe tritt, gestohlenes Land aufzugeben.“12
Der Karneval im Kapitol steht offen zu seiner Fetischisierung der Sache der Konföderation, die darin bestand, das System der Sklaverei zu bewahren, und dem Kult des an der Grenze zwischen Zivilisation und Wildnis lebenden frontiersman, dessen Vermächtnis der Genozid an der indigenen Bevölkerung war. Das sollte ernst genommen werden, aber der Verfolgungseifer, der sich, unter der Anprangerung von Rassismus zur besten Sendezeit, gegen Trump und seine UnterstützerInnen richtet, verkennt, dass dieser Rassismus produktiv ist, dass er nicht nur weißen Wohlstand, sondern auch imperiale Hegemonie hervorgebracht hat, und dass diejenigen, die ihn beklagen, zugleich seine Vorteile genießen. Diejenigen wiederum, die behaupten, das Kapitol sei von AnhängerInnen der verrückten QAnon-Sekte und nicht von einer politischen Bewegung gestürmt worden, ignorieren, dass Wut so wie alle Emotionen durch Konzepte und Ideen gefiltert wird und dass das Anliegen der QAnon-Verschwörung politisch ist. Ihr Ziel ist eine politische (Neu-)Ordnung, in der alle, die keine „echten AmerikanerInnen“ sind, aus der Gemeinschaft entfernt werden, und das buchstäblich durch die Hinrichtung aller, die sich ihrem autoritären Programm widersetzen. Es ist kein Zufall, dass QAnon außerhalb der USA die meisten AnhängerInnen in Deutschland gefunden hat, einem Land, dessen nationale Identität auf der Opposition zwischen abstrakten und konkreten Formen des Kapitals, der Verherrlichung der Industrie und der Verunglimpfung der Finanzspekulation beruht und, im weiteren Sinne, deren Personifizierung in der Figur des „internationalen Judentums“, wobei der Antisemitismus QAnon in Deutschland weitere AnhängerInnen zuführt. Ebenso wenig ist es ein Zufall, dass das Wiederaufleben antisemitischer Tropen Hand in Hand geht mit der Angstmacherei vor einer umgekehrten Kolonisierung und der bevorstehenden Unterwerfung der Weißen.
Die Frage der Gewalt ist hier entscheidend. Wenn wir den Angriff auf das Kapitol als kriminelle, also gesetzwidrige Gewalt verstehen und nicht als politische, also gesetzbildende Gewalt, bleiben die Logik, die diese Gewalt hervorbringt, und die Institutionen, die sie aufrechterhalten, unangetastet. Macht sei es, schreibt Walter Benjamin, und nicht der „überschwenglichste Gewinn an Besitz, der von aller rechtsetzenden Gewalt gewährleistet werden soll“13. Es spielt keine Rolle, dass der Putsch nicht erfolgreich war, dass er nicht einmal erfolgreich sein wollte oder keine Strategie für eine effektive Machtergreifung besaß. Die Macht wurde bereits erfolgreich ergriffen, und zwar die Macht, eine (ethno-)nationalstaatsbildende Gewalt wieder denkbar zu machen. Und ohne den Willen, sich mit den rassistischen Schemata auseinanderzusetzen, die den westlichen Demokratien zugrunde liegen, werden partielle oder verzerrte Kapitalismuskritiken weiterhin einen mehrdeutigen Raum eröffnen, in dem sich sehr viele quasi-politische Positionen in Richtung Faschismus verbiegen lassen.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] Siehe beispielsweise https://www.jacobinmag.com/2021/01/q-anon-cult-capitol-hill-riot-trump.
[2] Vgl. Charles W. Mills, The Racial Contract. Ithaca1997, S. 1; www.jstor.org/stable/10.7591/j.ctt5hh1wj.
[3] Im Fall Somerset gegen Stewart kam das Gericht 1772 zu dem Urteil, dass „Sklaverei gegen die britische Verfassung und englisches Gewohnheitsrecht verstößt“. Obwohl seine Bedeutung für die spätere Abschaffung der Sklaverei umstritten ist, verunsicherte der Fall die PlantagenbesitzerInnen in Virginia, die den Aufstand finanzierten, der 1775 zum Unabhängigkeitskrieg führte. Einige der ersten Artikel in der US-Verfassung waren dazu gedacht, die Sklaverei zu schützen. Artikel 1, Abschnitt 9 untersagte es dem Kongress bis 1808, die Einfuhr von SklavInnen zu verbieten, und Artikel 5 verbot, dies zu ändern. Artikel 1, Abschnitt 2, sieht vor, dass versklavte Schwarze in einem Bundesstaat bei der Repräsentation im Kongress als drei Fünftel der Anzahl weißer EinwohnerInnen dieses Staats gezählt werden sollten. Artikel 4, Abschnitt 2 enthält die „Klausel für flüchtige Sklaven“, nach der entlaufene SklavInnen an ihre BesitzerInnen zurückgegeben werden mussten.
[4] Hier handelt es sich um meine freie Wiedergabe der Ausführungen von Nikhil Pal Singh bei der Diskussion seines Essays The Afterlife of Fascism; https://www.hkw.de/de/programm/projekte/2021/the_white_west_iv/start.php.
[5] Vgl. Mahmood Mamdani, Neither Settler nor Native. Cambridge 2020.
[6] Vgl. Barbara Spackman, Fascist Virilities. Minneapolis 1996, S. 115.
[7] Vgl. Mamdani, ebd.
[8] Die Vorstellung vom „Ende der Geschichte“ geht zurück auf den konservativen Politikwissenschaftler Francis Fukuyama und dessen 1992 erschienenes Buch The End of History and the Last Man. Auf Deutsch erschienen als Das Ende der Geschichte. München 1992.
[9] Vgl. Mamdani, ebd.
[10] https://www.nsu-tribunal.de/
[11] Siehe Sven Lütticken, Actors and Directors, 3. Mai 2018; https://www.textezurkunst.de/articles/actors-and-directors/.
[12] Vgl. Eve Tuck/K. Wayne Yang, Decolonization is not a metaphor, in: Decolonization: Indigeneity, Education, & Society, Vol. 1, Nr. 1, 2012.
[13] Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Frankfurt am Main 1965, S. 57.