In einer eindrücklichen Lecture erwähnte der Poet und Wissenschaftler Sudesh Mishra bei der Konferenz MORE WORLD, veranstaltet von der Berliner Gazette 2019, den iTaukei-Mythos „Die große Flut“. Er handelt von der heiligen Schlange Degei, die jeden Morgen von der Taube geweckt wird, die auf einem Feigenbaum lebt. Degei hat den Menschen ein Handwerk geschenkt: Boote zu bauen. Als die Menschen nun die Taube töten, die den Tagesablauf regelt, um von der Arbeit abzulassen, lässt Degei die Bootsbauer durch eine Sintflut umkommen. Das Riff als neues Habitat des Feigenbaums dient ankommenden Menschen nun als Mahnmal.
Mishra verwies mit dem Mythos auf die Fragilität der Menschen innerhalb des gesamten Gefüges, der Zoē-Assemblage. Zerstörte Zoē-Assemblagen bedeuten für Menschen, dass ihre Willkür gegenüber allem Nichtmenschlichen zum eigenen Scheitern führt.
Nun hat der Mensch im „Kapitalozän“ aber auch begriffen, dass er Mythen erschaffen kann, um den menschengemachten Lauf der Dinge als naturwüchsig oder schicksalshaft zu verklären, während er Ausbeutungs- und Machtverhältnisse verfestigt. Fake-Ideologeme wie die „unsichtbare Hand“ oder ein sich selbst regulierender Markt sind Beispiele einer solchen Delegation von gewollten Marktasymmetrien an höhere Mächte. Genau um diesen wunden Punkt kreist die jüngste Winter School der Berliner Gazette – SILENT WORKS, abgehalten im November 2020. Stille Werke, eine mögliche Übersetzung des Titels, wäre sicher euphemistisch. Verstummte oder mundtote Arbeit trifft es wahrscheinlich besser. SILENT WORKS tritt auf den Plan, weil Künstliche Intelligenz im derzeitigen AI Capitalism die quasigöttliche Funktion übernimmt, während hinter dem gloriosen Schleier einer omnipotenten Computerintelligenz Arbeit zum Verschwinden gebracht wird und Arbeitende weiter entmächtigt werden. Hatte Karl Marx Arbeit einst als Anhängsel der Maschinerie begriffen, so werden Crowdworker, Clickworker und Content-ModeratorInnen inzwischen immer weiter abgehängt. Indes prahlt der KI-Kapitalismus als bisher prometheischste Spielart. Damit die Maschine in vollstem Glanz erstrahlen kann, sollen sich ArbeiterInnen bloß nicht organisieren oder irgendwie anders bemerkbar machen können. Es ist kein sozialdemokratischer Zug, auch wenn Big-Tech-Entrepreneurs inzwischen offensiv für das bedingungslose Grundeinkommen werben. Sie wissen, dass sich wertgeschätzte Arbeit in der Industrie 4.0 auf immer weniger Menschen in immer hochpreisigeren Top Floors konzentriert und dass Arbeitslose und Bullshit-Jobber aber immer noch als passive KonsumentInnen taugen. Der KI-Kapitalismus ist eine getarnte Ohnmachtsfantasie. Diese ist eng verknüpft mit dem Geniekult der Superreichsten, deren Vermögen gerade in der Pandemie rapide wachsen, während sich Ungleichheiten verstärken.
Der KI-Kapitalismus ist ohne die vorausgehende kapitalistische Fantasietätigkeit nicht zu begreifen, heben die Berliner Gazette-MacherInnen Magdalena Taube und Krystian Woznicki hervor. Der Medienwissenschaftler Nick Dyer-Witheford benutzt den Begriff KI-Kapitalismus ebenfalls, um ihn einem ersehnten KI-Kommunismus gegenüberzustellen. Allerdings bezieht sich dieser „real existierende KI-Kapitalismus explizit und ausschließlich auf konkrete Technologien und konkrete Geschäftsmodelle“, sagt Woznicki. Ohne die Fantasie als Vorläufer der Technologie sei der KI-Kapitalismus jedoch nicht zu begreifen. Woznicki geht es auch um die Rückschlüsse, die das für widerständige Positionen ermöglicht. „Künstliche Intelligenz“ und „maschinelles Lernen“ im KI-Kapitalismus seien Vorstellungen wie jene der unsichtbaren Hand des Markts. Die Hände, die die KI programmieren, kontrollieren, warten und rekonfigurieren, gilt es also ebenso sichtbar zu machen wie die psychologische Dimension, die dem KI-Kapitalismus innewohnt. Widerständige KI muss letztlich immer als HI, als Human Intelligence auf Augenhöhe (vor-)gedacht werden.
Viele TeilnehmerInnen von SILENT WORKS wollen die Transformation der Arbeitswelt sichtbar machen und Gegenstrategien entwerfen. Und so schlägt der Ohnmachtsfantasie von Big Tech eine geballte Ladung situationistischer Intelligenz, affirmatives Technologie-Reclaiming und – ja! – aktivistische, kontrafaktische und kollektive Fantasie entgegen. Die Winter School und Konferenz, die im Berliner Haus des Lehrers stattfand, beherbergte auch eine Ausstellung. Pandemiebedingt lief vieles über die Zoom-Alternative BigBlueButton. Die Fülle an Talks, künstlerischen Beiträgen, Workshops und Artikel sowie die Vielzahl der Teilnehmenden sind auf der Website gut dokumentiert.
Der Software-Entwickler Yonathan Miller, der zu den Dauermitwirkenden des Berliner Gazette-Netzwerks gehört, imaginiert in einem Workshop namens Work, Care, and Invisible Organization: Mapping Power and Resistance in 2030 mit vielen anderen ein bis 2030 gegenhegemonial konstituiertes World Care Forum (WCF), eine planetarische Allianz von ArbeiterInnen in Kooperativen und autonomen Zonen. Das WCF tritt an, um einem hypothetischen Ausverkauf von Atemluft durch den immer noch wütenden Plattformkapitalismus zu trotzen.
In einem anderen Workshop namens What if Invisibilized Workers Reclaimed the Future? gehen die Teilnehmenden, darunter auch hvale vale (#feministinternet) und die Commons-Aktivistin Friederike Habermann, davon aus, dass Amazon, ebenfalls 2030, in ein gemeinnütziges Syndikat namens Commazon umgewandelt sein wird. In einem Co-Writing-Prozess werden humorvolle Neuanfänge mit aktivistischen Bezügen aus verschiedensten Ländern formuliert, chatten künftige CommonistInnen und Arbeiterräte ganz selbstverständlich über bessere Bezahlung im Bereich der Care-Arbeit, über andere, nicht staatliche und nicht private Eigentumsformen sowie über lokalere Produktionskreisläufe.
In vielen Beiträgen scheint selbstverständlich, dass der KI-Kapitalismus nicht überwunden werden kann, indem er beschleunigt wird, wie das die AkzelerationistInnen behauptet haben. Es scheint außerdem, dass die Expropriation KI-kapitalistischer Produktionsverhältnisse die Produktivkräfte in der fortschreitenden Klimakrise tendenziell zu „Folk-Maschinen“ schrumpfen lassen wird, um ein Wort von Déborah Danowski und Eduardo Videros de Castro zu verwenden. Und es scheint als die große Leistung von SILENT WORKS, dass das, was während der Pandemie als systemrelevant eine neue, wenn auch nur symbolische Anerkennung bekommen hat, mit in den Fokus der lautlosen Arbeiten gerückt wird. Denn die Aufwertung einer Human General Intelligence, welche einer drohenden Artificial General Intelligence abgetrotzt werden muss, kommt nicht ohne die Aufwertung der Reproduktionsarbeit aus.
Auch die Trickster-AktivistInnen von Peng! haben wieder zugeschlagen, diesmal beim Pandemiekrisengewinner Lieferando. Lieferando-Gründer Jörg Gerbig lässt sich im Gespräch mit Peng! – alias dem „Bundesamt für Krisenschutz und Wirtschaftshilfe“ – dazu hinreißen, einen Gesetzesvorschlag an die Politik zu richten, um die Gründung von Betriebsräten für die rund 3.700 FahrerInnen abzuwenden. Unter der glatten Oberfläche der Lieferando-App wird „die ganze alte Scheiße“ (Karl Marx) sichtbar. Dass mangelnde bis fehlende Arbeitnehmerrechte auch für den indischen Arbeitsmarkt der Content-ModeratorInnen gilt, streicht Sana Ahmad, Forscherin an der Freien Universität Berlin, in ihrem Talk heraus. Das Mundtotmachen von Arbeit ist ein bewährter Entrepreneur-Spirit des globalen Nordens und das genaue Gegenteil von Commons-basierter Gemeinwohlökonomie.
Die heilige Schlange Degei braucht es sicher nicht, um die Menschen, die sich weiter einem herrschaftlichen und ausbeuterischen KI-Kapitalismus andienen, eines Besseren zu belehren. Die nächste Dürre, die nächste Flut sind ohnehin nicht mehr schicksalhaft, sondern menschengemacht. Es wird Zeit, Inhuman Labor als Januskopf zu erkennen: auf der einen Seite als die unmenschlichen Arbeitsbedingungen samt der Unmöglichkeit der prekarisierten LohnarbeiterInnen, KI für emanzipative, nachhaltige und nicht kapitalistische Zwecke einzusetzen; auf der anderen Seite die besagte Ohnmachtsfantasie der Big-Tech-Konzerne, die es als ebensolche zu entlarven gilt. Die Ohnmacht der KI-ArbeiterInnen, KI-NutzerInnen, KI-KonsumentInnen, durch KI Polizierten und der KI-Produktionsmittel Beraubten festigt die Macht der Konzerne. Nur die kollektive Ermächtigung derselben – in Form von sozialen Beziehungsweisen, wie die Autorin Luise Meier hervorhebt – kann die Basis beim Sturz des KI-Kapitalismus bilden. Der Humanismus, der in der humanen Arbeit steckte, wäre dann nur noch „neu zu verzaubern“ (Sylvia Wynter).
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