Heft 2/2021 - Netzteil
Dass man in Europa bislang wenig bis nichts über Halim El-Dabh wusste, mag an der relativen Geschlossenheit akademischer Klangforschungs- und Neue-Musik-Zirkel liegen. Dabei hatte der 1921 in Kairo geborene und 2017 in den USA verstorbene Musiker und Komponist bereits zu Lebzeiten legendären Status erlangt – im kleinen, überschaubaren Kreis der transatlantischen Elektronikavantgarde und Ethnomusikologie wohlgemerkt. Umso höher ist es dem Berliner MaerzMusik-Festival und dem Kunstraum SAVVY Contemporary anzurechnen, dass sie anlässlich des 100. Geburtstags von El-Dabh eine multidisziplinäre Hommage an ihn ausrichteten – mit famosen, weit über den engeren Bereich der institutionellen E-Musik-Welt hinausgehenden Produktionen. Zum überwiegenden Teil nur online zugänglich spannten diese einen eindrucksvollen Bogen auf zwischen Musik, Performance, Film, Installation und weiteren, verwandten Kunstsparten.
Begonnen hatte alles bei der Dakar Biennale 2018, für die Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, der Leiter von SAVVY, ein spartenübergreifendes Programm in Erinnerung an Halim El-Dabh zusammengestellt hatte. Ein Pionierakt, der die „sonic cosmologies“1 des modernistischen Weltengängers und Paradeavantgardisten erstmals einem größeren Kunstpublikum vorstellte – anhand von Auftragswerken, von denen einige auch den Nukleus der aktuellen Berliner Schau bilden sollten. Bereits für 2020 geplant musste das um etliche musikalische Neuaufführungen angereicherte Projekt pandemiebedingt auf März 2021 vorschoben werden – mit dem Effekt, dass man pünktlich zum 100. Geburtstag von El-Dabh dessen facettenreiches Werk samt künstlerischer Fortdichtungen Revue passieren lassen konnte. Zum Teil geschah dies über den Festivalstream von MaerzMusik, der es verstand, die vermeintlichen Defizite des Online-Formats in einen veritablen Vorteil zu verwandeln.
Lebhaftes Zeugnis davon legten etwa Mazen Kerbajs und Ute Wassermanns 45-minütige Revisitations ab. Ausgehend von El-Dabhs Komposition Leiyla and the Poet für Stimme und Elektronik, aufgenommen 1959 im berühmten Princeton Columbia Electronic Music Center in New York, entfachten die beiden Musiker*innen mit einem vor ihnen liegenden Arsenal an unterschiedlichsten Klangerzeugern ein dialogisches Fanal, welches das Original in neuem, funkelndem Klanglicht erstrahlen ließ. Dass die Kameraführung dabei eng an die gestischen Manöver der beiden Performer*innen angelehnt war, verdeutlichte, welch ungeahnte Komponenten das filmische Online-Format zum Vorschein bringen kann (etwas, das im Präsenzmodus nur bedingt möglich ist).
Ein weiteres Highlight in dem über achtstündigen Eröffnungsprogramm mit dem Titel Invocations, das abwechselnd aus dem SAVVY Contemporary und dem Haus der Berliner Festspiele übertragen wurde, stellte Sofia Jernbergs vokaler Bravourakt dar: El-Dabhs lebenslange Beschäftigung mit Vibration als dem Kern jeder musikalischen, ja, kosmischen Physis wurde von Jernberg kongenial heruntergebrochen und neu aufgetürmt zu einer im Human-Stimmlichen so nicht vermuteten Tremolo-Soundscape. Ähnlich „friktiv“ im Hinblick auf herkömmliche Tonregister verfuhr Madga Mayas bei ihrer fantastisch-inventiven Performance nicht an, sondern mit einem präparierten Klavier. Darin brachte sie El-Dabhs Credo an „Heterophonie“ bzw. eine „Reibung der Töne“, die einer Harmonie höherer Ordnung Ausdruck verleiht,2 grandios zur Anschauung. Als „Eastern Dissonance“ hatte El-Dabh diesen Zugang einmal umschrieben3 – das Einbringen melodischer und rhythmischer Dissonanzen, wie es in nahöstlicher bzw. afrikanischer Musik jahrhundertelang praktiziert wurde, in die westliche Harmonielehre. Konsequent auf den Stand des digitalen Heute gebracht wurde dies in Jessica Ekomanes Elektronikkomposition Music Enriched by Traditions From the Depth of Time (der Titel nimmt Bezug auf El-Dabhs ethnomusikalische Glanztat der Gründung des Orchestra Ethiopia in Addis Abeba 1963 bzw. einen Bericht darüber, den er für die New York Times verfasste)4. Ekomanes mikroskopischer, unablässig morphender Verschnitt unterschiedlichster Harmoniepartikel kondensiert die „östliche Dissonanz“ auf gegenwartsaffine Weise und unterstreicht El-Dabhs Behauptung einer besonderen skulpturalen Qualität elektronischer Klänge.5
Das Invocations-Programm enthielt noch wesentlich mehr – Panels zu einzelnen Aspekten von El-Dabhs Werk, Performances, die Kompositionen von ihm choreografisch umsetzten, oder Live-Visuals, die sich an filmischen Aktualisierungen vor allem seiner Elektronikstücke versuchten. Den Backdrop dazu bildete die Ausstellung Here History Began. Tracing the Re/Verberations of Halim El-Dabh, die, auf die zwei Etagen des SAVVY verteilt, den künstlerischen Nachhall dieses musikalischen Ausnahmewerks auslotete. Frappierend dabei, wie „spektral“, sprich nahezu die gesamte Bandbreite der Gegenwartskunst abdeckend die von Kamila Metwaly kuratierte Schau angelegt war. (Metwaly hatte selbst 2020 die Audiokomposition A Sonic Letter to Halim El-Dabh geschaffen,6 die wiederum Ausgangspunkt für den Film Leila and the Poet – de lalala ti-ra ihrer Schwester Jasmina Metwaly war, Letzterer im MaerzMusik-Programm zu sehen.)
Der Titel Here History Began nimmt Bezug auf El Dabhs berühmte Auftragsarbeit Son et Lumière, die bis heute allabendlich die Pyramiden von Gizeh bzw. deren Besucher*innen beschallt.7 Naheliegenderweise wurde dieser Kontext von einigen Arbeiten aufgegriffen, etwa in Theo Eshetus gleichnamigem Video, worin populäre Filmbilder von Ägypten anhand von El-Dabhs Musik einem Lackmustest in Sachen Orientalismus und klischeehaftem Othering unterzogen werden. Auch Magdi Mostafis Installation Sound Cells knüpft an El-Dabhs Jugendjahre in Kairo an, indem so ungewöhnliche Klangerzeuger wie Waschmaschinentrommeln generativ in Szene gesetzt werden – der Klang des wöchentlichen Kleiderwaschens war laut E-Dabh neben den Freitagsgebeten eine der typischsten Geräuschkulissen seiner Herkunftsstadt. Vivian Caccuri wiederum bezog sich in ihrer Installation Cyclone Aegypti auf frühe Experimente des Musikers, der – als angehender Landwirtschaftsingenieur – versucht hatte, mittels metallischer Klänge die Ernte vor dem jährlich drohenden Insektenbefall zu schützen.
Sound als kosmische Vibration – nicht gegen eine einzelne Spezies gerichtet, sondern im weitestmöglichen Einklang mit allem Lebenden, das Wohlergehen aller anvisierend –, dieser Grundgedanke El-Dabhs kam selbstredend in vielen der vertretenen Audioarbeiten zum Ausdruck. Von Satch Hoyts elegant minimalistischem, interaktivem Wandtableau Tape Head (gespannten Fellen mittels Magnetbandbogens ungewöhnliche Klänge entlocken) bis hin zu Matana Roberts’ selbst vertonter ethnomusikologischer Reise durch Afrika (Laying Track) reichte dabei das Spektrum.
Auch El-Dabhs in späten Jahren forcierte Beschäftigung mit Farbnotation (color music notation) fand seinen visuellen Widerhall in einzelnen Werken, am bemerkenswertesten in Tegene Kunbis kompositorisch gehängten Ölmalereien mit dem Titel Sensing Sound Through Color. Unterschiedlichste Formate und meist pastos aufgetragene geometrische Farbkombinationen verwiesen auf El-Dabhs synästhetisches Credo, Klanglichkeit auch in räumlich akzentuierten Farbfrequenzen orten zu können. Womit sich der Kreis zu der großen, weltumfassenden (aber deswegen nie mystischen) Vibration schloss – resümierend verdichtet in Lorenzo Sandovals und Pedro Andrés hybrid-dokumentarischer Filmcollage The Book of Vibration. In der Reibung unterschiedlichster Referenz- bzw. Harmonieräume den Inbegriff lebensbejahender Schwingung zu sehen, diesem Prinzip wurde die Ausstellung (und der MaerzMusik-Schwerpunkt insgesamt) in aller ästhetischen Verzweigtheit mehr als gerecht.
Ausgewählte Programme des Schwerpunkts sind noch einige Zeit unter https://www.berlinerfestspiele.de/de/berliner-festspiele/on-demand/2021/maerzmusik/halim-el-dabh.html bzw. unter https://www.youtube.com/watch?v=OXAEbcjt7zM&t=5s abrufbar.
Infos zu Here History Began unter https://savvy-contemporary.com/en/projects/2021/here-history-began/.
[1] https://savvy-contemporary.com/site/assets/files/3841/barkingdog_concept.pdf
[2] Zitiert nach Denise A. Seachrist, The Musical World of Halim El-Dabh. Kent State University Press 2003, S. 45.
[3] The New York Times, 2. März 1958.
[4] Music Enriched by Traditions From the Depths of Time, in: The New York Times, 20. September 1964.
[5] Vgl. das Interview von Bob Gluck mit Halim El-Dabh; https://econtact.ca/15_2/gluck_el-dabh.html.
[6] https://vimeo.com/444541632
[7] 1961 vom ägyptischen Kulturministerium als Platte herausgebracht.