Heft 2/2021 - Dinge, die uns trennen
Wie immer man es betrachtet, der institutionelle Metabolismus der Gegenwartskunst scheint sich zu verlangsamen oder gar zum Stillstand zu kommen. Einst so lebenswichtige Organe wie staatliche Museen, öffentlich zugängliche Sammlungen oder Großausstellungen scheinen keine großen Anzeichen der Zellerneuerung oder Anpassung an die neuen Umstände zu zeigen. Allerorten offenbar dasselbe Symptom, das durch die Pandemie nur noch verstärkt wird.
Stellen wir uns alle Kunstberufe zusammen wie einen Körper mit seinen verschiedenen Funktionen vor, die durch Organe wie Herz, Gehirn, Leber oder Nieren aufrechterhalten werden. Dabei würde uns vielleicht auffallen, dass manche Organe derzeit aktiv an kognitiven und affektiven Veränderungen arbeiten, während andere Organe diese aufnehmen, ableiten und wieder ausscheiden. Wie können wir vor diesem Hintergrund unsere Arbeitsorte, insbesondere koloniale Museen und ihre Sammlungen, neu bespielen? Kann man die DNA der Kunst über alle historischen, regionalen, ethnischen und disziplinären Taxonomien hinweg verändern, das heißt kuratieren? Was hätte ein solches Experiment am globalisierten Institutionskörper von heute für Folgen? Und wie sehr hängen wir sentimental an unserem nationalen Erbe?
Auf einer Konferenz mit dem Titel The Museum as Battleground hielt der deutsche Direktor des British Museum Hartwig Fischer im Mai 2017 fest: „Das British Museum ist eine eigene Welt. Es geht ihm darum, sein Publikum zu inspirieren und zu verleiten, sich mit aktuellen Themen auseinanderzusetzen. Wir müssen dafür sorgen, dass das British Museum mit seinen Ausstellungen funktioniert.“ Ganz im Gegensatz dazu brachte Manuel Borja-Villel vom Reina Sofia in Madrid auf derselben Konferenz vor, dass „Museen keine Freiheitsräume mehr sind. Sobald es um Ideen geht, die nicht profitabel sind, hat man ein Problem. Wir brauchen Pausen in diesem Kontinuum. Wir brauchen eine Veränderung des Institutionswesens und neue Räume für Widersprüchliches, für Kritik. Wir brauchen anomale und wirtschaftlich unabhängige Strukturen außerhalb der populistischen neoliberalen Logik. Wie schaffen wir ein solches Museum der Allmende?“
Der Hauptfokus in den Diskussionen über die Zukunft enzyklopädischer Museen liegt auf der Ausstellungsgestaltung. Jede Ausstellung zielt letztlich darauf ab, zu definieren, wer ihr Publikum sein soll. Aus welchem Land, aus welcher Einkommensschicht oder Klasse soll es kommen? Wie viel Zeit kann es im Museum verbringen, wie frei kann es sich dort bewegen? Und wie kann es auf das Ausgestellte reagieren? Damit ist das Universalmuseum auch ein wichtiger politischer Akteur im neuen Nationalismus.
Die DNA der Kunst zu verändern impliziert den Gedanken, dass sich bestimmte Institutionen dem veränderten Zustand der Welt anpassen müssen.1 Wenn Paul B. Preciados Trope des Übergangs eine grundlegende strukturelle Veränderung des Ist-Zustands – in Sven Lüttickens Worten eine „disruptive Innovation“2 – beinhaltet, welcher Art wäre dann eine solche Veränderung? Bilden sich in der Kunst gerade neue Allianzen? Und wenn ja, wie mächtig sind sie und wie lange werden sie halten? Behalten sie die nationalistischen, unternehmerischen oder gar militaristischen Untertöne ihrer kolonialen Vorfahren bei? Kann man eine Allianz einfach als freundschaftliches Engagement oder gegenseitiges Interesse begreifen und auch herstellen? Oder gehört dazu auch die Empathie, die man für seine Nachbarn aufbringen sollte? Wie nah ist Ihnen Ihr Genosse eigentlich geografisch? Welchen Netzwerken kann man trauen? Besteht Ihre Allianz wie ein Ketten-Mail bloß aus virtuellen, simulierten Anhängseln? Können freundschaftliche Allianzen überdies die Autonomie der bestehenden überinstitutionellen Netzwerke gewährleisten? Jener Museen und Universitäten also, die sich derzeit zwar global zu Marken verbinden, dabei aber jeweils nationalistische Kulturagenden verfolgen?
2017 gab es allein in Deutschland drei große Institutionskonflikte, die symptomatisch waren für den genannten Zusammenbruch des kulturellen Metabolismus: das Debakel der Volksbühne, die Diskussion um die überhöhten Ausgaben der documenta 14 sowie die mühselige Errichtung des Humboldt-Forums, das Wissenschaftler*innen wie Aktivist*innen bis heute gleichermaßen verwirrt. Die Volksbühne steht dabei für den Typus des Volkstheaters, die documenta für den des Avantgarde-Kunstevents und das Humboldt-Forum für jenen des Staatsmuseums. So stehen die drei Institutionen für ein Multiorganversagen, das hauptsächlich durch eine sklerotische Bürokratie und sture Identitätspolitik verursacht wird.
So versucht der deutsche Staat, mit dem Humboldt-Forum in Berlin seine kulturelle Größe wiederzuerlangen, indem er Meisterwerke ausstellt, die zwar nicht aus Europa stammen, aber immerhin deutscher Provenienz oder deutsches Eigentum sind. Im Kern behauptet dieses Staatsorgan so etwas wie: „Wir in Deutschland haben diese Sammlung zustande gebracht, wir in Deutschland wissen wegen unserer großartigen und weitgereisten Ethnolog*innen am besten, was man über diese Objekte wissen kann, und wir in Deutschland werden diese Sammlungen besser pflegen als jede/r andere. Und da wir, so wie die Dinge nun mal liegen, die führenden wissenschaftlichen Expert*innen haben, werden auch wir entscheiden, was wir glauben, ausstellen zu müssen, und welche Objekte Meisterwerke sind. Und schließlich werden wir in Deutschland wie anderswo in Europa den öffentlichen Zugang zu diesen historischen Artefakten aus konservatorischen Gründen einschränken und dafür die Digitalisierung als legitime Alternative vorantreiben.“
Aber wer bestimmt konkret, welche Sammlungsstücke beispielsweise fotografiert werden und welche nicht? Und wie kann eine fotografische Darstellung die Komplexität und Raffinesse eines Objekts zeigen, das ein Mensch eigenhändig gestaltet hat? Man muss also nicht nur den materiellen, sondern auch den intellektuellen Besitz dieser „unautorisierten“ Objekte in den musealen Sammlungen infrage stellen, und zwar durch alternative Diskurse, die weder auf dem Logos der Ethnizität noch auf den epistemischen Parametern eines einzigen Fachs, sei es nun die Kunstgeschichte oder die Anthropologie, fußen.
2018 kuratierte ich für das Goethe-Institut eine Diskussionsreihe in Phnom Penh, Singapur und Kuala Lumpur. Dort sprachen wir über die Rolle der Künstler*innen im Hinblick auf Sammlungen und zukünftige Museen. Das Engagement von Künstler*innen bei der Aufarbeitung historisch fragwürdiger Archive und Sammlungen verweist auf die zunehmende Legitimität subjektiver Historiografien und Metafiktionen. Ob in Südostasien, in Afrika oder in Deutschland wird hier der Versuch deutlich, einen neuen heuristischen Raum abzustecken, in dem unterschiedliche Kompetenzen, Methoden und sozial variable Kontexte sich verbinden können. Dieser Raum fördert auch Offenheit und Risiko, was Kunstwerke betrifft.
Die Fragen, die sich indes stellen, lauten: Kann es heute eine Kunst geben, die man nicht besitzen kann und die auch nicht durch Identitätspolitik, Indigenitätsbehauptungen, Ethnizität, Nationalismus oder koloniale Disziplinen beschnitten wird? Kann man geistiges Eigentum neu definieren, sodass sich Staaten oder exklusive ethnische Gruppen Kunstwerke nicht mehr unter dem Banner des Rechts aneignen können? Lassen sich Museum und Universität so verbinden, dass man mit ihnen koloniale Sammlungen zurechtrücken und neue Formen von experimenteller Bildforschung in die Wege leiten kann? Welche Antigerinnungsmittel braucht es, um den Durchfluss zwischen Museum und Universität zu gewährleisten? Welche Kompetenzen sind für die Bürokratie der heutigen Forschung gefragt?
Wenn man mich fragt, was ich von weltkulturellen oder ethnografischen Museen in Zukunft erwarte, antworte ich, dass es dieses nekropolitische Organ schon gar nicht mehr gibt. Es kann nicht das Museum bleiben, das es in den vergangenen 150 Jahren war. Die öffentliche Zurschaustellung der Bestie muss sich von Grund auf ändern. Das schlechteste Szenario wäre nämlich, wenn die neuen Ausstellungsformen von düster-fremdenfeindlichen Agenden instrumentalisiert würden. Deshalb meine ich, dass diese besondere kulturelle Infrastruktur mitsamt ihrem imperialen und kolonialen Erbe in eine Art „Museumsuniversität“ verwandelt werden sollte.
Es wäre dies ein Backstage-Raum für Studierende und Forschende, die sich transdisziplinären Analysen auf universitärem Niveau widmen, basierend auf den vorhandenen historischen Sammlungen. Befreit man die Sammlungsobjekte aus der Umklammerung der Ethnografie und der öffentlichen Zurschaustellung, könnten sie gleichsam als handelnde Artefakte sowohl materiell als auch intellektuell frei zu zirkulieren beginnen. Damit würde sich auch der Provenienzdiskurs verändern und alternative Bewertungen möglich machen, was wiederum dazu beitragen könnte, die altkoloniale Souveränität abzuschütteln.
Eines der Hauptverbrechen der kolonialen Museumsethnografie war und ist, die Urheberschaft der gesammelten Artefakte zu unterschlagen und damit zu verhindern, ihre Besitzverhältnisse auf Basis einer geschützten Namensnennung richtigzustellen. Dringender denn je braucht es heute einen neuen Rechtstitel, der Forscher*innen aller Nationen und Denkrichtungen Zugang zu diesen riesigen ethnografischen Sammlungen verschafft. Einzig solche Zugangsrechte würden ein „Museum der Allmende“ und damit eine gerechte Neubewertung der kolonialen Sammlungen in Europa ermöglichen.
Die metabolischen Funktionen der Institutionen neu zu denken wäre ein erster Schritt, um bauliche Räume und Bildungsbedingungen zu schaffen, die den historischen Leistungen der so vielfältigen Kunstgeschichten der Welt Rechnung tragen.
Übersetzt von Thomas Raab
[1] Vgl. Paul B. Preciado/Georgia Sagri, Exposed to the Unknown, in: Mousse 58, S. 113.
[2] Vgl. „Sven Lütticken on the Volksbühne Occupation: Art as Immoral Institution“, in: Texte zur Kunst, 3. Oktober 2017; https://www.textezurkunst.de/articles/sven-lutticken-volksbuhne-occupation/, Anmerkung 10.