New York. An der derzeit laufenden genreübergreifenden Ausstellung Grief and Grievance: Art and Mourning in America im New Museum überraschte mich als Erstes ihre Ausführlichkeit. Ganze vier Etagen sind Kunstwerken von überwiegend Schwarzen Kunstschaffenden gewidmet, die historische, aber auch aktuelle Themen zum Themenkomplex Rasse/Herkunft, Diskriminierung und Gewalt behandeln. Saidiya Hartman schreibt demgemäß im Katalog, die Ausstellung charakterisiere „das Nachleben der Sklaverei“.
Nach einem Jahr Unruhen im Gefolge des Mords an George Floyd durch die Polizei fragten sich viele in der Kunstwelt, wie Kunst- und Kulturinstitutionen auf diesen historischen Moment reagieren würden. Weil ihre Eröffnung terminlich ursprünglich vor die US-Präsidentschaftswahl gelegt worden war, beginnt Grief and Grievance auch mit Kommentaren zu dem, was war, was ist und was sie verändern könnte. Die Ausstellung war bereits seit 2018 in Planung und diese lange Vorbereitung merkt man ihr an. Es ist dies schlicht kein schnellschnell zu behandelndes Thema, und die Ausrichtung des Konzepts auf Wechselbezüge zwischen den Künstler*innen und Kunstwerken ist sehr ausgeprägt.
Ich beginne mit meiner Besprechung im vierten Stock. Er ist ganz der Abstraktion und der Symbolik gewidmet. Nichts ist klar und eindeutig, weswegen jede Deutung dem Publikum überlassen bleibt. Großartig an der Abstraktion ist ja, dass das Publikum mit der Kunst arbeiten und selbst Lösungen finden muss. Die Kunst ist aktiv und erfordert innere und äußere Reflexion. Ein Einzelwerk, und zwar Antoine‘s Organ (2016) von dem 1977 geborenen Rashid Johnson, nimmt als schwarzes quaderförmiges Stahlgerüst fast den gesamten Raum ein. Um zu sehen, was sich noch in ihm befindet, ist man also gezwungen, um die Installation herumzugehen. So dient sie gleichsam auch als Rahmen für die in diesem Stock ausgestellten Wandarbeiten. Die Augen des Publikums wandern mal hierhin, mal dorthin, um Johnsons Installation zwischen den zweidimensionalen Abstraktionen zu erkunden. Im Gerüst finden sich große Blöcke aus Sheabutter, kleine Retrofernseher mit Videoarbeiten, grelle Neonröhren, Bücher, Musik und unzählige Pflanzen. In der Mitte des Quaders steht eine Orgel, aus der gelegentlich Musik ertönt. Das Industriegerüst, die lebenden Pflanzen und die Objekte, die gemeinhin mit Blackness assoziiert werden, ergeben einen so starken Spannungsbogen, dass sie als Kommentar auf die Lebensumstände von Schwarzen gelten können.
Nicht weniger eindrücklich der dritte Stock. Kaum schafft man es, durch den Raum zu navigieren, so viele Narrative in verschiedenen Größen und Formen ziehen die Aufmerksamkeit an. Autobiography: Water (Ancestors/Middle Passage/Family Ghosts) (1988) von Howardena Pindell (geb. 1943) neben 14.719 (2019) von Hank Willis Thomas (geb. 1976) sind eines der stärksten Momente der ganzen Ausstellung. Pindells Leinwandbild in Acryl und Mischtechnik thematisiert den transatlantischen Sklavenhandel mit einem Sklavenschiff, Augen und Text, die markant um eine blasse Schwarze Figur im grob blau gemalten Wasser gruppiert sind. Hinter deren Kopf kommen weitere Figuren zum Vorschein, die zum Teil untertauchen. Im Text steht zu lesen, dass ein Sklave gesetzlich getötet werden konnte, wenn er seine Frau vor den Avancen des Peinigers zu schützen versuchte. Blickt man nach links, so umspannen dort Thomas’ meerblaue Banner die schmale Treppe ins nächste Stockwerk. Jeder weiße Stern auf den Fahnen steht für ein durch Waffengewalt ausgelöschtes Schwarzes Leben. Nebeneinander verbreiten die beiden Arbeiten Angst und Schrecken. Die ganze Brutalität der Morde an Schwarzen lastet uns auf den Schultern.
Aber auch andere Künstler*innen sind in diesem Stockwerk mit starken Installationen vertreten. So montierte Melvin Edwards (geb. 1937) an der Wand mehrere geschweißte Stahlskulpturen auf Augenhöhe, die an Gerätschaften zur Versklavung Schwarzer erinnern. Sie wurden offen gehängt und verweisen so auf eine Freiheit, die im Gegensatz zur noch sichtbaren gewaltsamen Knechtschaft steht. Die Entryways (2016 sowie 2019) von Diamond Stingily (geb. 1990) sind drei an die Wand gelehnte Türen. Die Türschlösser sowie an sie gelehnte Baseballschläger verweisen auf die Widersetzlichkeit Schwarzer Frauen, die unabhängig und beharrlich ihr Heim und ihre Familie beschützen.
Der nächste Raum ist voller Darstellungen Schwarzer Menschen. Kerry James Marshall (geb. 1955) malte sie in seinem unverkennbaren Stil mit überzeichnet dunkler Hautfarbe auf drei großformatige Leinwandbanner. Er stellte drei Schwarze Frauen dar, die um den Verlust von Schwarzen Vorbildern trauern. Jede von ihnen begegnet dem Blick des Publikums aus ihrem Wohn- oder Esszimmer heraus schützend, beinahe feindselig. Die Frauen gehen also direkt in Konfrontation, wie auch die einzige Figur, die Marshall detaillierter gemalt hat. Dabei handelt es sich um Martin Luther King. Auf dem vierten Gemälde wiederum ist ein Schwarzer Polizist abgebildet. Lässig an ein Polizeiauto gelehnt verweigert er den Dienst. Die gegensätzlichen Mienen von King und dem Polizisten lassen erkennen, dass Schwarzes Leid niemals eindimensional und eindeutig ist, und zwar sowohl was ihren Ausdruck als auch die daraus resultierenden Handlungen betrifft.
Ellen Gallagher (geb. 1965) und Kara Walker (geb. 1969) scheinen den Augen Schwarzer Mühe zu machen. Die Arbeiten der beiden teilen sich ein Stockwerk und stehen für mögliche Weiterentwicklungen der Blackness. Gallaghers Ansatz ist der kuriosere. Ihre hybriden Kreaturen stellen die ungeborenen Babys von Schwangeren dar, die während des transatlantischen Sklavenhandels über Bord geworfen wurden. Ihre Kunst findet im Leid Faszination. Walker indessen wirft uns die Wahrheit unverblümt vor die Nase. Ihr geht es um die Komplizenschaft oder zumindest die erzwungene Beteiligung Schwarzer an der Gewalt an Schwarzen. Ihre Bilderserien ziehen Weiße wie Schwarze für die von ihnen zu verantwortenden Taten zur Rechenschaft.
Fotografie und Video sind durchgängig tragende Elemente der Ausstellung. Die Fotos von Latoya Ruby Frazier (geb. 1982) aus Braddock in Pennsylvania sind gleichzeitig persönlich und bewusst zurückgenommen. Keinerlei Sensationslust trübt ihre Darstellung. Die Intimität der Sujets wirkt zwar identifikatorisch, verlangt aber gleichzeitig nach einem Kommentar. Der ganze Raum wirkt umso aufgeladener, als der Ton von Videos aus den anderen Stockwerken hereinhallt und die Stimmung auditiv verstärkt.
Die Videos umfassen ein breites Spektrum Schwarzer Wirklichkeit. Eines der ersten im Erdgeschoss ist Alone (2017) von Garrett Bradley (1986). Gezeigt wird eine Frau namens Aloné, die mit einem Inhaftierten verlobt ist. Die Familiendynamik legt das kaputte System unmittelbar anhand einer Lebensrealität offen. Der heute bereits gewohnte Voyeurismus nähert das Video zugleich dem Reality-Fernsehen an. Kummer und Rohheit sowohl des Themas als auch der Familie ziehen das Publikum in ihren Bann.
Künstlerisch ist Grief and Grievance eine großartige Ausstellung. Die Beiträge sind wohldurchdacht und damit mehr als eine bloße Illustration des kuratorischen Konzepts. Die einzige Frage, die sich mir beim Verlassen des Museums stellte, war, wem sie wohl gelte? Wie auch viele andere Ausstellungen mit ähnlichen Anliegen bekommt man als Schwarze Besucherin das Gefühl dazuzugehören, als sei man in einer Performance, mit der man seine Erlebnisse anhand der Ausstellungsstücke nachvollziehen und vergleichen kann. Allerdings frage ich mich, wie ich das wohl mit anderen Augen sähe – zum Beispiel als jemand, der oder die nicht versiert ist in der Kunst oder der/die nicht afroamerikanischer Herkunft ist.
Der Erfolg der Ausstellung besteht letztlich darin, was Besucher*innen daraus mitnehmen. Kunstschaffende fragen sich oft, ob ihre Arbeit wohl einen Unterschied macht. Dieselbe Frage stellt sich hier. Auch hier ist die Thematisierung Schwarzen Leids nur ein Angebot ans Publikum, sich um ein Verstehen zu bemühen und für politische Veränderungen starkzumachen.
Übersetzt von Thomas Raab