Im Requiem für den amerikanischen Traum beschreibt Noam Chomsky „zehn Prinzipien der Konzentration von Reichtum und Macht“ in den USA. Zunächst mit Reagans Präsidentschaft, zunehmend dann mit dem Wahlsieg des 45. Präsidenten Trump wurde die auf der Anhäufung von privatwirtschaftlichen Gewinnen fußende Politik des Neoliberalismus ab 2016 erneut desaströs ausgeweitet. Der Verfall Amerikas fiel Chomsky nach Fernreisen besonders auf. Einst demokratische Strukturen im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialsektor verfielen. Die deregulierende Geldpolitik marginalisierte breite Bevölkerungsschichten durch Armut. Rassismus und Rechtsextremismus wurden gestärkt. Umweltschäden im Land, notwendige Klimaziele und sogar die Corona-Pandemie wurden geleugnet. Im Zuge des Todes von George Floyd kam es im Sommer 2020 gegen den systemischen Rassismus und schnelle Lügen in den Organisationen der Polizei mit Black Live Matter auf den Straßen zu den größten Revolten seit Jahrzehnten.
Trumps Rhetorik beruhte auf Fakes und Lügen, mit denen er Amerikas Größe beschwor. Für den Radikaldemokraten Chomsky verweist der Traum des „Make America great again“ als politisches Leitbild mit Schlagseite immer wieder auf Übereinkünfte und Trugbilder nationaler Mythen und tief verankerte Verdrängungsstrukturen: „Die USA waren eine koloniale Siedlergesellschaft – die brutalste Form des Imperialismus. Man muss schon darüber hinwegsehen, dass man deshalb reicher wurde und ein immer freieres Leben führte, weil die indigene Bevölkerung dezimiert wurde – die erste schwere Ursünde der amerikanischen Gesellschaft; und weil ein anderer Teil der Bevölkerung aus herbeigeschafften Sklaven bestand – die zweite schwere Sünde.“1 Ein dauerhaftes Ausblenden der merkantilen Motivik, der politischen Normen der Verdrängungsgeschichte, reaktivierte auch die Unschuldsmythen von der Überlegenheit der White Supremacy.
Präsident Trump und ein Großteil der Republikanischen Partei weigerten sich nach dem 3. November 2020 konstant – gegen Ende der Legislatur –, den Wahlsieg der Demokraten anzuerkennen. Monatelang bluffte er von der angeblich „gestohlenen Wahl“. Er stachelte am 6. Januar 2021 eine Bande von Krawallmachern zum Sturm auf das Kapitol an. Das aufpeitschende Drehbuch des Trump-Mobs folgte dem Zynismus rassistischer Billigung. Es kam zum Terror gegen das Parlament. Im Inneren wurde marodiert und vandaliert. „It’s gonna be wild“, hatte der Noch-Präsident kurz zuvor getwittert und so die Gefolgschaft aufgewiegelt.
Wenig später machten die Medien verschiedene Chaosgruppen unter den Zerstörern aus: Rassisten, Nationalisten, Milizionäre, fundamentalistische Evangelikale, Oath Keepers, die Verschwörungsmythen verbreiten, die Demokraten wären angeblich „marxistisch und islamisch“, QAnon-Leute, Groyper Army, Bad Boys und andere. Besetzer mit roten Trump-Caps schossen genussvoll Selfies. Staatsbesitz wurde als Diebesgut weggetragen, so auch die Konföderierten-Kriegsflagge, als Bekenntnis zu Rassismus und Sklaverei. Auf trashigen Fetisch-Klamotten las man Kampfsätze wie „Bullshit 2020“-Slogans und „Keep America great again“. Auch in antisemitischen T-Shirts („Auschwitz Camp“) wurden Körper zu gewalttätigen Werbeträgern. TV-Equipments wurden grölend zertrümmert.
Auf vielfache Weise wurde der Niedergang des Hippietums reframed. Während euroamerikanische Medien bei der Bilddeutung schlingerten, kam schon die voll ironische Antwort von Joseph Pierce, Cherokee Nation Citizen und LGBTQ-Mitglied. Laut Pierce ist der vom FBI geschnappte, US-geschminkte Kerl mit Büffelhörnern, Fellmütze und Adlerfedern kein „altnordischer Wikinger“. Vielmehr entspringt die ikonografische Folklore der „white supremacy invasion“ dem finsteren Erbe des neoromantischen 19. Jahrhunderts. Ein Ausdruck „martialischer Männlichkeit“, die sich als indigenes „Erbe der Native Americans“ inszeniert, aber kostümiert „Indianer spielt“.2
Philosophie der Gewalt
Obwohl das Buch der französischen Feministin und Philosophin Elsa Dorlin Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt3 den Bogen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart spannt, ist es kein systematischer Geschichtsdiskurs. Als eher transkulturelle Studie versucht es ein Mapping, basierend auf einem mehr konstellativen Denken, um die Ökonomien rassistischer Tötungen auszuleuchten. Grundlegend vergleichbare Muster (zum Beispiel die Lynchjustiz in den USA und die sadistische Zurschaustellung Gefolterter im von Frankreich besetzten Algerien) werden als anthropologische Konstanten erforscht.
Betont wird, dass ein großer Teil der befragten Archive Gewinner repräsentieren, weswegen Rassismus oft erst herauspräpariert werden muss. Zu den typischen Mustern von Opferbilanzen zählt der Text illegitime und rechtswidrige „Beweise“ der herrschenden Schuldumkehrung. Polizisten (nicht nur) in den USA, die Schwarze ermorden, behaupten, tätlich angegriffen worden zu sein. Obwohl zunehmend Beweisvideos und ZeugInnen ganz deutlich das genaue Gegenteil sagen. Die Schwarzen waren nämlich, wie viele Beispiele zeigen, meist unbewaffnet. Wie kam es zu dieser „weißen Paranoia“ (Judith Butler)? Wie schrieb sich die Überhöhung der weißen Rasse auch in Winkelzügen und Automatismen des Alltags und in Rechtssystemen ein? Letztlich ist das die bohrende Frage.
Es gibt, so formuliert Dorlin nüchtern ihre Kernthese, immerfort herrschende „kulturelle Trennungen“ zwischen Subjekten, die „würdig“ sind, sich selbst zu verteidigen oder verteidigt zu werden, auf der einen Seite und den „anderen Körpern“ (zum Beispiel auch Frauen, MigrantInnen, ArbeiterInnen), die erst dadurch, dass sie sich nicht verteidigen dürfen, zu defensiven Taktiken gezwungen werden. Letztere überleben nur, wenn sie sich zur Verteidigung in ,,Notwehr“ ermächtigen. Diese „zweischneidige Waffe“ als wirksamstes Moment rassischer und sexistischer Hegemonie ist eine weitere triftige These, gegen die der Text ungleiche Zeugnisse der Selbstverteidigung stellt.
Ein Dekret verbot 1853 den SklavInnen in den Vereinigten Staaten den Besitz simpler Schreibgeräte, Stifte und Füller. In imperialen Kontexten jedoch war den Kolonisten systematischer Waffengebrauch erlaubt. Vergleichbares galt auch für Algeriens französische SiedlerInnen als Herrscherelite. Wegen der scharfen „Demarkationslinie“, die den Wert von Nichtweißen diskriminiert, kommen Delikte von Schwarzen vielfach vor der Justiz einem „Angriff auf die Herrenklasse“ gleich. Demokratie wird dann nicht als Selbstverständlichkeit gelebt.
Teils erklärbar sind so auch Übersprungshandlungen und Phantasmorgien rassischer Aggression. Geschildert wird der Fall des „Kissing Case“ des achtjährigen, weißen Mädchens Sissi Sutton in North Carolina, das seiner Mutter 1958 erzählte, einen schwarzen Spielkameraden auf die Wange geküsst zu haben. Die Familie sammelte sofort eine bewaffnete Menge, die sich in das Viertel der Schwarzen begab, mit der Absicht, den Jungen, dessen Freund und seine Mutter zu lynchen. Der Ku-Klux-Klan mengte mit. Obwohl der Geschichte das kollektive Phantasma des schwarzen Vergewaltigers zugrunde lag, waren die Folgen für den jugendlichen Minderjährigen und die schwarze Community katastrophal.
Wenn es zu den tragischen Mustern und Dispositiven von Klasse, Rasse und Geschlecht gehört, es übliche Lebensweise ist, sich als angegriffene Schwarze nicht verteidigen zu dürfen, dann wirkt ihre Leibeigenschaft fort. Immer wieder verdeutlicht Dorlin, dass somit Vergangenheit ein Teil der Gegenwart ist, ein Kippmoment, also Rückkehr zur Gewalt des Unbewussten. Kolonialismus als ein eternal piece?
Es ist eine Stärke des Texts, wie er sich in die Opfer von Menschenrechtsverletzung versetzt. Offen zeigt ihr Text Mitleid. Wie der Titel sagt (der durch das Buchcover Auftrieb erhält), widmet sie sich daneben auch „verschütteten Kampfethiken des Selbst“, proaktiven Momenten der Selbstverteidigung. Mit großer Genauigkeit werden Care-Situationen, aktives Aufbegehren, gesammelt. Dorlin nennt historische Momente der Selbstverteidigung, die allerdings später umgetextet wurden: die Sklavenaufstände, die Amazonenheere in der Französischen Revolution, die in Londoner Clubs in Jiu-Jitsu ausgebildeten internationalistischen Suffragetten, die für ihr Wahlrecht die Polizei aufs Kreuz legten, die Black Panthers der 1960er-Jahre und spätere Queer-Patrouillen. Der jüdische Aufstand 1943 im Warschauer Getto war eine „Thanatoethik“ der Ohnmacht. Der Biopolitik der Nazis die Stirn bietend wurde der bewaffnete Kampf dem Selbstmord vorgezogen. Um sich nicht widerstandlos abschlachten zu lassen, war dies eine gegenüber „der freien Welt“ bezeugte Verzweiflungstat.
Im Jahr 1947, als die Truman-Doktrin den Kalten Krieg begründete, schickte die älteste Vereinigung zum Schutz ziviler Rechte der schwarzen US-Bevölkerung, die NAACP4, alarmiert durch Lynchjustiz, den Vereinten Nationen eine Petition, die, wie Dorlin bekräftigt, „auf immenses Echo stieß“. Die Kernbotschaft der „selbstschützenden Wut“ lautete 1947: „Die Bedrohung der Vereinigten Staaten kommt weniger aus Russland als aus Mississippi.“ Zumal Dorlins Buch in Frankreich schon 2017 erschien, geht es auf Kämpfe der Black-Lives-Matter-Revolten vom Sommer 2020 (noch) nicht ein. Ihre Streitschrift für eine Renaissance der Dekolonisierung war schon vor der Ära des protektionistischen Backlash-Präsidenten Trump druckreif.
Übersetzt von Zur organisierten „Entwaffnung der Unterworfenen“
[1] Noam Chomsky, Requiem für den amerikanischen Traum. Die 10 Prinzipien der Konzentration von Reichtum und Macht. Übersetzt von Gabriele Gockel und Thomas Wollermann. München 2017, zitiert nach Timo Brandt; https://lyrikpoemversgedicht.wordpress.com/2017/09/04/zu-noam-chomskys-requiem-fur-den-amerikanischen-traum/.
[2] Joseph Pierce, Op-Ed, 18. Januar 2021; https://news.artnet.com/opinion/native-capitol-rioter-1937684.
[3] Elsa Dorlin, Selbstverteidigung. Eine Philosophie der Gewalt. Aus dem Französischen von Andrea Hemminger. Berlin 2020.
[4] National Association for the Advancement of Colored People, gegründet 1909.