Heft 1/2021 - Geschichte reparieren


Radikale Futurismen

Die Chronopolitiken des Dokumentarischen

T. J. Demos


Thirza Jean Cuthands Film Reclamation aus dem Jahr 2018 liefert als Dokumentation des Kommenden einen spannenden Beitrag zum indigenen Futurismus. Ausgangspunkt des kurzen Videos ist ein Massenexodus von SiedlerInnen zum Mars, in dessen Folge die verwüstete, aufgegebene Erde den indigenen Völkern überlassen ist. Befreit von verheerendem Extraktivismus, toxischem Rassismus, repressiver Heteronormativität, endlosen Kriegen und der Gewalt kapitalistischer Eigentumsverhältnisse beginnen diese daraufhin mit der postkolonialen Wiederherstellung von Lebensräumen. Anhand bekannter Tropen des Dokumentarfilms schildern die in dem Video befragten Personen ihr neues Leben, während im Hintergrund zum Beweis dystopische Landschaftsaufnahmen mit handkamerageneriertem Realitätseffekt präsentiert werden. Dieser Futurismus entfesselt radikale, formale Möglichkeiten sowohl hinsichtlich der Entkolonisierung von Zeit – durch die Aufhebung der althergebrachten Bindung des Dokumentarfilms an die Vergangenheit und die Projektion des Gewesenen auf das Kommende – als auch hinsichtlich der Freisetzung schöpferischer Kräfte jenseits der mimetischen Nachahmung verdinglichter, kolonialer Realitäten. So platziert der Film mittels performativer Imagination einen Sprengsatz in der Gegenwart und lässt eine disruptive Zukunft umso wahrscheinlicher werden.
Der Dokumentarfilm tritt hier als gestalterische Praxis der Chronopolitik in Erscheinung, die die Politik der Zeit und die Zeit der Politik gleichermaßen bezeichnet. Beides impliziert, dass die Art und Weise, wie wir Temporalitäten organisieren, nichts Natürliches oder Unvermeidliches hat. So gesehen bietet der Dokumentarfilm eine Methode zur Öffnung von Portalen in Zukünfte, die eine Alternative zum Jetzt darstellen. Darin gleicht er Arundhati Roys Beschreibung der derzeitigen pandemischen Lage: Der strukturelle Zusammenbruch eröffnet neue Möglichkeiten zur Transformation dessen, was sein wird.1 Wenn wir dieses Portal durchschreiten, können wir eine Barriere der Ewigkeit zwischen der Barbarei der Gegenwart und der Gerechtigkeit des Jenseits errichten.
Es steht in der Tat einiges auf dem Spiel. Die Zeit wurde kolonisiert, rassisiert, ökonomisiert und hat das hervorgebracht, was das in Philadelphia ansässige afrofuturistische Kollektiv Black Quantum Futurism (BQF) als „zeitliche Gettos“ des rassistischen Kapitalismus bezeichnet, in denen das „Master(’s) Clock[work Universe]“ raumzeitliche Mobilität, Handlungsfähigkeit und Determiniertheit ungleich verteilt.2 Solange materielle Ungleichheit herrscht, erliegen wir der endlosen Gegenwart der kalkulatorischen Maschinerie des Kapitals, die Widerstand zwecklos erscheinen lässt. Die auf diese Weise operationalisierte Zeit erinnert an Jasbir Puars „vorweggenommene Zukünftigkeit“, eine Chronologie, die eine gewünschte Entwicklung „unausweichlich“ macht: „Wir können der Gegenwart nicht entrinnen, da wir an die gewünschte Zukunft gebunden sind. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft scheinen zur Bezeichnung zeitlicher Unterscheidungen in gewisser Weise sinnlos.“3 Herkömmliche Dokumentarfilme neigen dazu, diese Zeitfalle zu verdinglichen.
Cuthands Reclamation – eine Entkolonisierung der Zeit wie des Raums – widerspricht den herrschenden Zeitkonzepten vehement, auch der vorweggenommenen Zukünftigkeit des Technoliberalismus und dessen Kolonialisierung von Land, Wirtschaft, Infosphäre und Zeitlichkeit. Dessen Vorstellung des Kommenden steht von vornherein fest, wie sich im Fall des Tech-Milliardärs Elon Musk zeigte. Auf den Vorwurf hin, an der antidemokratischen Machtübernahme in Bolivien im Jahr 2020 mitgewirkt zu haben, unter anderem um die Lithiumvorkommen des Landes für die globalen Märkte zu sichern, mithin für seinen Tesla und sein SpaceX-Projekt, setzte er folgenden Tweet ab: „Wir putschen weg, wen wir wollen. Findet euch damit ab.“ (Glücklicherweise wurde der Umsturz durch die letzten Wahlen in Bolivien rückgängig gemacht.) Indem er die hegemoniale Zukunft durchsetzt, an die wir alle gebunden sind, ermöglicht Musk es dem extraktiven kolonialen Kapitalismus, in jedes beliebige Territorium vorzustoßen, sogar bis in den Weltraum und die Unendlichkeit.
Eine Folge davon ist die Zerstörung des Landes, der Gewässer und der Lebenschancen der weltweit exponiertesten Gemeinschaften, was eine wachsende Klasse von verschuldeten, gefährdeten und entrechteten Menschen hervorbringt, die allen möglichen Formen von Polizeigewalt und Freiheitsentzug ausgesetzt sind und die zunehmende Hoffnungslosigkeit häufig mit dem Leben bezahlen. Dies geht einher mit einer Zunahme von Klimakatastrophen, existenzieller Bedrohung und pandemischen Notlagen. Angesichts der daraus entstehenden Verzweiflung provoziert unsere triste Gegenwart unverblümte Ausdrucksformen des Widerstands gegen die Zeit, wie Alisha Wormsleys Statement „THERE ARE BLACK PEOPLE IN THE FUTURE“. Der Satz war kürzlich in großen weißen Lettern auf einer schwarzen Werbetafel in Detroit zu lesen ebenso wie auf verschiedenen Kunstgegenständen, Skulpturen, Installationen und in Filmen.4 Wormsleys Rebellion dagegen, in Form der zeitlichen Vorwegnahme der bevorstehenden Gegenwart – eine Chronopolitik der Präfiguration – ihrer Zukunft beraubt zu werden, geht einher mit den fortwährenden Auseinandersetzungen um öffentliche Denkmäler und deren Beseitigung. Diese werfen ein Schlaglicht auf die ansonsten verdrängte Gewalt von Kolonialismus und Sklaverei und deren Nachwirkungen: die Konflikte um ein Erbe, das untrennbar verbunden ist mit der gesellschaftlichen Produktion von Zukunft. Zugleich verweisen sie auf die Bedeutung des gegenwärtigen Dokumentarfilms. Wer hat das Recht, die Zukunft zu erschaffen?

Recht auf Zukunft
In den letzten Jahren aufgekommene radikale Futurismen erheben Anspruch auf dieses Recht, das sich in spekulativen Visionen des Zukünftigen äußert. Wie die sich weltweit herausbildenden ästhetischen Praktiken zur Entkolonisierung des „Noch-Nicht“ zeigen, wollen diese Futurismen offene Potenziale vor dem Zugriff der algorithmischen Erfassung retten, der technogenen Determiniertheit und der auf Kontrolle basierenden Biosicherheit des Kapitalismus. Ausgehend von den Jahrzehnte zurückreichenden Vorläufern der Afrofuturismen – als Schwarze Science-Fiction und musikalische Experimente eine emanzipierte, technologische Präsenz in künftige Jahre projizierten, wie im Film The Last Angel of History von 1996 geschildert – bringen diese Praktiken nun neue Spielarten des Dokumentarischen in verschiedenen Bereichen hervor, einschließlich der indigenen Futurismen, Trans- und Queer-Futurismen, Multispezies- und sozialistischen Futurismen und mehr.
Zu diesen Spielarten gehören die dokumentarischen Chronopolitiken von BQF, deren Videoassemblagen und Fotomontagen die Kraft radikaler Umkehrbarkeit entfesseln. Sie zielen ab auf Zeitzonen, in denen rassisierte Körper in unterdrückerischen Zellen eingesperrt sind, verstärkt durch alle möglichen Formen temporaler Mauern: unveränderliche Vergangenheiten, von Trägheit und Kriminalität geprägte Gegenwärtigkeiten, der Zukunft beraubte Leerräume. Aus diesen brechen sie aus. Wie in ihrem Black Space Agency Training Video von 2019 verschwimmen einander überlagernde Bilder bis zur Unlesbarkeit – Formen spiegeln sich, mutieren und imitieren von Echos erfüllte Klanglandschaften. All das entspringt den seelischen Tiefen traumatischer, kollektiver Erinnerung im Nachleben der Sklaverei und der Wohnraumsegregation der jüngsten Vergangenheit. „Wir glauben, dass astrologische Vorgänge umgekehrt worden sind und retrokausal aus der kosmischen Zukunft wirken, um gegenwärtige Ereignisse zu beeinflussen, die anschließend mittels Licht und Klang in das Gewebe der Vergangenheit eingeschrieben werden.“5 So lautet ein Rezept für die transformative Kraft von Futurismen in der Gegenwart.
Anhand von Astronautenikonografie und verspiegelten Helmen, in denen sich Schwarze Gesichter spiegeln, überträgt BQF den Techno-Optimismus des frühen Weltraumzeitalters grafisch auf Zeitungsausschnitte mit Berichten über unerfüllte Träume von urbaner Wohnraumgerechtigkeit, einem der Ziele des Community Futures Lab von BQF in Nord-Philadelphia, wo ihr Mitglied Rasheeda Phillips als Anwältin für Wohnrecht tätig ist. Das Kultivieren von „räumlicher Handlungsmacht“ (space agency) hat sowohl juristisch-politische und geografische als auch ästhetische und zeitliche Aspekte. Auf diese Weise arrangieren sie ihre pulsierenden Lichter und Klänge, um die Zukunft zu erlangen, die sie wollen, abgekoppelt von den Widersprüchen rassisierter Ungleichheiten in der Ressourcenverteilung.
Die ungleiche Beschaffenheit dieser geografischen Räume wird in Cuthands Reclamation auf den Kopf gestellt, worin das weithin vernehmbare weltgeschichtliche Streben nach Entkolonisierung anklingt, wie es indigene Bewegungen wie Idle No More und in jüngerer Zeit The Red Nation fordern. Sie verstehen unter Entkolonisierung die Rückgabe von Land und Souveränität an indigene Völker, die Abschaffung der herrschenden, auf Raubbau und Ausbeutung basierenden ökonomischen Ordnung und soziopolitischen Systeme, das Ende einer mehr als 500 Jahre währenden Kolonialgeschichte zugunsten einer künftigen kollektiven Emanzipation. Dementsprechend entwirft das Video sein Publikum: ein emanzipiertes, zukünftiges Volk in einem von UnterdrückerInnen befreiten Land.
Dabei stellt sich die Frage, wie Solidarität heute funktionieren könnte (insbesondere in Siedlungskolonien wie Nordamerika), auch in der dokumentarischen Praxis. Eve Tuck und Wayne Yang legen dar, dass nicht indigene Solidarität mit der indigenen Emanzipation „Maßnahmen der SiedlerInnen zur Erreichung der Unschuld“ vermeiden müsse. Gemeint sind Gesten wohlmeinender Verbündeter, die die Entkolonisierung metaphorisieren, indem sie leugnen, was sie im Wesentlichen bedeutet: die Rückgabe von Land und Souveränität an indigene Völker. Metaphorisierende Handlungen – die die Entkolonisierung einfach auf alles Mögliche ausdehnen, sei es die Entkolonisierung der Universität oder der Sexualität (so notwendig dies auch ist) – „stellen den problematischen Versuch zur Aussöhnung mit der Schuld der SiedlerInnen und ihrer Komplizenschaft sowie zur Rettung ihrer Zukunft dar.“6
Nach Tuck und Wang können die KomplizInnen der SiedlerInnen im Hinblick auf die Solidarität letztlich nur eine „Ethik der Inkommensurabilität“ akzeptieren, „indem sie auf die Zukunft der SiedlerInnen verzichten und die Hoffnung aufgeben, dass diese eines Tages mit den Indigenen vergleichbar sein könnten“. Das wiederum erfordert „ein Verständnis für fehlende Gemeinsamkeiten, das zur Auflösung politischer Bündnisse führt“7. Die Akzeptanz des Mangels an Gemeinsamkeiten erlaubt den Rückgriff auf Alternativen, wie sie die radikale Schwarze Praxis bietet, die sich den „Undercommons“ und der „permanenten Flüchtigkeit“ widmet (wie von Fred Moten und Stefano Harney ausgearbeitet8) und in der die Ablehnung von Eigentum und Besitz – von Land ebenso wie von herkömmlichen Subjektivitäten – die ethische Wahrheit emanzipierter sozialer Erfahrung und die einzig mögliche Grundlage für entkolonisierte Solidarität darstellt.9 Genau das bietet Cuthands radikaler Futurismus nicht indigenen BetrachterInnen: einen subjektiven Nicht-Ort, Enteignung und permanente Flüchtigkeit, und das gerade deshalb, weil die entkolonisierte Zukunft frei ist von den unterdrückerischen Subjekten des Siedlerkolonialismus. Durch das Video werden nicht indigene BetrachterInnen zu KomplizInnen bei der Abschaffung des weiß-Seins als Konstrukt der Rassentrennung und der kolonialen Unterdrückung und müssen andere Grundlagen für ihr Auskommen finden.10

Chronopoetik
Umgekehrt könnte man argumentieren, dass das Entmetaphorisieren der Entkolonisierung nicht in der „Auflösung politischer Bündnisse“ enden, sondern darauf aufbauend neue Formen der Solidarität zum Vorschein bringen sollte. Denn angesichts der gegenwärtigen Hyperparteilichkeit, der Polarisierung in den sozialen Medien und des ethnonationalistischen Identitarismus sind Bündnisse heute notwendiger denn je, um gemeinsame Macht aufzubauen und die Vorherrschaft der kolonialen, kapitalistischen Gewalt zu brechen, die uns allen schadet, wenn auch auf unterschiedliche Weise. Aus einer anderen radikalen indigenen Perspektive schreibt Nick Estes von The Red Nation, dass die Zukunft der Indigenen „universell“ sei und sein müsse: „[Sie] gehört nicht nur den Indigenen – sie ist wesentlich für die Existenz des Lebens auf diesem Planeten.“11 Erforderlich sei eine „soziale Revolution, die die Kräfte der Zerstörung zurückdrängt […] und indigene und nicht indigene Menschen vereint im gemeinsamen Kampf“ gegen den rassistischen, kolonialen Kapitalismus.12
Statt der Auflösung von Allianzen der Differenz bietet sich eine andere Möglichkeit: der Zusammenschluss zur Abschaffung der Differenz, den auch das Dokumentarische befördern könnte. Vor diesem spekulativen Horizont spielt INFINITY Minus Infinity, ein Film der Otolith Group aus dem Jahr 2019, der den Ursprung des rassistischen Kapitalismus im kolonialen Genozid verortet, wie er seit der Eroberung Amerikas im 16. Jahrhundert, dem Beginn des Anthropozäns, fortbesteht. Ihre Genealogie läuft hinaus auf die durch die jüngere Einwanderungspolitik Großbritanniens erzeugte „feindliche Umgebung“, insbesondere für die sowohl vom Nachleben der Sklaverei als auch von den postkolonialen Nachwirkungen des Empires geprägten MigrantInnen der Windrush-Generation. (Die Windrush-Generation bezeichnet MigrantInnen, die zwischen 1948 und 1971 von den karibischen Inseln in das Vereinigte Königreich kamen. Jahrzehnte später wurde ihr Aufenthaltsstatus im Zuge der fremdenfeindlichen britischen Migrationspolitik infrage gestellt und aufgehoben.) Mittels Tanz, Rezitation und von transtemporalen Gottheiten geäußerten historischen Wahrheiten geht der Film diesen komplexen historischen Verflechtungen sinnbildhaft nach. Das Video präsentiert eine „Choreopoetik“, wie die KünstlerInnen sie nennen, eine Annäherung an eine ästhetische Form der kollektiven Rede, deren Text sich aus so unterschiedlichen Quellen speist wie den Schriften der jamaikanischen Dichterin Una Marson, des aus Martinique stammenden Philosophen Édouard Glissant, der brasilianischen Soziologin Denise Ferreira da Silva und der britischen Geografin Kathryn Yusoff.13 In dem Film verweist eine mehrköpfige Hauptfigur als indofuturistische Trope auf multiple Realitäten, auf eine von vielen Zukünften, auf einen zeitspaltenden Akt von metaphysischer und kosmopolitischer Bedeutung.
Mit Ferreira da Silva spekulieren die KünstlerInnen über das Schwarzsein jenseits des Fassbaren, über eine Unendlichkeit jenseits der Unendlichkeit anstelle der Subjektivität, die der afrikanischen Diaspora von der aufgeklärten, europäischen Moderne lange verweigert wurde. Das Dokumentarische ist auf eine unbestimmte Zukunft ausgerichtet, auf eine letztlich unfassbare Zone des entkolonisierten Flüchtigen. Ferreira da Silva diskutiert Schwarzsein als Antimaterie, als „negatives Leben – das heißt, Leben mit negativem Wert“, in der Vergangenheit instrumentalisiert durch Europas „universelles Maß“, das weiß-Sein im Gegensatz dazu als Höhepunkt der sich selbst verwirklichenden Vernunft definierte.14 In Ferreira da Silvas Dekonstruktion öffnet sich das Schwarzsein, ausgehend von seinem negativen Gebrauchswert für die weiße Vernunft, hin auf eine Unbestimmtheit, die topologisch mit dem unbeherrschbaren Unendlichen verbunden ist. INFINITY Minus Infinity nähert sich dem an durch Körper, die Portale zu anderen Welten werden. Umgesetzt wird dies anhand einer Art biopolitischer Montage: Körperöffnungen und -oberflächen dienen Videos im Video als Projektionsflächen mit immer neuen Szenen aus dem rassistischen Kapitalozän (eine Bezeichnung für die vom kolonialen Kapital geprägte geologische Epoche und ein präziserer Deskriptor als der Begriff des Anthropozäns15). Das Voiceover des Films verleiht der Dokumentation eine gewaltige allegorische Dimension und findet seinen Höhepunkt in der Spekulation über eine zukünftige Befreiung, allerdings „erst dann, wenn diese Mythen ineinander überführt und als Bestandteile des Vor- und Nachlebens der Sklaverei und des nie endenden kolonialen Projekts erkannt worden sind“.
Im Einklang mit Cuthands Reclamation und der Chronopolitik des BQF schlägt INFINITY Minus Infinity eine Art abolitionistische, doppelte Negation vor: Erstens befeuert die performative Art der Dokumentation nicht nur die Nichtidentifikation mit der weißen Vorherrschaft, sondern auch mit der Logik von Rassenunterschieden selbst; und zweitens drängt sie auf die Aufhebung ebenjener Systeme – der Rechts- und Wirtschaftsinstitutionen, der technosozialen und pädagogischen Infrastruktur, der affektiven und ästhetischen Praktiken –, die die Differenzierung in der Vergangenheit und bis in die Gegenwart reproduziert haben.16 Es ist daher nur folgerichtig, wenn die Otolith Group im Bestreben, der komplexen Bewegung eines zutiefst spekulativen, historischen Futurismus eine ästhetische Form zu verleihen, auf das Bild zweier kollidierender schwarzer Löcher zurückgreift. Dazu haben sie eine Computersimulation des California Institute of Technology bearbeitet, die dieses beeindruckende astronomische Ereignis zeigt, das vom Laser-Interferometer Gravitationswellen-Observatorium entdeckt wurde.17 Jedes der schwarzen Löcher hat etwa die 30-fache Masse der Sonne und enthält eine Singularität, in der sich die Raumzeit unendlich krümmt. Der Film spielt in der Raumzeit zwischen diesen beiden schwarzen Löchern: nach einer Vergangenheit unverzeihlicher Schuld infolge der Sklaverei und mit Blick auf eine von Unbestimmtheit jenseits verdinglichter Differenz geprägte Zukunft. Seine zahlreichen Portale offenbaren ein Noch-Nicht des radikalen Bruchs mit einer Geschichte, die es auszulöschen, aber niemals zu vergessen gilt. Idealerweise setzt der spekulative Dokumentarfilm kosmopolitische Kräfte frei und liefert Formen, Ereignisse, Emotionen und Poetik als Bausteine für neue Welten. Die Herausforderung besteht nach wie vor darin, die sozialen Bewegungen zu organisieren, die diese verwirklichen.

Bei diesem Essay handelt es sich um eine überarbeitete Version von: T. J. Demos, Radical Futurisms: Documentary’s Chronopolitics, in: Trigger #2: Uncertainty, FOMU: Fotomuseum Antwerpen, Belgien, Dezember 2020, S. 58–64.

 

Übersetzt von Gülçin Erentok

 

[1] Arundhati Roy, The pandemic is a portal, in: Financial Times, 3. April 2020, https://www.ft.com/content/10d8f5e8-74eb-11ea-95fe-fcd274e920ca/.
[2] Vgl. Rasheedah Phillips, Dismantling the Master(’s) Clock[work Universe], Pt. 1, in: Black Quantum Futurism: Space-Time Collapse I: From the Congo to the Carolinas. Philadelphia 2016, S. 25.
[3] Vgl. Jasbir K. Puar, „Will Not Let Die“: Debilitation and Inhuman Biopolitics in Palestine, in: The Right to Maim: Debility, Capacity, Disability. Durham 2017, S. 148.
[4] „There Are Black People in the Future“: An Interview with Artist Alisha B. Wormsley, in: Public Books, 11. Dezember 2019; https://www.publicbooks.org/there-are-black-people-in-the-future-an-interview-with-artist-alisha-b-wormsley/.
[5] Vgl. https://soundcloud.com/afrofuturist-affair/the-afterlife-od-events-time-distortion. Zum „Nachleben der Sklaverei“ siehe Saidiya V. Hartman, Lose Your Mother: A Journey along the Atlantic Slave Trade. New York 2008, S. 6.
[6] Vgl. Eve Tuck/K. Wayne Yang, Decolonization is not a Metaphor, in: Decolonization: Indigeneity, Education & Society, Vol. 1, Nr. 1 (2012), S. 1 und 10; https://jps.library.utoronto.ca/index.php/des/issue/view/1234/.
[7] Vgl. ebd., S. 35 und 36.
[8] „Undercommons“ beschreibt eine auf der „Black Radical Tradition“ basierende Modalität für kritisches Verhalten, flüchtige Planung und Schwarzes Studium, einen Ort der mobilen Zugehörigkeit für die Ausgeschlossenen, für diejenigen, die sich der Widersprüche der Universität im Griff des Neoliberalismus, und gemeinhin der Gesellschaft, bewusst sind. Vgl. Stefano Harney/Fred Moten, The Undercommons: Fugitive Planning & Black Study. New York 2013. [Deutsch: Die Undercommons. Flüchtige Planung und schwarzes Studium. Aus dem Englischen von Birgit Mennel und Gerald Raunig, hg. von Isabell Lorey. transversal texts, Januar 2016.]
[9] Vgl. ebd., S. 28.
[10] Vgl. die Textsammlung des Viewpoint Magazine Beyond Guilt and Privilege: Abolishing the White Race, 5. August 2020; https://viewpointmag.com/2020/08/05/beyond-guilt-and-privilege-abolishing-the-white-race/. Um die Abschaffung grammatikalisch umzusetzen, habe ich mich im Sinne einer politischen Revolte auf Stilebene zur Kleinschreibung von weiß/weiß-Sein entschlossen.
[11] Nick Estes, A Vision for the Future, in: Art Canada Institute, Januar 2020; https://aci-iac.ca/the-essay/a-vision-for-the-future-by-nick-estes/.
[12] Nick Estes, A Red Deal, in: Jacobin, 6. August 2019; https://www.jacobinmag.com/2019/08/red-deal-green-new-deal-ecosocialism-decolonization-indigenous-resistance-environment/.
[13] Choreopoetik ist abgeleitet von den „choreopoem“-Ästhetiken Ntozake Shanges. Inspiriert vom Black Arts Movement in den USA beschreibt sie mit diesem Begriff innovative, dramatische Ausdrucksformen von Lyrik, Tanz, Musik und Gesang, in denen es vor allem um die emotionale Reaktion geht. Shange prägte den Begriff in ihrem Theaterstück For Colored Girls Who Have Considered Suicide/When the Rainbow Is Enuf von 1975. Vielen Dank an Kodwo Eshun für diesen Hinweis.
[14] Vgl. Denise Ferreira da Silva, 1 (life) ÷ 0 (blackness) = ∞ − ∞ or ∞ / ∞: On Matter Beyond the Equation of Value, in: e-flux Journal, Februar 2017, S. 8; https://www.e-flux.com/journal/79/94686/1-life-0-blackness-or-on-matter-beyond-the-equation-of-value/.
[15] T. J. Demos, Against the Anthropocene: Visual Culture and Environment Today. Berlin 2017 und Françoise Vergès, Racial Capitalocene, Verso Blog, 30. August 2017; https://www.versobooks.com/blogs/3376-racial-capitalocene/.
[16] So diskutiert im Rahmen der Podcastreihe Burning Futures, organisiert von Margarita Tsomou und Maximilian Haas, HAU Hebbel am Ufer, Berlin, #5 Beyond The End Of The World?, mit T. J. Demos und The Otolith Group (Anjalika Sagar und Kodwo Eshun), 23. Juni 2020; https://burningfutures.podigee.io/5-beyond-the-end-of-the-world/.
[17] Eine Animation des Simulating eXtreme Spacetimes Project (http://www.black-holes.org); https://www.ligo.caltech.edu/video/ligo20160211v3.