München. Durchstreift man die Ausstellung frontier von Phyllida Barlow im Haus der Kunst München kommt man den bisweilen riesigen Skulpturen und Installationen unweigerlich nahe. Manche der kleineren Räume sind vollgepackt mit gigantischen Säulen, unzähligen bunten Stoffbannern, einer hausartigen Struktur im Dialog mit einem riesigen Megafon auf einem hohen Ständer, einem Meer aus bunten Klebebändern gemixt mit Zementrohren. Barlows Objekte arbeiten mit und gegen den Raum, immer wieder stellen sie sich ihm entgegen, breiten sich aus, am Boden wie in lichte Höhen. Bauholz, Industriefarbe, Zement, Stoffbahnen, Plastikschläuche, Stahl- und Eisenrohre, Beton, Sprühfarbe, Schaumstoff oder Styropor sind einige der alltäglichen Materialien, die Barlow verwendet. Die größte Schau der Künstlerin bisher ist keine klassische Retrospektive, die die chronologische Entwicklung des Werks vor Augen führt, sie gibt vielmehr einen umfassenden Einblick in das Werk, dessen große Arbeiten allein aufgrund der Ausmaße und dem mangelnden Depotraum nicht erhalten geblieben sind bzw. in Teilen immer weiter neu verarbeitet wurden. Phyllida Barlows Arbeiten deklinieren wichtige skulpturale Themen, wie Ausdehnung, Höhe, Expansion, Gleichgewicht, Sockel, Akkumulation, Zerstörung und Instandsetzung/Reparatur, Bewegung, Rhythmus etc. Sie sind gebastelt, zusammengeschustert, wirken instabil, sind bisweilen gigantisch. Immer legen sie ihre Bauart, ihre Konstruktion offen. Die Künstlerin interessiert der Kollaps, das Zusammenfallen, der Bruch, Dinge, die falsch sind, die sie reparieren, zusammenflicken kann. Sie liebt Skulpturen, die größer sind als sie, das Monumentale, Arbeiten, die sich den Betrachter*innen in den Weg stellen, die sich manchmal nur schwer erfassen lassen, weil sie sich erst aus mehrfacher Perspektive erschließen.
1944 geboren, studierte sie Bildhauerei am Chelsea College of Art und der Slade School of Fine Art in London, anschließend unterrichtete sie bis zum Alter von 65 Jahren. Sie war in Künstlerkreisen bekannt und an einigen internationalen Ausstellungen beteiligt. In den 1980er-Jahren stellte Barlow auf Spielplätzen, in verlassenen Häusern und in Fabriken in London, wo sie auch lebt, aus. In den 1990er-Jahren platzierte sie ihre Arbeiten einfach auf der Straße oder schmiss sie des Nachts in die Themse. Ein Publikum, Käufer*innen gab es selten. Ihre Karriere nahm erst in den letzten zehn Jahren, beginnend mit einer Schau im Studio Voltaire in London 2010, Fahrt auf. Im selben Jahr war auch die Ausstellung street in der BAWAG Foundation in Wien zu sehen. Heute fragt man sich staunend, wie es geschehen konnte, dass diese Künstlerin jahrzehntelang ihr bedeutendes Werk weiterentwickelte, ohne angemessene Beachtung zu finden. 2017 schließlich bespielte sie den britischen Pavillon auf der Biennale in Venedig.
Die Ausstellung zeigt in zehn Räumen des Ostflügels nicht nur 33 größere und kleinere Skulpturen, sondern auch einen Raum mit fast 80 Arbeiten auf Papier. Das sind die einzigen, die in die späten 1960er-Jahre zurückreichen, die großen Arbeiten stammen alle aus den letzten zehn Jahren. Phyllida Barlow konnte pandemiebedingt leider nicht beim Aufbau in München dabei sein, dirigierte jedoch den Installationsprozess ihrer Assistent*innen via Zoom aus der Ferne. Die ungeheuer großen und vor allem auch hohen Räume machen den in anderen Kontexten oft riesigen Arbeiten bisweilen Konkurrenz, der „Sieg gegen den Raum“, also das Sprengen und Überwältigen des Raums, den sie in einem Text zu ihren Erfahrungen beim Aufbau dieser Ausstellung erwähnt, gelingt nicht immer. Wenn man als Besucher*in die Dimensionen der Arbeiten kaum mehr erfassen kann, fast erschlagen und überwältigt wird, wenn die Präsentation wirklich dicht wird, dann ist sie am überzeugendsten.
Gut beobachten kann man das im zentralen zwölf Meter hohen Mittelsaal. Betritt man ihn, erhebt sich eine riesige schräge Bühne, scheinbar notdürftig zusammengezimmert aus bunten bemalten Presspanplatten, die entfernt an Gemälde gemahnen. Man begegnet ihr zunächst von hinten unten, ein fast höhlenartiger Raum tut sich auf. Die Bühne steht auf zementverschmierten Beinen und reckt sich nach oben und unten mit klobigen Zementauswüchsen. Insgesamt sechs Arbeiten ragen als Turm in schwindelnde Höhen, hängen als bunte Stoffbahnen an einer langen Wand oder stehen als riesige graue Banner im Raum. Beim Herumstreifen entdeckt man immer wieder neue unerwartete Einblicke, Durchsichten und überraschende Überscheidungen.
Phyllida Barlow selbst spricht vom Zusammenspiel des Raums, ihrer Arbeiten und des Publikums in den Ausstellungen. Betrachter*innen werden so zu Performer*innen, weil sich die Arbeiten in ihren Bewegungen und Blicken erst entfalten. Die Skulpturen brauchen den performativen Akt durch das Publikum, sie brauchen den Raum und die Zeit, in der sie erfahrbar werden, erst so werden sie aktiviert.
Architektur, Straße und Stadt spielen in den Arbeiten von Phyllida Barlow eine herausragende Rolle. Stellt man ihre Ästhetik der heutigen slicken Architektur des Finanz- und Immobilienkapitalismus – gerade in London – gegenüber, dann wird das Spielerische, der Humor, aber besonders auch das Widerständige, Gegenläufige, quasi Unsaubere und damit die eminent politische Dimension des Werks ganz deutlich.