Moskau. Man könnte die postsowjetische Kunstszene auch als „vaterlos“ charakterisieren. Die meisten der „Gründerväter“ der nonkonformistischen und konzeptuellen Kunst sind nach Westeuropa oder Nordamerika ausgewandert, und damit blieb die jüngere Generation fast ohne Vorbilder, auf die sie sich beziehen oder zurückgreifen könnte, und sohin auf sich allein gestellt. So gesehen könnte man die künstlerische Methode von Yan Ginzburg als schlüssige Neuerfindung der lokalen Kunstgeschichte deuten, die die Kontinuität der Tradition durch etwas, das ich „Ödipalisierung“ nennen möchte, wiederherstellt. In Ginzburgs Werk finden sich zahlreiche Hommagen an „verstorbene weiße heterosexuelle Männer“ (wie in The Room of Geniuses vergangenes Jahr im Garage Museum) oder manchmal an noch lebende. Seit einigen Jahren arbeitet der Künstler nunmehr den Nachlass, die Biografie und die persönliche Hinterlassenschaft seines beinahe vergessenen Künstlerfreunds Joseph Ginzburg auf, dessen Nachnamen er sich nach dessen Tod sogar aneignete.
Closed Fish Exhibition. Reconstruction von Yan Ginzburg gemeinsam mit Dmitry Khvorostov und ihren Studierenden vom Institut Baza ist nun eine Hommage an ein anderes Kapitel der russischen Kunstgeschichte, das außerhalb des Landes nur wenig bekannt ist. Es geht um die Kunst von Elena Elagina und Igor Makarevich, VertreterInnen der mittleren Generation des Moskauer Konzeptualismus. Zwar teilten die beiden mit dem übrigen Konzeptualismus die Besessenheit von Sprache und ihrer Beziehung zum Bild, aber sie interessierten sich darüber hinaus auch für die Natur, Wissenschaft und Technik, die sie durch Mystifikation zu durchblicken versuchten.
Für ihr Projekt Closed Fish Exhibition bildeten Elagina und Makarevich 1990 Arbeiten der gleichnamigen Ausstellung realistischer Zeichnungen zugunsten der lokalen Fischindustrie in Astrachan aus dem Jahr 1935 nach. Dazu trieben sie den dazugehörigen Katalog auf, der nur die Namen der ausstellenden KünstlerInnen und deren Werktitel enthielt, und fantasierten buchstäblich nach, wie die Werke vor dem Hintergrund der bürokratischen Klischees Stalins ausgesehen haben mussten. Die resultierenden Assemblagen stellten sie dann im Landhaus aus, das seinerzeit als Undergroundmuseum genutzt wurde (MANI).
Das Projekt von Ginzburg/Khvorostov fällt formal in die Kategorie des Reenactment, die in letzter Zeit mit zahlreichen Ausstellungen weltweit prominent wurde. Die bekanntesten waren wohl When Attitudes Become Form: Bern 1969/Venice 2013 oder in jüngerer Zeit das zweiteilige Projekt Reconstructions, für das 2013 und 2014 die wichtigsten Ausstellungen der Ekatarina-Stiftung aus den Neunzigerjahren reproduziert wurden.
In diesem Fall jedoch wird der Begriff „Rekonstruktion“ begrifflich infrage gestellt. Zum einen handelt es sich hier nämlich um eine künstlerische Interpretation historischer Fakten und zum anderen um die Rekonstruktion einer Rekonstruktion. Genauer gesagt brachte die Recherche der Künstler und ihrer Studierendengruppe neue Spuren der Originalausstellung zutage, die Elagina und Makarevich nicht gekannt hatten, und revidierten damit deren „blinde“ Interpretation. Das Ergebnis ist ein rückbezügliches Projekt, das nicht nur Geschichte erfindet, sondern auch die vorigen Erfindungen wieder aufnimmt.
Das sehr aufgeräumte Ausstellungsdesign stellt mehrere „Rettungsringe“ zur Verfügung – runde Wandtafeln, die das komplexe Narrativ der ersten beiden Säle entschlüsseln. In diesen Ringen finden sich jeweils der Titel der Originalarbeit aus den Dreißigerjahren, mittig die Reproduktion der Nachbildung von Elagina und Makarevich sowie der Name einer Nachbildung von der Hand je einer/m der Baza-Studierenden. Der erste Saal setzt auf eine forensische Ästhetik, mit der die meisten KünstlerInnen ihre ausgedehnten Recherchen im Bezirk Astrachan gestalteten. Einige von ihnen arbeiteten mit den Archivporträts der ursprünglichen AusstellungsteilnehmerInnen, andere wieder erkundeten den derzeitigen wirtschaftlichen Zustand der Industrien in der Region. Die für den zweiten Saal gewählten Kunstwerke brechen mit der Aura dieser wissenschaftlich wirkenden Recherche und drängen das Publikum in ein spekulativeres und fantastischeres Terrain. Das Highlight dabei ist sicherlich Maxim Novikovs Arbeit Slashes. Tinte. Diese riesige symmetrische Metallkonstruktion führt uns die Erfindung eines Ingenieurs aus Astrachan vor Augen, mit der die Verladung von Fischen erleichtert werden sollte. Hier indes schwebend im sauberen White Cube wirkt sie wie irgendetwas zwischen Vladimir Tatlins Letatlin, Chris Burdens späten unheimlichen Rekonstruktionen und einem versteinerten Skelett aus einem Naturkundemuseum.
Der letzte Ausstellungsteil führt diese absurde Tonlage fort und präsentiert kitschige, bizarre und surrealistische Objekte aus Industriematerialien, Holzelementen, Knochen und Buchstaben. Was nach Originalassemblagen von Elagina und Makarevich aussieht, entpuppt sich jedoch als Arbeiten Ginzburgs, die deren Stil gekonnt imitieren. Ausnahmen gibt es nur zwei, nämlich eine neue Auftragsarbeit von Ginzburg und Khvorostov mit dem Titel Fishing Tackle sowie die Originalzeichnung aus einer Ausstellung aus 1935. Der junge Ginzburg agiert hier wie ein professioneller Fälscher, der mit alten Pigmenten die Massenspektrometrie austrickst. In diesem Fall greift er auf die Patina sowjetischer Designprodukte und sogar altmodische Schrifttypen zurück. Im Endeffekt erlebt man in der Ausstellung nicht nur den schizophrenen Kollaps der Epochen, sondern auch jegliche Aufhebung von Originalität, Autorschaft und Authentizität.
Unter den derzeitigen Bedingungen der Pandemie, in der die Jungen von den Älteren isoliert werden, könnte dieser generationenübergreifende Dialog als Vorbild für gut organisierte Fürsorglichkeit und Rücksichtnahme zwischen den Generationen dienen. Er zeigt nämlich, dass Kunst nicht im luftleeren Raum existiert oder ex nihilo entsteht, sondern immer erst durch das Bewusstsein für die eigene Geschichte, für VorgängerInnen und WeggefährtInnen. Und doch kann die zwanghaft gesuchte Kontinuität der Tradition und die Rückbesinnung auf „Vaterfiguren“ in die Enge führen. Der „Hommageismus“ – wie die beiden Kuratoren ihre Methode nennen – könnte leicht in den Verdacht narzisstischer Selbsthistorisierung oder gar Selbstverherrlichung geraten. Dennoch machen die intertextuellen und höchst raffinierten Bezugsverkettungen, die ohne Vorkenntnisse kaum zu enträtseln sind, diese Ausstellung noch mehr „closed“ als die ursprüngliche Fish-Ausstellung.
Übersetzt von Thomas Raab