Heft 2/2021 - Netzteil


Von virtuellen Paradiesgärten und produktivem Nichtstun

Zum erstmals stattgefundenen Wiener Medienkunstfestival CIVA

Helena Schmidt


„Do nothing & swipe.“ Nichtstun und Wischen. Über den smarten Screen, auf Social Media Interfaces, Dating-Apps, digitalen Fotogalerien, virtuellen Kunstausstellungen. Grundsätzlich ist Swipen ja mehr als ein Nichtstun, doch ist die Versunkenheit beim quasi-automatisierten Streichen über die Smartphone-Oberfläche bekannt. Emmanuel Gollobs Arbeit fordert auf, ebendieses Moment produktiv zu machen. Mittels Swiping und eingefangener Gesichtsausdrücke steuern Betrachter*innen das interaktive Kunstwerk und bewegen damit ein digitales industrielles Ballett, bestehend aus schwarzen, metallisch glänzenden Formen vor dunkelgrauem Hintergrund, die an Roboterarme aus der Autoindustrie oder mutierte, synchron tanzende Bohrmaschinen mit Schwenkgelenken erinnern.

Bonding, Positivity, Empowerment
Gollobs Arbeit ist eine von vielen Positionen, die im Februar bei Wiens neuem Medienkunstfestival CIVA (ausgesprochen wie cyber) zum virtuellen „Anbandeln“ trotz sozialer Distanz einluden. Unter der Leitung von Eva Fischer kuratierten Angie Shahira Pohl, Martina Menegon, Tonica Hunter, Ayo Aloba, Dalia Ahmed, Marija Milovanovic, Marijn Bril und Laura Welzenbach ein neuntägiges Programm zum Thema Contemporary Immersive Virtual Art (CIVA). In Zeiten der allgemeinen physischen Distanz bietet sich virtuelles Bonding thematisch an – vor allem in Bezug auf Gegenwartskunst, deren (post-)digitale Bezüge und Innovationen spätestens seit 2020 breiter diskutiert werden. CIVA versuchte zu zeigen, wie pointiert Medienkunst auf die soziokulturellen Gegebenheiten reagieren und diese hinterfragen kann. Der virtuelle Timetable spannte hierzu ein dichtes Netz von Musik (Live-Konzertabende und DJ Sets), Diskursprogramm (etwa zu Netz und Natur, Online Hate Speech, Inclusive Virtuality, Digital Self Care), Aktivismus, Film, Performance bis hin zu einem umfassenden digitalen Vermittlungsprogramm mit Ausstellungstouren und Talks auf.
Pandemiebedingt fand die erste Festivalausgabe ausschließlich online statt und dies auf Plattformen, die noch nicht unbedingt Eingang in den Kanon gängiger Social-Distance-Kommunikationstools gefunden haben. Über die Kommunikationszentrale Discord, die Videostream-Plattform Twitch, die Virtual-Reality-Plattform Mozilla Hubs sowie über Instagram sollte ein möglichst breites Spektrum an Besucher*innen motiviert und befähigt werden, digital, aktiv und möglichst niederschwellig am kostenlosen Festivalprogramm teilzunehmen. Ohne Frage ist es eine Herausforderung, künstlerische Inhalte rein virtuell zu vermitteln. Bei allen Vorteilen wie der nicht ortsgebundenen Zugänglichkeit, den Live-Streams und Aufzeichnungen, die eine nicht zeitgebundene Teilnahme am Festival ermöglichen, fehlt beim virtuellen Bonding trotzdem die körperliche Begegnung mit anderen Akteur*innen, um klassische Festivalstimmung aufkommen zu lassen. Doch kann und muss ein virtuelles Festival nicht mit einem analogen verglichen werden — und das versuchte CIVA auch nicht. Vielmehr erweiterte das Festival, das von vornherein digital geplant war, bestehende Ideen von Veranstaltung und Ausstellungsraum um ebenjene digitalen Möglichkeiten, die es selbst auch thematisiert.

Expanded Realities and Networked Voices
Zum Nichtstun und Wischen lud auch die virtuelle Ausstellung Expanded Realities and Networked Voices, das künstlerische Herzstück des Festivals, ein. Auf Mozilla Hubs – im Idealfall mittels VR-Brille, ansonsten über den Browser – navigierten Besucher*innen durch eine blassrosa, glattpolierte Wolkenwelt, um in kringelförmige Portale einzutauchen, die je zu einer der 20 internationalen digitalen Kunstpositionen führten. Der Space, kuratiert von Eva Fischer und Martina Menegon, wurde von Maximilian Prag gestaltet und umgesetzt: ein virtueller Raum für virtuelle Medienkunst, die laut den Kuratorinnen gleichzeitig die Grenzen der Technologie ausreizen und ausstellen, aber auch die kritische Betrachtung digitaler Infrastrukturen und Machtverhältnisse ermöglichen sollte. Außerdem wollte die Ausstellung mittels Online-Kunst Licht in das Gewirr der vielen Social Media Tools, den Konzernen dahinter und ihren Einfluss auf die Welt „away from keyboard“ (AFK) bringen. Dazu wurden Themencluster gebildet, die virtuelle Körper, Räume und Stimmen etwa in Zusammenhang mit Game Art, digitalem Sorgetragen oder virtuellem Umweltschutz verhandelten.
Das Bild des produktiven Nichtstuns vor dem Bildschirm fand dabei in mehreren Arbeiten Eingang. Christiane Peschek bezeichnet ihre Arbeit EDEN als digitale Wellnessbehandlung. Der Besuch in diesem Smartphone-Retreat ist nur einmalig durchführbar und zwingt somit dazu, sich die Zeit für die immersive Erfahrung gut einzuteilen. Über die Ausstellung gelangt man via QR-Code ins sogenannte Spa am Smartphone-Screen, wo die etwa 40-minütige Entspannungsreise startet. Der Touchscreen wird zum Portal in den virtuellen Paradiesgarten, eine sanfte Stimme fordert über die Kopfhörer auf, die Physikalität zu überwinden und verspricht eine Transfiguration ins Virtuelle.
Auch Morehshin Allahyaris The Laughing Snake. She who sees the unknown lässt gedankliche Verbindungen zum Paradiesgarten zu.1 Eine riesige dunkle Schlangengestalt regt sich im ebenso finsteren Browserfenster und ist zunächst nur aufgrund einzelner Lichtreflexionen erahnbar. Allerdings handelt es sich bei der sehenden Schlange um eine mythologische Frauenfigur aus dem Mittleren Osten, die der Erzählung zufolge nur getötet werden kann, wenn ihr ein Spiegel vorgehalten wird. Der Blick in den Spiegel lässt die Schlange so lange lachen, bis sie vor Erschöpfung stirbt. Die Künstlerin deutet die Geschichte, die der Weiblichkeit Hysterie, Delirium und Selbstzerstörung zuschreibt, jedoch um. Die Schlange verwendet nun ihr eigenes Lachen als Waffe, ergreift die Macht über ihr eigenes Schicksal und berichtet den User*innen als dark goddess von diversen Monstrositäten, denen sie begegnet ist. Sie erzählt, wie es ist, als Mädchen durch die Straßen von Teheran zu laufen, von Catcalling und Übergriffen. Als Betrachter*in greift man aktiv in die Narration ein, das Computerdisplay wird zum Spiegel der Krisen, durch Klicks auf einzelne Begriffe wird der weitere Verlauf der Geschichte bestimmt.
„Why are you still here?“ Einer der Vorteile eines digitalen Festivals ist es definitiv, sich jederzeit zu- und wegschalten zu können. Mit ihrer digitalen Performance error 404 – sorry I’m currently not available, I’m dreaming2 forderte Catherine Spet zum Ausloggen auf. Montags fand man sich dann beim Aufruf der Festivalwebsite in Spets virtuellem Tagtraum wieder. Die Arbeit verwirrt und lullt zugleich ein – statt ständiger Verfügbarkeit ein Aufruf zur Auszeit: Nichtstun AFK.
Die virtuelle Medienkunst, die CIVA ausstellte, feiert ihre digitale Situiertheit und fordert die Betrachter*innen ständig dazu auf, den virtuellen Raum zu verlassen. Virtual Bonding mäandert zwischen Self Care und Überforderung, zwischen Nichtstun und Immersion – ein paradoxer Zustand, den wir Distanzerprobten allzu gut kennen. CIVA 2022 soll in den analogen Raum erweitert werden.

CIVA 2021: Social Distancing – Virtual Bonding, 19. bis 27. Februar 2021; Teile des Festivals gibt es zum Nachsichten im Website-Archiv und auf Twitch: https://www.civa.at/