Heft 2/2021 - Artscribe


Lydia Ourahmane – Barzakh

2. März 2021 bis 6. Mai 2021
Kunsthalle Basel / Basel

Text: Nika Timashkova


Basel. Die Warnung „24/7 under surveillance“ löst den Reflex aus, die Ecken des Raums nach Überwachungskameras abzusuchen. Keine in Sicht. Man betritt die Ausstellung Barzakh der Künstlerin Lydia Ourahmane. Auf der Metalloberfläche einer Kühlschranktüre sind Fotostreifen mit Freund*innen verstreut, vereinzelte Buchstaben verdichten sich zu Wörtern, Magnetsouvenirs grüßen aus Barcelona und Marseille und eine Notiz adressiert „Lydia, I went to get some loubia. A. A.“ Ein paar Meter weiter bilden weitere Holzmöbel Cluster und verweisen auf Zimmer, denen sie entnommen wurden. Eine liegen gebliebene Haarbürste auf der Kommode, Ölspritzer sowie verkrustete Essensreste auf dem Herd und die konstant leuchtenden Lampen vermitteln den Eindruck, dass hier eine Person wohnt und ihren Alltag lebt. Begleitet von fortwährenden Geräuschen, welche gelegentlich zu einem monotonen Brummen mutieren, durchquert man diese Privatsphäre als Eindringling. Der Ausstellungskontext gibt den Besucher*innen einen Vorwand, um Literatur, die sich auf den Sideboards stapelt, Notizhefte und kleine Schälchen mit Krimskrams zu durchforsten. Mit teilweise gemischten Gefühlen nimmt man die gleichzeitige Ab- und Anwesenheit des Raums wahr, die an Wohnungen von Vertriebenen oder Verstorbenen erinnert.
Die Einrichtungsgegenstände in der Ausstellung stammen aus Ourahmanes ehemaliger Wohnung in Algier, die sie von ihrer verstorbenen Vormieterin unverändert übernommen hat. Die besagte Vormieterin zog aus Deutschland nach der Scheidung nach Algerien zurück. Genau wie ihre zurückgekehrte Vormieterin durchlebt Ourahmane einen zweifachen Migrationsprozess. Nachdem sie als Kind mit ihren Eltern nach London emigrierte, wo sie ihren Abschluss am Goldsmiths College of Art machte, kehrte sie in ihr Herkunftsland zurück. Durch die gemeinsame Benutzung der Gegenstände und Einrichtung überlagern sich die Geschichten und Erinnerungen der beiden Frauen, die sich nie treffen konnten.
Das Silbertablett der Vormieterin brachte die Künstlerin dazu, Getränke zu servieren und so eine dienende Rolle einzunehmen. „Ich belud es, trug es den Flur entlang und setzte es auf dem Marmortisch im Wohnzimmer ab: eine Handlung, die ich aufgrund der Anwesenheit des Tabletts geerbt habe“, erzählt die Künstlerin im Interview mit der Kuratorin Elena Filipovic. Auf diese Weise prägen Räume und vorgefundene Gegenstände wiederum den Körper. Der Türrahmen mit zwei Türen inmitten des Ausstellungsraums, welcher von politischen Umwälzungen zeugt, erweitert die Biografien. Die innere Holztür stammt von 1901, dem Baujahr des Gebäudes, welches durch die französische Kolonialregierung nach Vorbild des Mutterlands erbaut wurde. Architektur wurde zum Herrschaftssymbol. Die äußere Metalltüre und weitere Schlösser, die während des Bürgerkriegs in den 1990er-Jahren hinzugefügt wurden, veränderten ebenso die Handlungs- und Denkweise der Bewohnenden.
Das Brummen verstummt. Beim Durchschreiten des Zwischenraums passiert man ein Landschaftsbild und eine Lampe und landet im letzten Raum, wo die Idylle durch Pflanzen sowie eine Nachtleuchte in Form eines Hauses verstärkt wird. Die Ruhe trügt. Ein Laserstrahl projiziert durchs Fenster über den Hof der Kunsthalle und wird von einem kleinen Spiegel wieder ins Innere des ersten Raums reflektiert. Ein weiterer Laserstrahl, der den Raum durchquert, wird wiederum gespiegelt und trifft die Stereoanlage. Es sind die Störungen, welche durch Wetterbegebenheiten draußen entstehen, die im Ausstellungsraum zu hören sind. Besucher*innen werden zur Komplizenschaft gezwungen, denn gerade ihre Körper durchbrechen den Laser und verhindern die Übertragung. Während sie den Geräuschen von draußen lauschen, werden sie gleichzeitig von den fünf grauen halbtransparenten Glasskulpturen, die verstreut auf Möbeln stehen, belauscht. Die stummen Beobachter*innen registrieren die übermittelten sowie von den Besucher*innen produzierten Geräusche. Die Warnung an der Tür erweist sich als berechtigt, denn die Titel der Abhörgeräte sind Telefonnummern, die 24/7 ein Belauschen auch außerhalb der Ausstellung ermöglichen.
Gekonnt entfaltet Ourahmane mit intimen Objekten Themen wie Migration, Heimat, Kolonialismus und Furcht, wobei das Zuhause zum Archiv eines kollektiven Gedächtnisses wird. Die Stärke der Arbeit ist, dass trotz der heimeligen Atmosphäre ein konstantes Gefühl der Überwachung die Besucher*innen nicht entspannen lässt. Obwohl Ourahmane ihre Privatsphäre in der Öffentlichkeit exponiert, schafft sie es, den Blick umzulenken. In der Ausstellung nimmt man durch das Eindringen in die Privatsphäre eine invasive Rolle ein. Was bleibt, ist ein Gefühl des Dazwischen. Zwischen den Zeiten, den Leben der Bewohnerinnen, dem kolonialen und unabhängigen Algerien. Barzakh, welches im Arabischen einen Zwischenraum bezeichnet, zieht sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung. Besucher*innen sind trotz Anleitungen sich selbst überlassen. Die fehlenden vier Wände werden Reflexionsfläche.