Heft 2/2021 - Netzteil


Emigration in den virtuellen Raum

Die Ausstellung als pandemiebedingtes Online-Projekt anhand von Beyond States im Zeppelin Museum Friedrichshafen

Roland Schöny


Mittlerweile ist unsere Raumwahrnehmung determiniert durch die Erfahrung von Sperren und Öffnungen, durch Erschwernisse von Grenzübertritten und lokalspezifische Reglementierungen. Mehr als anderswo spitzte sich dies zuletzt am Museumsstandort Friedrichshafen am Bodensee im Dreiländereck zu Österreich und der EU-Außengrenze zur Schweiz zu. Noch dazu trennte wenige Fahrminuten entfernt ein behördlicher Sperrzaun die deutsche Kreisstadt Konstanz von der mit ihr verwachsenen Schweizer Gemeinde Kreuzlingen. Bedingt durch das Abschließen neuralgischer Zonen und die Verschiebung von Epizentren ist das Supranationale, das Verständnis von Überstaatlichkeit, plötzlich um eine neue Dimension angereichert. Das Virus und dessen Modifikationen halten sich an keine Ländergrenzen.
Während andere Institutionen unter Headlines wie „#ClosedButOpen“ mit verschiedenen Streamingformaten neue Standards der digitalen Kunstvermittlung setzen konnten, um zumindest über den Datenhighway zugänglich zu bleiben, stellten sich dem Zeppelin Museum grundsätzlichere Fragen. Mit Beyond States lagerte nach eineinhalb Jahren Vorbereitung ein Ausstellungsprojekt startklar hinter verschlossenen Türen, dessen Thematik rund um Konzepte von Staatlichkeit sich unmittelbar mit den gegenwärtigen Umbrüchen im Alltag überlappt. Was nun kartografiert wird, sind nicht allein Ströme der Migration, Erosionen der Permafrostböden oder die Flächen von Waldrodungen. Ebenso sind es Infektionszahlen und Superspreader-Hotspots.
Der Modus des Rückzugs, des Sich-Abschließens von der sozialen Umgebung als Sicherheitsmaßnahme, steht in Peter Weibels viel beachtetem Essay „Virus, Viralität, Virtualität“1 komplementär zu der von ihm proklamierten Ferngesellschaft. Angesichts der Transformationen des Alltags durch die Pandemie konstatierte der Medientheoretiker die finale Durchsetzung algorithmisch basierter Kommunikationssysteme und damit die technifizierte Umstellung von Arbeitszusammenhängen und persönlichen Beziehungen auf Distanzmodus.

Interessanterweise sprach Weibel weder vom Schicksal der Kunst noch vom Medium der Ausstellung, das über Monate hindurch bloß noch per Internet angesteuert werden konnte. Wegen deren einfacherer Übermittlung und Zugänglichkeit per Computerbildschirm sind traditionelle Kunstformen – etwa die klassische Malerei – mit einem Startvorteil ausgestattet. Als Projekt der Gegenwartskunst aber mit anderen Problemstellungen konfrontiert stand das Zeppelin Museum in seinem Bestreben, das Projekt Beyond States mit den Bedeutungsverschiebungen im realen, gesellschaftlichen Raum draußen zu synchronisieren, vor der Frage der Erweiterung seines relativ kompakten Ausstellungskonzepts mit nicht mehr als zehn künstlerischen Positionen. So fiel die Entscheidung für die Entwicklung eines zusätzlichen Online-Forums zu Themen wie „Staatenlosigkeit“ oder „Staatliche Souveränität und Staatsversagen“, um schon im Vorfeld der Ausstellung Öffentlichkeit zu schaffen.
Seinem Konzept nach ist es vergleichbar ist mit dem Modell der Infozone, wie sie Kunsträume oder Ausstellungshallen häufig an ihre Projekte andocken, um Lesematerial oder aufgezeichnete Artist Talks zugänglich zu machen. Angelehnt an den Begriff des Tutorials nennt das Zeppelin Museum sein diskursives Format nun „Debatorial“. Gemeinsam mit dem im Februar aufgezeichneten Eröffnungsstream aus dem geschlossenen Museum, der einer gehobenen Fernsehshow mit nachfolgender Nahaufnahme der Kuratorenführung gleicht, spannt es einen erweiterten medialen Resonanzraum auf.
Welche Auswirkungen eine solche mediatisierte und teils filmische Transformation eines Ausstellungsprojekts haben kann, zeigt sich bereits anhand eines Podcasts mit den Künstler*innen Florian Egermann und Vera Drebusch. Bezugnehmend auf ihre Installation prepared geben sie akustisch und ohne jene zeitlichen Limits, die etwa das Radio vorgeben würde, einen Abriss über die Prepper-Bewegung als Do-it-yourself-Movement mit Nähe zu Reichsbürgern und Rechtsextremisten. Auch einer Videoeinführung von Kuratorin Ina Neddermeyer zu Jonas Staals raumübergreifender Installation New World Summit, die ein Parlament für staatenlose, oppositionelle und häufig als terroristisch eingestufte Organisationen repräsentiert, lässt sich beiwohnen. Symbolisch steht die Installation, bestehend aus Architekturelementen, Landkarten und Videodokumentationen für einen Kongress, der bereits mehrfach an verschiedenen Orten der Welt abgehalten wurde. Dem Internetpublikum des im Mai 2021 immer noch tageweise geschlossenen Museums bleibt jedoch ein Erwandern der einzelnen Bereiche, die auf räumliche Blickbeziehungen hin konzipiert sind, verwehrt. Dies verändert den Charakter der künstlerischen Arbeit, die sich im Stream lediglich über vorgefertigte Dokubilder rezipieren lässt. Die Problematik dieser Art der Vermittlung wurde bereits Ende des 19. Jahrhunderts anhand der Fotografie diskutiert. Es wurde zwar der Verlust der Authentizität des Werks durch seine fotografische Abbildung beklagt, im Gegenzug aber die Möglichkeit der Vermittlung an ein breiteres Publikum durchaus positiv hervorgestrichen.
Wie das Konzept des „Debatorials“ per Online-Zugang als diskursive Erweiterung funktionieren kann, illustriert eine Debatte rund um eine Videoarbeit der Gruppe Forensic Oceanography/Forensic Architecture. Sie thematisiert die Gewaltanwendungen der lybischen Küstenwache gegenüber Flüchtlingen, die oft Ersatz für fehlende humanitäre Lösungen der EU sind. Zu einer Online-Podiumsdiskussion über FRONTEX und die Abschottungspolitik der EU eingeladen waren Vertreter*innen von Sea Watch und des Instituts für Friedensforschung Hamburg. Solche Sprünge zwischen Werk und inhaltlichen Bearbeitungen begünstigt das breite Online-Angebot, weil die einzelnen Formate nicht viel weiter als einen Mausklick nebeneinander liegen. Ähnlich wie es nun per Computer vereinfacht gelingt, Verbindungslinien zu ziehen, die im Ausstellungsraum erst aufwendig erarbeitet werden müssten, bindet die Online-Führung auch den historischen Schwerpunkt des Museums zur Geschichte des Zeppelinflugs ein, der vor Ort in einem gänzlich anderen Bereich situiert ist. Damit ist der Wechsel geografischer Sichtweisen mit einbezogen, der sich mit der Luftschifffahrt ergab. Der Fokus liegt auf der Regulierung des Luftraums, was durch den Drohnenverkehr aktuell wieder brisant ist.
Allerdings fällt auf, dass der aus der Extremsituation heraus entstandene Bereich des „Debatorials“, der ein Role Model für die diskursive Erweiterung künftiger Projekte bilden könnte, in seiner aktuellen Bildschirmversion mit allgemeinen Videos der Museumsvermittlung verschwimmt. An diesen Schnittstellen geht die ursprüngliche Intention wieder verloren. Allzu leicht führt dies nämlich zu einem Orientierungsverlust, dem man durch eine präzisere Einteilung in Kapitel oder klar definierte Bereiche begegnen hätte können. Insgesamt bietet Beyond States aber einen spannenden und ernst zu nehmenden Debattenbeitrag zur Erweiterung von Kunstausstellungen durch Online-Ressourcen.

Beyond States. Über die Grenzen von Staatlichkeit. Mit Arbeiten von Nevin Aladağ, James Bridle, Simon Denny, Vera Drebusch & Florian Egermann, Forensic Oceanography/Forensic Architecture, Jacob Hurwitz-Goodman & Daniel Keller, Peng! Kollektiv, Christopher Kulendran Thomas, Henrike Naumann, Jonas Staal; bis 7. November 2021; www.zeppelin-museum.de

 

 

[1] Peter Weibel, „Virus, Viralität, Virtualität“, in: Neue Zürcher Zeitung, 20. März 2020.