Heft 2/2021 - Lektüre
Einer OECD-Studie von 2018 zufolge dauert es durchschnittlich 4,5 Generationen (in Deutschland etwa sechs Generationen), bis die Nachkommen sozial benachteiligter, armer Familien das Durchschnittseinkommen erreichen können.1 Soziale Herkunft entscheidet also maßgeblich über Zugang zu Ressourcen, Möglichkeiten der persönlichen Entfaltung, der sozialen Teilhabe, über Lebenswege – und soziale Ungleichheit verschärft sich zunehmend weiter (vgl. auch eine diesbezügliche DIW-Studie 2021). Dennoch – obwohl soziale Durchlässigkeit sich also weiter verringert – ist soziale Herkunft nach wie vor nicht als Diskriminierungsdimension in Antidiskriminierungsgesetzen verankert.2 Gleichzeitig wird in medial verstärkten Polemiken gegen „Identitätspolitik(en)“ von rechtspopulistischen wie altlinken Positionen der idealisierte Topos des (weißen, männlichen) „(Fabrik-)Arbeiters“ beschworen, um auf diese Weise eine Auseinandersetzung mit komplex verwobenen Diskriminierungsstrukturen zu verhindern und den hegemonialen Status quo zu verteidigen. Spätestens seit Beginn der COVID-19-Pandemie wurde jedoch unübersehbar, wie sich Klassismus, Rassismus, Sexismus sowie auch Ableismus, Gewalt- und Fluchterfahrung und Bildungsbenachteiligung gegenseitig verstärken.
Genau diese komplexen Zusammenhänge nehmen zwei nahezu gleichzeitig erschienene Bücher in ihrer Kritik an neoliberalen Aufstiegsmythen von „Leistungsgesellschaft“ und „Meritokratie“ in den Blick: Solidarisch gegen Klassismus von Francis Seeck und Brigitte Theißl sowie Klassenreise von Betina Aumair und Brigitte Theißl richten einen konsequent macht- und kapitalismuskritischen, intersektionalen Fokus auf gesellschaftliche Diskriminierungsstrukturen,3 auf hartnäckig verankerte Klassifizierungs-, Zuschreibungs-, Abwertungs- und Ausgrenzungsmechanismen (anstatt auf – dadurch allererst konstruierte – „betroffene Gruppen“). Denn „Klassismus als Diversitykategorie [zu] verstehen und kaum strukturelle Fragen in den Blick [zu] nehmen, Klassismus lediglich als Diskriminierungsform zu verstehen, ohne die (Um)Verteilungsfrage zu stellen, greift zu kurz und steht einer emanzipatorischen antiklassistischen Politik entgegen.“4
Klassenreise beschreibt anhand von elf Porträts von Personen aus einkommensarmen Familien – oftmals die Ersten, die ein Studium beginnen und auch abschließen – deren „Klassenreise“ und die Hürden, die sie (im Unterschied zu sozial Privilegierten) aufgrund sozialer Ungleichheit, ausgrenzender Bildungssysteme, hegemonialer Normen und für sie intransparenter informeller Regeln zu überwinden haben – und wie stark danach noch soziale Herkunft ihr Leben prägt. Solidarisch gegen Klassismus widmet sich in Form von 26 unterschiedlichen Perspektiven und Textformaten (Interviews, Essays, Diskussionen) der „Frage, wie wir in unserem Alltag, an unserem Arbeitsplatz und in politischen Gruppen solidarisch und antiklassistisch agieren können“.
Beide Bände zeigen je unterschiedliche Ansätze antiklassistischer Solidarität und Strukturkritik auf und schaffen damit entscheidend anderes als diverse, in der letzten Zeit erschienene individualisierte „Aufstiegsgeschichten“ weißer Männer* wie Didier Eribon, Christian Baron und andere: Klassenreise setzt gegen das hegemoniale Tabuisieren von Klassismus und das Schweigen Klassismuserfahrener über ihre soziale Herkunft, Armuts- und Diskriminierungserfahrungen das Sprechen und damit die Möglichkeit des Sich-Wiedererkennens, aber auch den Blick auf Strukturen. Demgegenüber bietet Solidarisch gegen Klassismus Beispiele für solidarische Umverteilung bzw. das Teilen von Privilegien etwa durch Umverteilungskonten im Kollektiv oder einen anonymen Solidaritätstopf, über den Geld geteilt wird, „ohne dass dadurch persönliche Beziehungen beeinflusst werden“.
Eine kritische Auseinandersetzung und ein Sprechen über Klassismuserfahrungen, „Klassenreisen“ und über Klassenprivilegien – das zeigen beide Bände eindrücklich auf – sind also nicht nur dringend nötig, um Menschen ohne diese Diskriminierungserfahrung diese bewusst zu machen (Privilegierte halten in der Regel ihre Privilegien für „normal“ und „allen“ verfügbar) und soziale Veränderung zu befördern. Vielmehr soll dies auch Klassismuserfahrenen und „Klassenreisenden“ die ermächtigende Möglichkeit des „Wiedererkennen[s] der eigenen Geschichte in den Geschichten anderer“5 geben.
Zu den gerade aktuell enorm wichtigen Veränderungsimpulsen, die die beiden Bände bieten, gehört der machtkritische Umgang mit Sprache – bewusst „soziale Herkunft“ anstelle von „sozialer Status“ zu verwenden, „soziale Durchlässigkeit“ anstelle von „soziale Mobilität“, „Klassenreise“ anstelle von „sozialer Aufstieg“ und vor allem „Klasse(n)“ anstelle von „Milieu“ oder „Schicht“ – sowie auf die diskriminierende Wirkmächtigkeit von abwertenden und beschämenden Begriffe („Nazi-Proll“, „Trash“, „asozial“) hinzuweisen.
Beide Bände positionieren sich kritisch gegenüber einer entpolitisierenden Akademisierung gesellschaftskritischer Diskurse und gegenüber Abwehr und Verleugnung sozialer Ungleichheit etwa auch in queerfeministischen Kontexten. Gegen das häufige Ausspielen vermeintlich „einfacher“ Praxis gegen „schwierige“ Theorie verdeutlichen sie zugleich in vielfältiger Weise überzeugend „sorgende Theoriearbeit [als] Bestandteil solidarischer Praxis.“6
1 A Broken Social Elevator? How to Promote Social Mobility, OECD Publishing, Paris 2018; http://dx.doi.org/10.1787/9789264301085-en.
2 Eine aktuelle Ausnahme stellt das Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz dar, in dem seit Juni 2020 der soziale Status mitberücksichtigt ist.
3 Und knüpfen damit an Positionen Schwarzer Feministinnen seit den 19980er-Jahren wie Audrey Lorde, Angela Davis oder bell hooks an.
4 Seeck/Theißl S. 10.
5 Aumair/Theißl, S. 11.
6 Jan Niggemann verdeutlicht dies in seinem Beitrag mit der Problematisierung mangelnder theoretischer Analysen und Begriffsbestimmung eines depolitisierenden Klassismus ohne Klassen (in Anlehnung an Etienne Balibars Rassismus ohne Rassen 1990). (Niggemann in Seeck/Theißl, S. 45–55, hier S. 53).