Heft 2/2021 - Lektüre
In den frühen 1990er-Jahren erfand der niederländische Medientheoretiker Geert Lovink den Datendandy. Die umherschweifende Suche nach einem emanzipatorischen Umgang mit den Neuen Medien, das Abklopfen der Potenziale des Internets waren seine Sache. Und, der „Datendandyismus entsteht“, schrieb Lovink damals, „aus der Abneigung gegen die Verbannung in die eigene Subkultur“. Übertretungen der Feldgrenzen sollten zu Überschreitungen bestehender Ordnungen werden. Ein Vierteljahrhundert später hat der Datendandy eine ganze Reihe feministischer Genossinnen bekommen. Sie versammeln sich auf öffentlichen Plätzen, betreiben Server und machen Kunst, die nicht länger allein Kunst sein will. Cornelia Sollfrank, Felix Stalder und Shusha Niederberger haben einige dieser aktivistischen, technologieaffinen und gemeinwohlorientierten Initiativen unter dem Titel Aesthetics of the Commons versammelt. Die titelgebenden „Commons“ sind seit Jahren ein fester Bestandteil linker Debatten. Sie sind Einsatz in den Kämpfen gegen Privatisierungen, stehen für eine andere, solidarische Ökonomie, werden aber auch darüber hinaus als Verbindungsmoment in einem als endemisch krisenhaft verstandenen Kapitalismus verstanden. Zurückhaltend nimmt sich die Definition der Herausgeber*innen dagegen aus, Commons nicht als fixiertes Set an Prinzipien verstehen zu wollen, sondern bloß als ein „thinking tool“.
Mit diesem Denkwerkzeug werden nun Kunstpraktiken neu durchdacht und Räume vermessen, die ein Imaginäres jenseits kapitalistischer Verwertungslogik ermöglichen sollen. Das Imaginäre beschreibt nicht nur individuelle Vorstellungen, sondern für selbstverständlich gehaltene, kollektive Grundannahmen. Die müssen angegangen und verändert werden, soll Emanzipation überhaupt denkbar bleiben. Dazu muss Kunst ihr notgedrungen bildungsbürgerliches Terrain, das künstlerische Feld, verlassen und attackieren. Ines Kleesattel beschreibt das am Beispiel von Constant, dem Betreiberinnenkollektiv eines feministischen Servers: [Die Aktionsgruppe] „processes new material-semiotic modes of thinking and doing infrastructure differently“. Sie sieht diese Praxis in der Tradition feministischer Standpunkttheorien als situierte Ästhetik. Diese Ästhetik fungiert als „training ground“ für gesellschaftlich noch nicht Realisiertes.
Das ist auch die Hoffnung, die den ganzen Band durchzieht, nämlich im Kunstfeld und seinen transgressiven, transversalen Praktiken Modelle für ein solidarisches großes Ganzes zu finden. Rahel Puffert sieht in einer Reihe von Kunstbeispielen, die die organisatorischen und sozialen Rahmenbedingungen ihrer eigenen Produktionsweise zum Thema machen, die Vorbotinnen einer gesellschaftsverändernden Solidarität mit den anderen. Insgesamt soll es bei den Commons darum gehen, solidarische Beziehungen zu entwickeln und, wie Jeremy Gilbert betont, um ihre Tendenz „to generate, amplify and reproduce such relations“. Kunst wird dabei zu einer Praxis, in der „spaces for affective encounters“ (Daphne Dragona) entstehen. Die affektive Dimension von Praxis herausgearbeitet und betont zu haben, macht einmal mehr deutlich, warum und inwiefern hier den feministischen Ansätzen eine so große Rolle für die Commons zugesprochen wird: Reproduktions- und Care-Arbeit stehen seit den 1960er-Jahren im Fokus von feministischer Kunst- und Theoriearbeit, und sie sind für die Analyse ebenso wie für die praktisch-politische Entwicklung solidarischer Praktiken unabdingbar. Ohne Instandhaltungs- und Sorgearbeit keine Kunst, aber eben auch keine antikapitalistische Perspektive. Das schließlich hatte der Datendandy noch nicht auf dem Schirm. Während Geert Lovink damals vor allem einem essenzialisierenden Ökofeminismus, der weibliche Lebenswelten und Spiritualität zum Weg aus der technologischen Unterdrückung anbot, sehr skeptisch gegenüberstand, sind die feministischen Anknüpfungen in Aesthetics of the Commons durchwegs positiver Art.
Schließlich wirft aber die Betonung von „affective encounters“ auch eine grundlegende Frage auf: Warum wird eigentlich ausgerechnet dem Kunstbereich so viel zugetraut, wenn es um die emanzipatorische Erneuerung von Sozialbeziehungen geht? Handelt es sich nicht auch um ein Feld, in dem die strukturellen Eitelkeiten und Prestigekämpfe, die Konflikte um Reputation und symbolisches Kapital besonders ausgeprägt sind? Die allesamt positiven Beispiele im Buch vermitteln insofern zwar ein politisch hoffnungsvolles Bild von der Kraft der Commons. Analytisch aber zeichnen sie doch nur eine eingeschränkt gültige Skizze von den Dynamiken des Kunstfelds. So oder so kommt dem Band das Verdienst zu, theoretische Diskurse an den Schnittstellen von Ökonomie, Technologie und Kunst zu verknüpfen und am Beispiel verschiedenster Praxisformen auch plastisch werden zu lassen.