Heft 1/2021 - Geschichte reparieren
Es tönt laut im Untergeschoss der Secession. Zu hören sind teils vertraute, teils schwer zuordenbare Geräusche: Etwas schleift auf dem Boden, irgendwo kracht es – das irritiert, während ein Text über die Spezifika von Ohrenzeugenschaft informiert.
In der Installation After SFX bündelt der britisch-libanesische Künstler Lawrence Abu Hamdan sein differenziertes Wissen auf diesem Gebiet, das er sich in Projekten mit Forensic Architecture selbst erarbeitet hat: In einem der Fälle konnte seine Geräuschexpertise die Aussage israelischer Soldaten falsifizieren, nach der diese bei einem tödlichen Vorfall an der Grenze nur Gummigeschosse verwendet hätten. Ein weiterer Fall betraf Asylsuchende aus Somalia: Abu Hamdan konnte nachweisen, dass diese einen Dialekt ihres Landes sprachen – man hätte ihnen sonst aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse Asyl verwehrt. Vor Gericht halten die Berichte von OhrenzeugInnen üblicherweise noch weniger stand als jene von AugenzeugInnen. Die Beschreibungen von Geräuschen sind oft viel zu vage oder werden schnell als unmöglich wahr abgetan.
Im Rahmen der Untersuchung des syrischen Gefängnisses Saydnaya war Abu Hamdan ebenfalls mit den Ungenauigkeiten des Gehörs konfrontiert: Um die Menschrechtsverletzungen des Assad-Regimes vor Gericht zu belegen, initiierte Amnesty International 2016 die Untersuchung des gefürchteten Orts, in dem laut Schätzungen zwischen 2011 und 2016 mindestens 13.000 Menschen ermordet wurden. Ein Experte für Ohrenzeugenschaft war für die Untersuchung von zentraler Bedeutung, weil der Entzug des Sehens ein Teil der Folter war. Die Gefangenen saßen im Dunkeln und waren gezwungen, sich die Augen zu bedecken, sobald ein Aufseher in ihre Nähe kam. Das, was zu hören war, wurde umso existenzieller: die Schritte der Wächter, die Sneakers trugen, um jeden Huster zu hören und bestrafen zu können, die Geräusche der Zellentüren, die die Standorte der Wächter verrieten, die Folterinstrumente, deren Lautstärke die Gefängnismauern vibrieren ließ, oder das Brot, das man den Insassen vor die Zelle warf.
In After SFX gibt Abu Hamdan Aufschluss über seine Methoden der Audioermittlung: Entlang der alphabetischen Reihung von Geräuschen aus Soundeffektarchiven von BBC und Warner Bros. (von „Aluminium Step Ladder“ über „Green Coconuts“ bis „Yellow Pages“) erfährt man in einem Lauftext, wie er gemeinsam mit Zeugen Geräusche abgleicht, um einen architektonischen Plan zu erstellen, die Anzahl der Insassen zu ermitteln u.v.m.
Eine Aussage, die nicht der Wahrheit entsprechen konnte, wurde wegweisend für Abu Hamdans künstlerische Arbeit. Er versuchte eigentlich, den Sound des Haupttores von Saydnaya zu rekonstruieren, und spielte einem Zeugen ein mit „Notre Dame Cathedral“ beschlagwortetes Soundfile vor. Dieser veranlasste ihn, solange lauter zu drehen, bis er zu erkennen meinte, dass das exakt dem Geräusch des Brots entsprach, wenn es ein Wächter vor die Zellentür warf. Das war physikalisch unmöglich und irritierte Abu Hamdan, der erst später verstand, dass der Zeuge nicht von der Intensität des Geräuschs, sondern von der Intensität seines Hungers sprach.
Die Einsicht, dass sich über diesen „falschen“ Ohrenzeugenbericht eine ganz andere, unerwartete Wahrheit Bahn brach, hat alle nachfolgenden Projekte des Künstlers beeinflusst und war grundlegend für die Zwei-Kanal-Videoinstallation Once Removed (2019): Protagonist ist der 31-jährige Bassel Abi Chahine, ein junger arabischer Historiker, der ein umfassendes Fotoarchiv zum libanesischen Bürgerkrieg angelegt hat. Aufgrund einer Generalamnestie (1991) wurde der Krieg aus dem kollektiven Bewusstsein verbannt, mit der Folge, dass die religiöse Zersplitterung des Landes umso stärker einzementiert wurde. Um einen einenden demokratischen Prozess anzustoßen, wird die Aufarbeitung als unumgänglich erachtet – die Arbeit von Abi Chahine ist dafür immens wertvoll, selbst wenn seine Motivation Flashbacks und Erinnerungen an ein früheres Leben waren.
1984 wurde er als Kämpfer der Miliz der Progressiven Sozialistischen Partei in der Stadt Aley angeschossen, erzählt er in dem Video dem Künstler, der wie der Historiker („once removed“ verweist auf das Verwandtschaftsverhältnis der beiden) in der drusischen Religionsgemeinschaft aufwuchs. Die beiden stehen in dem Video vor zwei Leinwänden, auf denen Fotografien zu sehen sind: auf der einen Seite private Bilder von Abi Chahine, der seine frühere Familie aufgesucht hat, aber auch Kinderzeichnungen, die seine frühen Flashbacks beweisen; auf der anderen Seite Fotografien vom Bürgerkrieg, die er über zehn Jahre gesammelt hat.
Bassel Abi Chahine erfüllt die kulturspezifischen Anforderungen, die die Transmigration der Seele bei den Drusen voraussetzt; er wird aber auch der Recherche- und Beweispflicht eines Wissenschaftlers gerecht. So hat er nicht nur die Umstände seines Todes genau recherchiert und die Geburts- und Sterbedaten seines früheren Lebens, sondern auch die Schauplätze seines Lebens aufgesucht und BürgerInnen um private Fotografien für sein Archiv gebeten.
Die Sammlung umfasst Poster, Badges und Propagandamaterial, das Aufschluss über die politischen Ziele der Libanesischen Volksbefreiungsarmee (PLA) gibt, aber auch eine relativ genaue zeitlich Einordnung ermöglicht. Die Fotos zeigen Milizen und kriegerische Auseinandersetzungen inmitten von Wohngebieten, für die man auch Frauen und Kinder wie Bassel Abi Chahine rekrutierte. Einige Fotos, über die die beiden im Video reden, sind nur verpixelt zu sehen. Sie dokumentieren Kriegsverbrechen, die man aufgrund der Generalamnestie nicht öffentlich zeigen darf.
Angesichts des Materials wird Abi Chahines Glaube irgendwann zweitrangig, dennoch steht in Zeiten von Post-Truth die Frage im Raum, ob der Künstler mit seinem Video den ohnehin fragilen Stellenwert von Wissenschaftlichkeit untergräbt. In einem Gespräch mit dem Kurator Stuart Comer hat Abu Hamdan darauf eine aufschlussreiche Antwort gegeben: Im Westen habe es vielleicht die Vorstellung der einen verbindlichen Wahrheit gegeben, im kolonialisierten Nahen Osten habe man aber immer schon im Post-Truth-Zustand – ohne eine gemeinsame, auf Fakten vertrauende Basis – gelebt.
Die Arbeit For the Otherwise Unaccounted (2020) ist darauf aufbauend die logische Fortsetzung seiner Suche, die vielleicht nicht auf wissenschaftlichen Standards, dafür aber auf der Überzeugung der Universalität von Menschenrechten basiert: Ausgangspunkt ist das Buch Reincarnation and Biology: The Etiology of Birthmarks (1997) des Psychiaters und Professors an der Virginia School of Medicine Ian Stevenson. Darin versammelte er weltweit recherchierte Fälle, bei denen eine Verbindung zwischen den Muttermalen von Wiedergeborenen und den gewalttätigen Umständen ihres Todes im früheren Leben feststellbar ist.
In der Secession liegen die grafisch reproduzierten Muttermale in Vitrinen, die durch ein spezielles Thermodruckverfahren die Anmutung von Narben haben. Daneben erzählen Stevensons Aufzeichnungen die Geschichten der Personen, die er überwiegend in kolonialisierten Ländern wie Myanmar, Biafra oder auch im Libanon fand: Sie wurden Opfer von Pogromen und Kriegen, aber auch von territorialer Annexion oder tragischen Unfällen. An den üblichen Plätzen der Herstellung von Wahrheit und Geschichte wären diese „minor histories“ deplatziert, dem Kunstpublikum traut Abu Hamdan hingegen viel zu: Jedes kleinste inhaltliche und ästhetische Detail werde im Kunstkontext schließlich als bedeutend erkannt, betont er im Ausstellungsgespräch und fordert dieselbe Sensitivität und Aufmerksamkeit auch für Bassel Abi Chahine und die TrägerInnen der Muttermale ein.
Aus einer vermeintlich obskuren Geschichte wird dann ein starkes Statement für Menschenrechte und ein Plädoyer dafür, die abgesicherten, westlichen Standards abzulegen und zuzuhören, wenn von Menschen in postkolonialen Gebieten (ihre) Geschichte geschrieben wird.
Lawrence Abu Hamdan, Green Coconuts and Other Inadmissible Evidence, Secession, Wien, 8. Dezember 2020 bis 14. März 2021.