Heft 2/2021 - Dinge, die uns trennen
„In Begleitung eines Künstlers, der als Vermittler und Kameramann zugleich fungiert, erkunden junge Leute die dezentralisierte Natur beim Umherschweifen mit ihrem Verstand und ihrem Körper. Sie testen die apotropäischen [Unheil abwendenden, Anm.] Eigenschaften der Brennnessel, peitschen sich gegenseitig damit aus, entschlüsseln die entstandenen Verbrennungen und extrahieren Chlorophyll, dessen chemische Struktur nahezu identisch ist mit der des Hämoglobins. Als Zufluchtsort für magische und partisanische Kräfte wird der Wald zu einem Schutzort, zu einem Territorium der Nichtlinearität und Freiheit.“
Dies ist ein Ausschnitt aus dem Text, mit dem der belarussische Künstler Jura Shust seine neue Arbeit NEOPHYTE II: Extraction of Apotropaic (2021) vorstellt, die bis Ende August 2021 im Rahmen der Gruppenausstellung Dinge, die wir voneinander ahnen im Badischen Kunstverein Karlsruhe zu sehen ist. Teil der Installation ist ein Video, in dem sich eine Gruppe von Millennials in Begleitung eines als Kameramann und Führer fungierenden Künstlers in einem Wald wiederfindet, abseits der Proteste, die sich nach dem Präsidentschaftswahlkampf 2020 in Weißrussland entfaltet haben. Der Wald ist friedlich, es gibt darin kein GSM-Signal, keine OMON-Spezialeinheit, keine Telegram-Kanäle. Stattdessen junge Leute, die seltsame Dinge tun, Ritualen ähnelnd. Hier zerschlagen sie Pilze mit einem Stock, reflektieren Sonnenstrahlen mit Spiegeln, zeichnen piktogrammartige Bilder auf den Boden und überschütten alles mit Salz. Sie sammeln Brennnesseln und schlagen sich damit gegenseitig auf die Hände, damit sie in den Hautverbrennungen die Zukunft lesen können. Sie übergießen die gesammelten Brennnesseln mit Wodka, um ihnen das als Flüssigkeit konzentrierte grüne Chlorophyll zu entlocken, eine Lebensformel, die fast identisch ist mit der Zusammensetzung von Hämoglobin, das das Blut rot macht.
Diese konzentrierte Metaphorik vertrauter Objekte ist irritierend und frustrierend. Die Erwartung einer politischen Aussage, eingebettet in das erklärende Narrativ konventioneller Sprache, wird durch die magmaartig wirkende Loopingzeit des Videos und der Konzentration von Jetzt-Moment und Jetzt-Raum absorbiert. Wer schon einmal im Wald geschrien hat, weiß, wie schnell die eigene Stimme zerfließt und von der Umgebung verschluckt wird.
In einem seiner letzten Bücher erinnert Graham Harman im Zuge seiner objektorientierten Ontologie an eine berühmte Aussage Martin Heideggers in dem 1936 erschienenen Aufsatz „Der Ursprung des Kunstwerkes“: „Ein Kunstwerk, egal in welchem Genre, lässt sich nicht paraphrasieren.“
In dem Bemühen, die Wahrheit aus dem Bereich der Logik wieder in den Bereich der Kunst zu holen, nimmt Heidegger eine kritische Revision der subjektiv-prädikativen Form vor, auf der das Denken beruht. Ein Objekt als Ding kann nicht auf die Gesamtheit seiner prädikativen Formen, auf bestimmte Eigenschaften und Merkmale reduziert werden. Dies gilt insbesondere für Kunstobjekte, deren besonderes ontologisches Wesen Heidegger durch die Definition von drei Arten von Dingen aufzeigt, die sich danach unterscheiden, auf welche Weise wir sie definieren. Die erste Definition besteht in einer Reihe von Attributen und Eigenschaften eines Dings. Die zweite in der Verschiedenheit unserer Wahrnehmungen eines Dings, wenn zum Beispiel Geräusche für unser Bewusstsein nicht Geräusche an sich sind, sondern immer das Geräusch des Winds oder das Geräusch von raschelndem Laub und so weiter. Die dritte Art des Umgangs mit den Objekten der Welt ist schließlich ihre Definition durch „Wirklichkeit“. Hier führt Heidegger sein berühmtes Beispiel mit den Bauernschuhen aus einem Gemälde von Van Gogh an, um zu demonstrieren, dass nicht so sehr Van Gogh, sondern die mit Schlamm bespritzten und lebensmüden Schuhe selbst das Sein der Sache vollständiger repräsentieren als jeder Begriff oder jede Definition.
Ein unabhängiges Wesen bzw. das, was Harman als Hintergrund bezeichnet, verweist etymologisch auf die Erdung, Erdigkeit, die Verwurzelung von Objekten in der Welt, die sich allesamt dem Subjekt entziehen, welches sie mit einer Kette aus Bewusstseinsbegriffen überzieht. Das Kant’sche Ding an sich bleibt ein unerreichbares Ideal philosophischer Erkenntnis, das sich nur mit den Phänomenen der Welt begnügt, die sich in eine sprachliche Form mit transzendentalem Charakter kleiden lassen. Es stellt sich die Frage, wie sich diese ganze Welt der unerkennbaren, nur in Form von Phänomenen zugänglichen Dinge in einer Sprache beschreiben lässt. Alles sein lassen und schweigen, nach der bekannten Maxime Wittgensteins, oder mit Habermas für die dialogische Natur des Bewusstseins und der Kommunikation als Grundlage sozialer Interaktion kämpfen?
Bei den Objekten, mit denen Jura Shust eine rituelle Handlungssituation entwickelt, handelt es sich nicht bloß um Objekte mit einem ausgeprägten metaphorischen Charakter. Es sind vielmehr auch Objekte mit einem suggestiven Status: Objekt-Mythen, die nach der Definition von Roland Barthes die grenzenlose Macht der Suggestivität und Selbstverständlichkeit besitzen.2 Der Spiegel, eines der wichtigsten mythologischen, metaphorischen und mystischen Objekte des Menschen, impliziert sowohl Objektivität als auch Prozessualität. Narziss, der sein Spiegelbild sieht, ist von dem Objekt selbst und dem Prozess des Hineinschauens in die verdoppelte Subjektivität gefangen. Was nach Marshall McLuhan zu einem extremen Grad der Beschleunigung führt, wodurch wiederum die Geschlossenheit des Bilds zu einem geschlossenen System für die Imago wird. Durch die Schließung des Systems auf sich selbst erfährt Narziss Entsetzen und Taubheit, und dieser liminale Zustand der Betäubung, der daraus resultiert, kann als ein Zustand vollständiger Identität beschrieben werden, in dem Objekt und Referenz so sehr übereinstimmen, dass es fortan nur noch Stille gibt.
Die mimetische Nachahmung, die der menschlichen Interaktion mit der Welt zugrunde liegt, besitzt keine ausschließlich positiven oder negativen Eigenschaften. So wie Spiegelneuronen sowohl für die Erfahrung von Schmerz als auch von Freude verantwortlich sind, reproduziert die soziale Mimesis das Modell und die Objekte, die bereits in einem bestimmten System vorhanden sind. Übertragen auf die belarussische Gesellschaft bedeutet dies, dass die seit Jahrzehnten stattfindende Reproduktion von Gewalt auf verschiedenen Ebenen erfolgt, von der individuellen Autoaggression und Selbstentwertung bis hin zu den klassischen Foucault’schen Institutionen wie Schule, Armee oder Krankenhaus.
Die Handlungen in der Videoinstallation von Jura Shust sind höchst natürlich und unlogisch zugleich. In einem Zustand meditativer Befriedung bearbeiten Jugendliche mit den Füßen die Reste eines morschen Baumstumpfs und zünden diese an. Sie sammeln junge Triebe von Brennnesseln, um ihnen Leben mittels der Chlorophyll-Extraktion zu entlocken, und verbinden schließlich rituelles Backen und Pfannkuchenessen mit einem spontanen Rave. Die soziale Unlogik und äußere Bedeutungslosigkeit dieser Handlungen bekunden jedoch ein ausgeprägtes In-der-Welt-Sein im Moment des Hier und Jetzt. Die Objekte der Interaktion und die sie erfassenden Subjekte befinden sich in einer gleichberechtigten Position – der Gleichheit sämtlicher existierender Dinge, die ein und dasselbe Sein in einer Art Grenzzustand miteinander teilen.
Wenn Freiheit die gleiche Suggestivität hat, in welcher Heidegger’schen Lücke verbirgt sich dann ihr Hintergrund? Die kollektive Sublimierung der Aggression, die mediale Propagandamaschine, die der Staatsmacht dienende Kirche und Wissenschaft, der Aufbau und die gewaltsame Aufrechterhaltung geschlossener Systeme koexistieren gleichzeitig mit der sich selbst regulierenden nicht-hierarchischen Struktur des Walds, der schon seit Jahrhunderten ein Ort der Zuflucht und des Schutzes ist, der zyklischen Natur der linearen Zeit, des archaischen Wunsches, alles mit allem zu verschmelzen.
Unsere Fähigkeit, (auf physische, biologische, soziale, sensorisch-emotionale oder andere Weise) mit der Welt zu interagieren, ist begrenzt durch die sich beschleunigende Bestimmung, die Welt mit Begriffen und Definitionen zu erobern. Gleichzeitig ist sie aber auch durchdrungen von der archaischen Natur liminaler Zustände, etwa der völligen Gefühllosigkeit von Geist und Körper zugleich, worin die Subjektlosigkeit der Freiheit und ihr „Tun“ im Sinne der Heidegger’schen Philosophie erfahrbar wird. Die Grenze, die Übergangsobjekte für das menschliche Bewusstsein und Denken darstellen, wird zur Falle und zum Portal zugleich. Ein Spiegel, der Licht zu reflektieren vermag, ist nicht aus Licht gemacht, sondern verbindet Leere, Dunkelheit und die Einheit des Seins, das ultimative Begehren hinter den Binaritäten.
Übersetzt von Anja Schulte
[1] Graham Harman, Art and Objects. Cambridge/Medford: Polity Press 2020, S. 30.
[2] Vgl. Roland Barthes, Der Mythos heute, in: ders., Mythen des Alltags. Deutsch von Helmut Scheffel. Frankfurt am Main 1964, S. 85ff.