Heft 1/2021 - Lektüre



Klemens Gruber:

Die polyfrontale Avantgarde Medien und Künste 1912–1936

Wien (Sonderzahl)) 2020 , S. 77 , EUR 25

Text: Peter Kunitzky


Klemens Gruber scheint kein Mann zu sein, der Eigenlob scheut. Sonst würde er seine Arbeit wohl nicht, wie hier im Vorwort geschehen, mit einem in der Speisekammer gut abgehangenen Fasan – also einem edlen Geflügel, einer Spezialität geradezu – vergleichen. Gezwungen wird er zu dieser lukullischen Metapher jedoch vielleicht dadurch, dass dieser Text bereits im Jahr 2004 fertiggestellt war, dann aber durch die „Unbilden der Massenuniversität“ – Gruber ist Professor für Intermedialität am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft in Wien – „in Verstoß [sic] geriet“. Nun hätte man nach einer solch kryptischen Andeutung natürlich gerne etwas mehr über die Editionsgeschichte dieses Buchs erfahren, darüber, warum genau das Manuskript in welche Schublade oder welchen Giftschrank verbannt und gerade jetzt doch wieder hervorgezogen wurde – aber sei’s drum. Problematisch wird dieser horrende Verzug gleichwohl dadurch, dass Gruber ursprünglich der Frage nachgehen wollte, „was die historische Avantgarde zu unserer Zeitgenossin macht“, die Gegenwart dann aber in einem Ausblick, der aus unerfindlichen Gründen nicht modifiziert wurde, obschon das eigentlich ein Leichtes gewesen wäre, mit der ersten Phase der „Harald Schmidt Show“ (1995–2003) und über unsere Bildschirmschoner laufende Männchen gleichgesetzt wird: Da fängt der Fasan dann vielleicht doch etwas zu riechen an.
Aber zum Glück wendet sich Gruber in der Hauptsache ohnehin der Vergangenheit zu, und vor diesem historischen Tribunal werden seine Befunde eben nicht geradewegs als überholt ausgewiesen. Was vor allem mit der von ihm gewählten Methode zu tun hat: Er versagt sich nämlich jede anfechtbare Großthese, verzichtet also klugerweise darauf, dem schier unüberschaubaren Gewimmel und Getriebe der Avantgarde – die hier vorwiegend zu ihrer russischen/sowjetischen Spielart eingedampft wird – mit einer bündelnden Theorie beikommen zu wollen. Mit einem Wort: Er wählt hier nicht den Weg Peter Bürgers, der vor etwa 50 Jahren – und den Blick damals streng gen Westen gerichtet – der Avantgarde (Kollektivsingular!) mit der Zerstörung der Institution Kunst und der Überführung der Kunst in Lebenspraxis ein allgemeingültiges Programm einschreiben wollte; und er folgt auch nicht Boris Groys, der vor etwa 30 Jahren – und thematisch durchaus näherliegend – die provokante Position vertrat, dass Stalin und die russische Avantgarde keineswegs antagonistisch zu fassen sind, sondern sich ganz im Gegenteil darin einig wussten, die Welt, und sei es mit rücksichtsloser Gewalt, umwälzen zu wollen, der eine also ideologisch der anderen sozusagen aufsaß.
Nein, Gruber geht dagegen vergleichsweise leise vor, kasuistisch gewissermaßen, indem er die große unifizierende Geste meidet und uns stattdessen ein „Bilder-Lesebuch“ vorlegt, ein Buch voller „Schlagbilder“, wie er sagt. Das ist zwar ein von Aby Warburg einst geprägter und von Michael Diers just zu der Zeit, als Gruber über seinem Manuskript gesessen haben muss, wieder aktualisierter Begriff, der vorwiegend der politischen Sphäre, genauer der politischen Ikonografie zugehört und in diesem Zusammenhang schon alleine deshalb etwas deplatziert wirkt, weil hier die Politik, die so rigorose Kunstpolitik der Sowjets, bedauerlicherweise so gut wie gar keine Rolle spielt. Was er aber meint, ist Folgendes: In ihnen soll sich eine Stimmung, eine Zeitströmung so sehr verdichten, dass sie letztlich zu einem Emblem gerinnen und mithin schlagend, das heißt unmittelbar eingängig werden. Gruber hebt demnach zuallererst darauf ab, uns etwas zu sehen zu geben, und mit diesem Vorgehen verwandelt er sich – wie bewusst, wagen wir nicht zu beurteilen – die so bemerkenswerte epistemologische Euphorie der damaligen Zeit an. Denn auch die Avantgardisten maßen, behext von den Wahrheitsmaschinen Film- und Fotokamera, der Optik eine Erkenntnisleistung zu, die bis dahin ausschließlich der Vernunft zugestanden wurde. Gruber vertraut dieser Methode in einem solchen Maße, dass die Bilder gleichsam federführend werden und den Text mäandrierend an sich entlanglotsen, was dann in einem durchaus eigenwilligen Denkduktus mündet: sprunghaft, assoziativ, ja vielleicht auch idiosynkratisch; mit der Folge, dass der Reflexionsfluss bisweilen im Nirgendwo zu versiegen droht, viel öfter aber auch zu einer mitreißenden Flut von Entdeckungen und überraschenden Einsichten anzuschwellen vermag.
So wird einem hier etwa auf eindringliche Weise veranschaulicht, wie die Maschinenbegeisterung der russischen Avantgarde, die sie ja mit den italienischen Futuristen teilt, ihre unvermutete Entsprechung in der allgemeinen Maschinenverherrlichung der russischen Bevölkerung findet, wenn diese auf Umzügen den mitgeführten Modellen neuer Medien, seien es Telefone, seien es Zeppeline, regelrecht wie Idolen des Technikzeitalters huldigt (in beidem, der Begeisterung wie der Verherrlichung, hat man übrigens einen Ausfluss der ökonomischen, industriellen Rückständigkeit des damaligen Russlands zu erblicken). Oder wie die Strategie der Avantgarde, die Referenz bzw. das Gegenständliche aus der Kunst zu vertreiben und die jeweilige mediale Struktur der Gattung in reiner Form zu präsentieren, also zur abstrakten Malerei, konkreten Poesie, Geräuschmusik vorzudringen, von den modernen Technologien des Telegrafen, des Telefons und des Grammofons vorbereitet wurde, die ja auch eine einzige Sinneswahrnehmung (Schrift, Stimme, Ton) isolierten. Und genau wegen solch blitzartiger Erleuchtungen lohnt die Lektüre dieses Buchs dann wirklich. Und weniger wegen der (eigentlich ausbleibenden) Antwort auf die eingangs zitierte Leitfrage, die insgeheim wohl ohnehin nur gestellt wurde, um die heutige Avantgarde nicht für tot, das heißt für gestrig erklären zu müssen. So gestrig wie ein Harald Schmidt.