Budapest. Die diesjährige Ausgabe der OFF-Biennale Budapest, die erste und bisher einzige Graswurzelausstellung in Ungarn, die keine öffentlichen Gelder annimmt, musste aufgrund der Covid-19-Krise ein Jahr später eröffnen als geplant. In der Zwischenzeit bereitete sich das Kurator*innenteam – in seiner Funktion als Mitglied der sogenannten lumbung community, die von dem indonesischen Kurator*innenkollektiv ruangrupa ins Leben gerufen wurde – schon auf die Teilnahme an der documenta 15 vor. Eine der Stärken der OFF-Biennale ist die Tatsache, dass sie sich bei jeder Ausgabe erneuert: Zum dritten Mal hat das Kurator*innenteam beschlossen, nur mit einer Handvoll von Projekten zusammenzuarbeiten, die 2019 in einer offenen Ausschreibung ausgewählt wurden. Die Biennale betätigte sich auch als Produzentin: Dieses Jahr hatten alle Projekte ein beträchtliches Budget zur Verfügung und die Idee war, enger mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Der Ausgangspunkt für den großen Rahmen der Biennale war das Gedicht „Mehr Luft!“ des ungarischen Dichters Attila József aus dem Jahr 1935, das die Organisator*innen zu dem prägnanten Titel Inhale! inspirierte. Wie der kuratorische Text suggeriert, sollte die Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet werden, wie man der sich in der Krise verändernden Welt begegnet und wie alternative Lösungen für diese Situation aussehen könnten. Mit dem Ausbruch der weltweiten Pandemie und dem Aufkommen der Black-Lives-Matter-Bewegung gewann das Wort „Einatmen“ eindrücklich an aktueller Relevanz. Die Frage war, ob die dritte Ausgabe der OFF-Biennale die Schwierigkeiten einer Hybridveranstaltung würde meistern können, bei der eine Reihe von Veranstaltungen (Podcasts, Vorträge und Konferenzen) online abgehalten werden, aber viele Projekte auch offline stattfinden sollten. Ich würde sagen, die Antwort lautet „ja“, doch sehen wir uns die interessantesten Ausstellungen und Anstöße einmal genauer an.
Es lassen sich zwei Hauptströmungen erkennen: Zunächst gab es Projekte, die sich mit unserem Verständnis der Vergangenheit auseinandersetzten, wie zum Beispiel die Online-Ausstellung Order and Dreams („Ordnung und Träume“) der Vera und Donald Blinken Open Society Archives, die die Parallelen zwischen unserer aktuellen Situation und der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen in den 1930er-Jahren aufzeigte. Die forschungsbasierte Ausstellung Transperiphery Movement von Eszter Szakács und Zoltán Ginelli untersuchte die Verbindungen und Netzwerke zwischen Osteuropa und den Ländern des Südens im 20. Jahrhundert. Das Projekt The Little Melting Pot von Bence György Pálinkás und Judit Böröcz war eine Audioführung, die sich mit dem Konzept „Nation“ und der Rolle von Minderheiten im 19. Jahrhundert befasste, und die RomaMoma-Projekte behandelten ein ähnliches Thema, indem sie sich auf die Darstellung marginalisierter Gemeinschaften konzentrierten.
Die charakteristischsten Projekte der zweiten Kategorie befassten sich mit unserer aktuellen ökologischen, ökonomischen und sozialen Krise und näherten sich der Problematik aus verschiedenen Perspektiven an. Dabei entwarfen sie verspielte, spekulative, fiktive und imaginäre Szenarien, die zum Teil ungewöhnliche Situationen entstehen ließen. Die Künstlergruppe xtro realm hat sich die fiktive Agentur ACLIM! Agency for Climate Imaginary („Agentur für das Klima-Imaginäre“) ausgedacht, um die Rolle der Fantasie bei der Bewältigung des Klimawandels und der damit zusammenhängenden Ängste in den Vordergrund zu stellen. Ihre Ausstellung hat aber nicht nur neue Werke präsentiert, die unter anderem die Tradition der Schamanen neu dachten und sich mit dem Verschwinden des Echos von Tihany befassten, sondern stellte auch ihre forschungsbasierte Arbeitsmethode heraus und zeigte verschiedene Interviews mit Expert*innen der jeweiligen Bereiche. Für xtro realm ist diese Herangehensweise nicht überraschend, weil sie seit ihren Anfängen einen interdisziplinären Ansatz verfolgen, der sich auf die Wissensvermittlung und die Verknüpfung von Kunst und Wissenschaft stützt. Kann die Kunst dabei helfen, neue, imaginäre Konzepte für die Zukunft zu entwickeln und den Menschen die Angst vor der ökologischen Katastrophe zu nehmen? Die Ausstellung MENU Imaginaire fokussierte sich auf zukünftige Ernährung, was ihr Untertitel What do you eat when ressources are limited? verdeutlicht. Sie näherte sich dem Thema mit Ironie, Humor, aber auch mit aufschlussreichen Perspektiven an und ließ dabei die Grenzen zwischen Kunst, Design und Wissenschaft verschwimmen. Wie sieht unser grundlegendstes Bedürfnis, nämlich nach Nahrung, aus der Sicht spekulativer Zukunftswissenschaft aus? Und welche Rolle wird künstliche Intelligenz im Rahmen der Lebensmittelindustrie künftig spielen?
Apropos Zukunft: Die hungarofuturistische Gruppe, die unter dem Titel Those who are not with us, are also with us eine spannende Online-Konferenz abgehalten und eine Zeitschrift (Xenotopia) herausgegeben hat, hat auch die Ausstellung von Igor und Ivan Buharov organisiert. In einer eindringlichen Installation und in verschiedenen Filmen haben die Künstler das revolutionäre Potenzial von Pflanzen untersucht und sind der Frage nachgegangen, welch befreiende, weil heilsame und entspannende Wirkung sie auf unser Leben haben können. Ihre unwirkliche, märchenhafte Darstellung stand in krassem Gegensatz zum Projekt Everyday Shortcomings der PAD-Gruppe, das sich auf unzureichende öffentliche Dienstleistungen und die Lebensbedingungen von Gemeinschaften am Rande der Gesellschaft konzentrierte und aufzeigte, wie es ist, wenn alltägliche Handlungen, wie das Duschen mit heißem Wasser, nicht möglich sind. Ihre Recherche über Ausgrenzung und Wohnungskrise in Ungarn war sicher nicht leicht, im Ausstellungsformat umzusetzen. Trotzdem ist es ihnen auf spielerische und bewegende Weise gelungen. In der Ausstellung können die Besucher*innen einen Tag unter solch schwierigen Bedingungen durchleben und lernen dabei, wie viel Wasser vom Brunnen geholt werden muss, um Kleider zu waschen. Das Projekt von PAD macht nicht nur auf die Situation aufmerksam, sondern zeigt Interviews und präsentiert auf der Basis soziologischen Hintergrundwissens mögliche Lösungsvorschläge für die Situation (wie zum Beispiel beheizte Wasserquellen).
Von forschungsbasierten Projekten zu spekulativer Fiktion: Alle Projekte betrachten die aktuelle Krise aus verschiedenen Blickwinkeln, plädieren aber alle gleichermaßen für ein Konzept radikaler Vorstellungskraft als Basis für einen Dialog über Veränderung. Auch tappen sie nicht in die Falle und jammern nur über die Krise, sondern unterstreichen, dass Kunst durchaus in der Lage ist, einen Wandel herbeizuführen, wenn die Expert*innen in den relevanten Bereichen zusammenarbeiten. Insofern kann das Projekt Alone with the Bees der Architektengruppe AU Workshop gewissermaßen als Epilog der Biennale angesehen werden. Sie interessierte sich für die Architektur des Bienenstocks und erschuf zum Zweck der Beobachtung einen abgeschiedenen Ort. Man sitzt in einer Hütte im Wald und beobachtet die Bewegung der Bienen und den Bau einer Honigwabe. Und vielleicht ist es genau das, was wir nach dem turbulenten vergangenen Jahr brauchen: Entschleunigung und Entspannung, allein mit den Bienen.
Übersetzt von Bettina Arlt