Heft 2/2021 - Dinge, die uns trennen
„Tradition ist nicht die Anbetung der Asche,
sondern die Weitergabe des Feuers.“
(Jean Jaurès)
In der soziologischen Forschung ist der Begriff der kollektiven Identität mitunter umstritten; eine Tatsache, die sich aus einer starren Begriffsauffassung ergeben mag. Das 21. Jahrhundert ist geradezu prädestiniert, die Hybridität und Dynamik kollektiver Identitäten aufzuzeigen. Niemals zuvor war es für ein Individuum möglich, gleichzeitig mehrere kollektive Identitäten in sich zu vereinigen beziehungsweise so schnell eine durch eine andere zu ersetzen. Sie sind schließlich ein soziales Konstrukt, das – wenn auch nicht ausschließlich – oftmals auf der gemeinsamen Vorstellung einer Vergangenheit beruht, aus der sich mitunter eine gemeinsame Vorstellung der Zukunft ergeben kann. Das Kollektiv kann eine Nation, eine ethnische Gruppe, eine Glaubensgemeinschaft, eine politische Partei, eine Untergrundbewegung oder auch eine Subkultur darstellen. Traditionen und damit verbundene Riten bilden dabei den sozialen Kitt einer solchen kollektiven Identität. Als kulturelle Praxis eignen sie sich hervorragend, den Gemeinschaftssinn zu festigen – und sich gleichzeitig von anderen Gemeinschaften abzugrenzen.
Die Begriffe Tradition und Ritus waren nicht nur wissenschaftsgeschichtlich lange Zeit mit den Terminus Brauchtum verbunden – den wohl heute einige Kollektive, auch wenn sie sich dieser Praxis bedienen, a priori ablehnen würden, sind sie doch mit konservativen Wertvorstellungen und gelegentlich auch mit starrem Anachronismus assoziiert. Das gilt umso mehr, wenn diese Begriffe auf Objekte der Volkskunst, die für den größten Zeitraum im Zentrum der wissenschaftlichen Disziplin der Volkskunde (heute Europäische Ethnologie) stand, angewandt werden. Doch stellen diese Gegenstände – ob sie nun Trachten oder anderen Textilien, Kunsthandwerk, Musik, Alltagsgegenständen oder der religiösen Volkskunst zugeteilt werden – in der Regel Teile einer kulturellen Praxis dar.
Um 1900, als sich die Volkskunde zu einer wissenschaftlichen Disziplin entwickelte, trieb die Jagd nach Brauchtumsbelegen seltsame Blüten, die wohl einen ihrer Höhepunkte in der musealen Präsentation von der Asche eines Sonnwendfeuers im Volkstumsmuseum in Halle an der Saale fand. Möglichkeiten verpflichten. Im Wiener Volkskundemuseum stellte dessen Gründer und erster Direktor, Michael Haberlandt (1860–1940), lediglich „Weihscheitel“, Hölzer von der Feuerweihe am Karsamstag, aus. Leopold Schmidt (1912–81), der nachkriegszeitliche Doyen der Wiener Volkskunde, beschrieb bereits in den 1960er-Jahren treffend diese „Fehlkonservierungen von Erlebnisresten“ – auch wenn er gleichzeitig die Ansicht vertrat, dass die „Volksfrömmigkeit eine der innersten Kammern jeglicher Volkskultur bedeutet“. Dennoch handelt es sich bei diesen Museumsobjekten um weitaus mehr als nur Erlebnisreste oder Belege des eigenen, subjektiven und teilnehmenden Erfahrens traditionellen Brauchtums. Im musealen Kontext erfahren diese Objekte einen Bedeutungswandel. Sie präsentieren nicht selten Bestandteile „erfundener Traditionen“ (invented traditions), wie sie der Historiker Eric Hobsbawm (1917–2012) betitelt hat. Diese erfundenen Traditionen spielten in der späten Habsburgermonarchie und in ihren Nachfolgestaaten eine wichtige Rolle. Eine davon – der wohl eines der ephemersten Museumsobjekte zu verdanken ist – soll in ihrem Bedeutungswandel hier dargelegt werden: das Sonnwendfeuer.
Die Sommersonnenwende ist nur eines von zwei Solstitien, die jeweils einmal im Jahr den höchsten beziehungsweise zur Wintersonnenwende den niedrigsten mittäglichen Sonnenstand bezeichnen. Die Sommersonnenwende tritt auf der Nordhalbkugel zwischen dem 20. und 22. Juni ein. Die großen Feuer, die rituell in der Nacht der Sommersonnenwende auf genehmigungspflichtigen Freiflächen entzündet werden, sind europaweit auch unter den jeweils regionalen Namen als Johannisfeuer oder Mittsommerfeuer bekannt. Inwieweit sich Riten in Zusammenhang mit der Sommersonnenwende in die prähistorische, also schriftlose Zeit zurückverfolgen lassen, kann nicht geklärt werden, doch sind für einige der vielen frühgeschichtlichen und vorchristlichen Gottheiten, die mit der Sonne in Verbindung stehen, Feuerbräuche zur Sommersonnenwende belegt.
Die katholische Kirche ersetzte – wie schon andere Kulturen vor ihr – althergebrachte Feiertage durch christliche. Augustinus von Hippo (354–430), einer der lateinischen Kirchenväter des frühen Christentums, legte den 24. Juni als Geburtstag Johannes des Täufers fest, der somit genau sechs Monate vor dem angenommenen Geburtsdatum Jesu zur Wintersonnenwende am 25. Dezember Eingang in den Ritus der Kirche fand. Johannes ist außer Jesus und Maria der einzige Heilige, dessen Geburtstag in der christlichen Kirche gefeiert wird. Johannes soll Jesus nicht nur getauft haben, er wird auch als sein Wegbereiter angesehen: „Er war die brennende und scheinende Leuchte“, wie im Johannes-Evangelium zu lesen ist (Joh. 5,35). Trotz der zwei Jahrhunderte später eingeführten zusätzlichen Morgen- und Mitternachtsmessen verlor die praktizierte Volksfrömmigkeit am Johannistag auch in den folgenden Epochen kaum etwas von ihrem vorchristlichen Brauchtum.
Das Feuer, das umtanzte wurde oder über das man sprang, sollte Glück bringen, gegen Krankheiten schützen und einem Paar, das gemeinsam darüber sprang, die Hochzeit versichern. Weitere Bräuche des Johannisfeuers waren mit der Landwirtschaft verbunden. Je weiter man etwa über das Feuer springen konnte, desto länger sollte der Flachs wachsen; das Vieh wurde über die Glut getrieben, um gesund zu bleiben. Der Blick ins Feuer sollte die Zukunft verraten. Darüber hinaus pflegte man besondere Speisen und Getränke zu sich zu nehmen. Kräuter, die ebenfalls nach Johannes dem Täufer benannt waren, wurden für vielfältige Abwehrzauber und andere magischen Praktiken gesammelt und verwertet.
Weder die Reformation noch die beginnende Aufklärung konnten dies unterbinden. Im anschließenden Barockzeitalter entfaltete sich schließlich das Brauchtum im Rahmen der Volksfrömmigkeit einmal mehr, mit dem Einverständnis der kirchlichen und weltlichen Macht, die diese in Prunk und Pracht des Barock einbetteten. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts wurden die festlichen Feuer jedoch zunehmend aus den Städten verbannt. So wurde etwa das Johannisfeuer in Wien, das jährlich auf dem Platz Am Hof entzündet, umtanzt und übersprungen wurde – während die Gemeinde auf ihre Kosten Bier für alle ausschenken ließ –, im Jahr 1724 „wegen dabei verübter Unzukömmlichkeiten behördlich abgestellt“. Neben der Bandbreite begleitender Unzukömmlichkeiten war schließlich gerade in Städten die Feuergefahr nicht zu unterschätzen.
In ländlichen Regionen, insbesondere in der Peripherie der Habsburgermonarchie, hielt sich jedoch der Brauch des Johannisfeuers, wenn auch nicht durchgehend. Und ebendort erfuhr er im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts einen Bedeutungswandel, der sich erst im Kontext der historischen Ereignisse erschließt. Im Vielvölkerstaat der späten Habsburgermonarchie verloren die Liberalen, deren Patriotismus bis dahin von einem „guten Österreichertum“ im Sinne der Habsburgermonarchie in Kombination mit einem „bewussten Deutschtum“ geprägt war, zunehmend ihren gesellschaftspolitischen Einfluss an antiliberale Strömungen mit deutschnationalem, antisemitischem und antislawischem Gedankengut. Dazu kam, dass man unter dem Begriff „großdeutsche Lösung“ in der Frankfurter Nationalversammlung das Modell eines deutschen Nationalstaats unter Einschluss und Führung des Kaisertums Österreich diskutiert hatte. Diese Pläne des verfassungsgebenden Gremiums der Deutschen Revolution von 1848 wurden zwar erst knapp ein Jahrhundert später unter anderen Voraussetzungen und in einer anderen Form durchgesetzt, doch trugen sie schon Ende des 19. Jahrhunderts beträchtlich zum Bedeutungswandel der „nationalen“ Identität der deutschsprechenden Österreicher*innen der Habsburgermonarchie bei. Tatsächlich war es hier zu einem Identitätsvakuum gekommen: Im Gegensatz zu den ungarischen, slawischen und italienischen Bewohner*innen der Habsburgischen Kronländer, die im beginnenden Zeitalter der Nationalstaaten eine Einheit des Rezepts von gemeinsamer Sprache, Religion und Abstammung – das der französische Religionswissenschaftler Ernest Renan (1823–92) bereits 1883 als ungenießbar dargestellt hatte – für sich behaupten konnten, gerieten die deutschsprechenden Österreicher*innen zunehmend in eine Identitätsverlegenheit. Die deutschsprachige Kulturnation, die geraume Zeit ohne eigenen Nationalstaat als gegeben angenommen worden war, erodierte nach 1848 zunehmend in der Habsburgermonarchie.
Die Idee der Vereinigung aller deutschsprachigen Nationen hat ihre Wurzeln in der deutschen Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Beschäftigung mit dem germanischen Erbe einen ersten Höhepunkt fand, der sich sowohl in Kunst und Literatur niederschlug wie auch in einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung. Den Ausgangspunkt bildeten Märchen und Sagen, Jacob Grimms Deutsche Mythologie (1835) und Ludwig Uhlands Der Mythos von Thor (1836), die für die Rekonstruktion volkskundlichen Brauchtums ausgewertet wurden.
Diesen aus heutiger Sicht zum Teil unwissenschaftlichen Analogieschlüssen nahmen sich auch die völkischen und deutschnationalen Bewegungen in der Habsburgermonarchie an. Schutzvereine, Turnvereine, Heimatvereine und andere, oftmals unterstützt von der örtlichen Elite, aber auch von der wissenschaftlichen Elite aus der Metropole Wien, klärten die deutschsprachige Bevölkerung über ihren vermeintlichen Ursprung im Germanischen auf und betrieben aktiv die „Wiedereinführung“ von Traditionen – teils auf der Grundlage besagter Analogieschlüsse. So berichtet etwa die Zeitschrift für österreichische Volkskunde im Jahr 1903, dass es dem „unermüdlichen, schaffensfreudigen Bund der Deutschen Nordböhmes“ zu verdanken sei, dass in den letzten Jahren „diese alten, fast vergessenen Sitten und Gebräuche unserer Vorfahren zu neuem Leben“ erweckt worden seien. Schließlich liegt es im Wesen erfundener Traditionen, Kontinuität mit der Vergangenheit zu suggerieren und dadurch eine Legitimation der Gegenwart zu erreichen. Parallel mit der Wiedereinführung des Brauchtums wurden auch Begriffe und Bezeichnungen „wiedereingeführt“: Nicht zuletzt, weil die völkischen und deutschnationalen Gruppen den Katholizismus ablehnten, der eng mit der Habsburgerdynastie verbunden war, wurde aus dem Johannisfeuer das Sonnwendfeuer.
Im nördlichen Waldviertel, an der heutigen Grenze zur Tschechischen Republik, befindet sich in der Nähe von Schloss Rosenau bei Zwettl ein eindrucksvolles Zeugnis jenes nationalistisch intendierten Neologismus: der Bismarckturm Georg (Ritter von) Schönerers (1842–1917). Schönerer, Führer der Deutschnationalen und später der „Alldeutschen“ Österreichs, der einige Jahrzehnte später Adolf Hitler zum Vorbild gereichen sollte, war glühender Verehrer des deutschen Kaisers Wilhelm I. (1797–1888) und des Reichskanzlers – und „Reichseinigers“ – Fürst Otto von Bismarck (1815–98). Derartige Bismarcktürme, mit Feuerschalen auf dem Turmkopf, wurden in ganz Deutschland – und darüber hinaus – errichtet, insbesondere nach dessen Ableben. Alle Bismarcktürme sollten an gewissen Tagen gleichzeitig befeuert werden: zu Bismarcks Geburtstag, zu seinem Todestag, aber auch zur Sommersonnenwende. Auch wenn Sonnwendfeuer unter diesem Namen in der Stadt Zwettl nachweislich schon seit 1890, in Anwesenheit Schönerers, entzündet wurden, so brennt es am Bismarckturm bei Schloss Rosenau mit dem Konterfei des ehemaligen Reichskanzlers auf der Südseite immer wieder seit 1907.
Der österreichische Ständestaat (1934–1938), der sich wie sein Nachfolger auf den Einsatz propagandistischer Symbole verstand, konnte sich für die, auch in ganz Wien, inszenierten Feuer nicht zwischen den Bezeichnungen Johannisfeuer und Sonnwendfeuer entscheiden – und führte schlichtweg beide an. Dies erklärt sich nicht zuletzt aus der ideengeschichtlichen Nähe des Ständestaats zur katholischen Kirche. Mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten wurde die Sonnwendfeier in Anlehnung an vermeintliche germanische Mythen zu einem „Schicksalspunkt des Jahres“, einer „Sippen- und Gemeinschaftsfeier“, bei der „heilige Feuer“ entzündet wurden. Die Sonnwendfeier im Berliner Olympiastadium, die seit 1937 abgehalten wurde, war ein aufwendig inszeniertes Spektakel. Das Dritte Reich brachte eigene Liturgien zur Sonnwendfeier heraus, die etwa in der Zeitschrift Volkstum und Heimat veröffentlicht wurden. Der Ablauf vom Sonnenaufgang bis zur „Feierstunde am Feuer“ war schwülstig und detailliert beschrieben, selbst Vorlagen für die „Feuerrede“ wurden mitgeliefert. Selbstverständlich durften auch Bastelanleitungen für die „Wiederbelebung sinnvollen Brauchguts in der Familie“ nicht fehlen. Als Vorlage dienten frei interpretierte und dem Stil der Zeit angepasste frühmittelalterliche Funde aus den skandinavischen Ländern.
Der wiedereingeführte Begriff des Sonnwendfeuers hat sich über das Dritte Reich hinaus bis heute erhalten. In der Zweiten Republik werden Sonnwendfeiern von verschiedenen politischen und religiösen Lagern in gefälliger Datumsnähe zur Sommersonnenwende getrennt abgehalten. „Feuerrede“, Gesang, der Sprung über das Feuer und allfälliger „Volkstanz“ gestalten sich je nach politischer und religiöser Einstellung. Auch wenn sich im rechten Lager die Sonnwendfeiern in ihrer erfundenen Tradition erhalten haben – so führt der Verfassungsschutz in Deutschland die Sonnwendfeiern in seinem Handbuch zur rechtsextremistischen Szene an –, sind es die Nachfolger der großen säkularen Fortschrittsideologien, die dieses Ritual ebenso für sich beanspruchen. Zunehmend springen auch neureligiöse Gruppierungen ökologischer, feministischer, polytheistischer oder monistischer Ausrichtungen über das Feuer. Dass Sonnwendfeuer jedoch auch ein vermittelndes und übergreifendes Potenzial bergen können, belegt die größte Sonnwendfeier Europas, die jährlich in der Grafschaft Wiltshire in England in den Ruinen von Stonehenge gefeiert wird. Hier finden sich schließlich Besucher*innen jeder Couleur, die zumindest nebeneinander bis in das Morgengrauen die Asche ihrer Vorstellung einer Vergangenheit anbeten. Auch wenn das Feuer, das einige von ihnen weitergeben, ganz und gar nicht im Sinne des französischen Sozialisten Jean Jaurès (1859–1914) war, der diese Metapher einst gegen einen konservativen Nationalisten im französischen Parlament ins Treffen führte.
Literatur:
Albert Fuchs, Geistige Strömungen in Österreich 1867–1918. Wien: Löcker Verlag1984 1949.
Eric Hobsbawm/Terence Ranger (Hg.), The Invention of Tradition. Cambridge University Press 2014 1983.
Ernest Renan, Qu’est-ce qu’une nation? Conférence faite en Sorbonne, le 11 mars 1882. Paris: Calmann Lévy 1882.
Leopold Schmidt, Das österreichische Museum für Volkskunde. Werden und Wesen eines Wiener Museums. Wien: Bergland Verlag 1960.