Heft 2/2021 - Artscribe


Europa: Antike Zukunft

22. April 2021 bis 15. August 2021
Halle für Kunst Steiermark / Graz

Text: Günther Holler-Schuster


Graz. Am Beginn des 19. Jahrhunderts hat der Frühsozialist Saint-Simon gefordert, was seine prognostische Dimension erst im 20. Jahrhundert entfaltete: Nach der Französischen Revolution käme es darauf an, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen mit der Ausbeutung der Erde durch den Menschen zu ersetzen. Sloterdijk sieht darin eine Verschiebung, die statt aus der Gesellschaft heraus in Beziehung zwischen Mensch und Natur wirksam ist. Mit dem Emanzipationsprozess der Massen bzw. der Verbürgerlichung des Proletariats geht demnach eine Parallelentwicklung einher, die den Ort der Ausbeutung auf Distanz hält. Die Natur als Außenposten funktioniert nur im Zeichen der Zivilisation – der westlichen Zivilisation. Dieser Zustand ist, wie derzeit erkennbar, begrenzt, kommt zunehmend unter Druck und geht seiner selbst ernannten Exklusivstellung verlustig.
Die gegenwärtige Pandemie zeigt exemplarisch, wie verletzlich wir sind. Die Gemeinsamkeiten religiöser Überzeugungen, parteipolitscher Bekenntnisse oder kultureller Vereinheitlichungen werden uns nicht retten. Die geforderte Gemeinsamkeit muss sich von den Kulturkämpfen wegbewegen, hin zur Konfrontation mit den realen Problemen. Zivilisation bedeutet, zu lernen, mit innerhalb einer Kultur unlösbaren Problemen umzugehen, anstatt sie der kulturellen Differenz und dem Kulturkampf zu überlassen. Im Zuge des Säkularisierungsprozesses hat man seit der Aufklärung versucht, kulturelle Identitäten, religiöse Bekenntnisse und ethnisches Vormachtstreben zurückzudrängen. Dass dies gerade heute wieder in blutigen Kämpfen ausgelebt wird, bedeutet unser Scheitern. Um diesem zu entgehen, wäre das Gegenteil des Strebens nach Vorherrschaft notwendig. Man müsste Verständnis für Einheit durch Verschiedenheit etablieren und Respekt vor konkurrierenden Geltungsansprüchen. Es ist nicht verwunderlich, dass sich Künstler*innen intensiv mit Fragen des Postkolonialismus, der Dezentralisierung und des Nationalismus auseinandersetzen. Europa scheint vielerorts bereits zum „E-Wort“ verkommen zu sein. Ein düsteres Bild.
Dieses aufzuhellen ohne Problemzonen auszusparen, hat sich zurzeit eine Ausstellung in Graz vorgenommen. Europa: Antike Zukunft nennt Sandro Droschl die Ausstellung im ehemaligen Künstlerhaus, das gerade durch einen kräftigen Schub aus Landes- und Bundesmitteln zu einem „Remodeling“ ansetzt. Das Haus, in dem Graz durch den steirischen herbst oder die Dreiländerbiennale Trigon (Neue Galerie) gleichsam eine „Antike“ erfuhr, zeigt sich verändert. Ein gigantischer Portikus definiert das modernistische Gebäude als Kunsttempel. Der White Cube zitiert die antike Sakralarchitektur und verschmilzt sie mit der sakralen Grundidee des Baus. Die ionische Säulenreihe symbolisiert nicht nur Sakrales, sondern steht auch für Demokratie. Angesichts der Säulenhalle ist auch ihre Perversion innerhalb der autoritären Regime zu bedenken. Man kann sie nicht ohne die Inszenierungen des 20. Jahrhunderts verstehen. Auch diese sahen in der Antike ein Bezugssystem, das misszuverstehen in Monstrosität gipfelte.
Franz Kapfers von der Decke hängende Holzschilder – Logos von rechtsradikalen Gruppierungen im heutigen Europa – weisen darauf hin, dass viele dieser Symbole aus dem Zeichenschatz der Antike stammen und hier im Widerspruch landen. Nationalismus und partikulare Interessen als Gegenpol zu einer sich öffnenden europäischen Gesellschaft. Sandro Droschl: „Die Kraft der Vergangenheit in die Zukunft projizieren, jedoch im Kontext einer Ideengeschichte jenseits von Nationalismen und Ungleichheit.“ Die in den Demokratien der Antike verorteten Anfänge Europas erlauben diesen retrofuturistischen Ansatz. Europa neu zu denken ist der Grundgedanke dieser Schau, die 13 künstlerische Positionen mit einer Herkules-Aufgabe konfrontiert. Im medialen Feld von Malerei, Skulptur bis Film formulieren die Künstler*innen ihre Utopien von Europa. Historie und Mythen bekommen neue Bedeutungen, wie bei der zypriotischen Künstlerin Haris Epaminond, bei James Welling, Oliver Laric oder Shahryar Nashat. In der Gemäldeserie Extremes Europa versucht Jutta Koether Relationen zwischen Individuum und Gruppe nachzuspüren. Inklusion und Exklusion sind dabei wesentliche Kräfte. Barbara Kapusta veranschaulicht diese Kräfte in ihrer Installation, in der Hände aus Keramik aus dem Boden ragen – Versinkende im Mittelmeer? Angesichts der Vielfalt und Übermacht an Dynamiken und Prozessen steht man vor Unerklärlichkeiten. Franz Wests Epiphanie an Stühlen weist uns den Platz vor dem Monströsen zu, das auf uns zurast. Ähnlich Franco Vaccari, der in seinem animierten Video einen sich nähernden Asteroid zeigt, der in letzter Sekunde abdreht. Rast die Welt auf Europa zu? Die von postkolonialen Fragen bestimmte Kunst von Renée Green unterstreicht von jeher das hybride Wesen von kultureller Identität. Die Verbindungen zwischen Vergangenem und Gegenwärtigem sind dabei immanent.
Europa neu zu denken kann sich nur als Reflexionsprozess ereignen. Die Moderne – als Verwalterin des antiken Erbes – war auch Teil der europäischen Expansion und der Fortschrittsideologie des Kapitalismus. Das eurozentristische Weltbild wird jetzt in den kolonisierten Ländern infrage gestellt. Damit – und das zeigt diese Ausstellung auf eindrucksvolle Art – entsteht ein Transformationsprozess, der diese Vormachtstellung betrifft und das Verständnis für diverse Kulturen und deren Egalität befördert. Davon handelt die Kunst im globalen Zeitalter. Davor können wir uns nicht verschließen, wenn wir Europa: Antike Zukunft denken, diese Ausstellung besuchen und das dichte diskursive Rahmenprogramm verfolgen.