Liest man sich einen Artikel zu Yves Netzhammers1 Kunst aus dem Jahr 2003 durch, erschienen in Kunstforum International, könnte man meinen, der Text stamme von gestern. So treffend beschreiben es die Worte von vor 18 Jahren: „Ob in Zürich, Stuttgart, Krefeld oder Duisburg: Netzhammers Videos sprechen die gleiche, CAD-Software zu verdankende Bildsprache und schöpfen aus einem letztlich überschaubaren Repertoire an Motiven. Sie verorten das Leben in der Kunst oder in der Künstlichkeit der computergenerierten Wirklichkeit, die kein Ersatz ist, sondern Modell, Metapher, Sinnbild des Lebens.“2
Seit Netzhammers erster Einzelausstellung 1999 gestaltete er unter anderem den Schweizer Pavillon auf der Biennale in Venedig (2007) und war im selben Jahr im Rahmenprogramm der documenta vertreten. Seine Installationen bildeten die Bühne für Performances und Theaterstücke. Im deutschsprachigen Raum sind die zahlreichen Clips, die er für das Schweizer Fernsehen gestaltete, nicht unbekannt.
Er selbst nannte seine installativen Arbeiten und Videos einmal „mentales Puppentheater“, mit dem er die „sogenannte“ Realität befragen und „abklopfen“ könne.3 Andere haben seine Werke als „pulsierende Bilderwelt“, „animierte Gliederpuppen“ und sogar „kollektives Wasserballett zuckender Körper“ beschrieben.4 Klar ist, dass seine teils raumfüllenden Installationen stets versuchen, eine Verbindung zwischen dem virtuellen und dem physischen Raum herzustellen, und sie illustrieren, wie die Computergrafik auch die zeitgenössische Skulptur und Installation beeinflusst hat. Für Millennials und jüngere Betrachter*innen mag die Grafik in den Animationen des 1970 in Schaffhausen geborenen Künstlers ein wenig befremdlich wirken, ist sie doch klar der Ästhetik der 1990er- und beginnenden 2000er-Jahre verschrieben. Allerdings stecken nicht unterlassene Software-Updates dahinter, sondern diese Art der Gestaltung bildet ganz einfach die Bildsprache des Künstlers. Und das zeichnet seine Arbeiten ohne Zweifel aus. Während viele Künstler*innen die Ästhetik der 1990er-Jahre als Trash reproduzieren, liegt in Netzhammers absichtlichem Rückgriff eine Nostalgie und Poetik, die nur durch seine vielsagenden Werktitel übertroffen wird.
Ebendiesem ästhetischen Rückgriff begegnen wir auch in Netzhammers neuester Arbeit Reise der Schatten, einem 80-minütigen Film, an dem der Künstler seit drei Jahren arbeitet und der sich dem „Lebensgefühl des Anthropozäns“ anzunähern versucht. Einer Situation, „wo nicht wir Menschen von der Umwelt geschützt werden müssen, sondern die Umwelt von uns Menschen“5. Demgemäß ist in der Kurzbeschreibung des Films auf der Website der Produktionsfirma von einem „dystopischen Universum“ die Rede.6 So sehen wir auf den Screenshots, die als Preview zur Verfügung stehen, wie eine Figur eine andere Figur aus dem Sand ausgräbt und sie durch mehrere Handgriffe, mitunter auch zwischen die Beine, (wieder) zum Leben erweckt. Der daneben liegende und halb im Sand versunkene Laptop legt die Vermutung nahe, dass hier auf eine technologisch überfordernde Welt verwiesen wird. Während auf die Premiere des Films, der als Koproduktion mit Liechti Filmproduktion entsteht, und damit auf den vollen Plot bis 2023 gewartet werden muss, können Interessierte jederzeit Netzhammers Instagram-Account besuchen, auf dem er regelmäßig postet. Seit Beginn der Pandemie hat er etwa 69 minimalistische Zeichnungen veröffentlicht, die am Computer entstanden sind und, mit monochromen Hintergrundfarben versehen, wie gewohnt Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit besitzen.
Ebendiese Instagram-Arbeiten können als Ausgangspunkt dienen, um einen Schwenk auf die zeitgenössische Kunstpraxis im digitalen Raum zu wagen. Denn einerseits stellt sich bei ihnen die Frage nach der Repräsentation des Kunstwerks im digitalen Raum, andererseits die Frage nach dessen Wert – im Kontext des aktuellen Hypes um NFTs (non-fungible tokens) durchaus naheliegende Fragen. Ausgelöst bzw. von der Öffentlichkeit aufgegriffen wurde der Hype durch den Verkauf des digitalen Kunstwerks Everydays: the First 5,000 Days des Künstlers Beeple um 96,3 Millionen Dollar – die höchste Summe, die je für ein NFT-Kunstwerk gezahlt wurde.7 Letzten Endes reproduzieren derartige Hypes aber nur die Mechanismen, die bereits den Kunstmarkt mit physischen Kunstwerken dominieren, obwohl sie gern als deren Überwindung propagiert werden.
An der Repräsentation digitaler Kunstwerke und deren Ausstellung besonders interessiert ist der in San Francisco ansässige Anthropologe und Kurator Wade Wallerstein. Er schwärmt voller Begeisterung für die (Ausstellungs-)Möglichkeiten im digitalen Raum8 und ist in mehrere digitale Kunsträume involviert, etwa den seit 2017 aktiven Instagram-Account exhibit_onscroll oder die Online-Galerie Silicon Valet.9 Andere Seiten wie isthisit.com, das Off Site Project oder SPUR World nutzen Elemente von Live Action Role Play (LARP) und Real Game Play (RGP), um Besucher*innen in immersive digitale Welten zu entführen, in die die Werke der ausstellenden Künstler*innen eingebettet sind.10 Anders als die unzähligen Kulturinstitutionen, die durch Covid zwangsweise ihre Ausstellungen ins Internet verlagern mussten, widmen sich diese digitalen Ausstellungsräume schon seit Jahren der digitalen Kunst und verstehen sich dabei als Alternativen zu überteuerten Galerieräumen und unleistbaren Ateliers: „Die Entscheidung für das Digitale ist nicht nur dem aktuellen Zeitgeist geschuldet, sondern erkennt den Cyberspace als fortwährende und unlimitierte Immobilie an, die die hohen Ausgaben für Studios stattdessen in Laptops, externen Festplatten und angemieteten Renderkapazitäten komprimiert.“11
Der digitale Raum wird demnach als Ersatz für bereits besetzte physische Räume verstanden. Nicht nur für Künstler*innen, sondern auch für Kurator*innen sollen diese Flächen neue Möglichkeiten und vor allem Freiheiten bieten. So könnten sie mithilfe von Wix, Squarespace, Wordpress oder CargoCollective die Ausstellungsräume nach ihren Wünschen gestalten und nach jeder Show nach Belieben umbauen: „Als Social-Media-Expert*innen und […] vertraut mit den Grundlagen des Webdesigns beginnt die neue Ära der Kurator*innen, vorgefertigte Formate zu einzigartigen Räumen auszubauen. […] Einige verzichten auch ganz auf Webseiten und ziehen es stattdessen vor, in den Commons zu arbeiten. Sie kuratieren direkt für Social-Media-Plattformen.“12
Es stellt sich aber angesichts des enormen Rechenaufwands dieser Seiten – die Fehlermeldung „Diese Website hat einen erheblichen Speicherverbrauch. Wenn du sie schließt, kann sich die Reaktionsgeschwindigkeit deines Macs verbessern“ wird beim Besuch nicht nur einmal aufpoppen – die Frage, ob die digitalen Ausstellungsräume wirklich die heraufbeschworene Freiheit bieten, oder ob sie – wie im Fall der NFTs – nur alte Muster reproduzieren. Dass digitale Kunstwerke, eingebettet in eine immersive 3D-Welt, ganz neue Erfahrungen für die Betrachter*innen bieten können, wird niemand bezweifeln – die Frage ist eher, ob die Hardware mitspielt.
Zumindest im Fall von Yves Netzhammer wird die Hardware bestimmt keine Probleme machen. Stets eingebettet in eine physische Umgebung entfalten seine Animationen gerade in Kombination mit seinen Installationen ihre einzigartige Wirkung. Dabei greifen der virtuelle und physische Raum ganz natürlich ineinander und ergänzen sich gegenseitig.
[1] http://netzhammer.com
[2] Martin Seidel, Yves Netzhammer. Das Gefühl präziser Haltlosigkeit bei Festhalten der Dinge, in: Kunstforum International, Bd. 167: Theorien des Abfalls, 2003.
[3] Yves Netzhammer am 15. April 2021 in einem E-Mail an die Autorin.
[4] http://netzhammer.com/die-anordnungsweise-zweier-gegenteile/; Ausstellungstext von Ralf Christorfori zu Die Anordnungsweise zweier Gegenteile bei der Erzeugung ihres Berührungsmaximums. Kunsthalle Bremen, 2005.
[5] Yves Netzhammer am 15. April 2021 in einem E-Mail an die Autorin.
[6] Ein kurzes Resümee des Films steht auf der Website der Produktionsfirma freihaendler.ch; https://freihaendler.ch/in-arbeit/reise-der-schatten/.
[7] https://www.theartnewspaper.com/news/ghosts-of-crypto-past
[8] Wade Wallerstein bei einem Vortrag auf YouTube im Rahmen der Full Spectrum Curatorship Conference des IMPAKT Festivals am 11. April 2021; https://www.youtube.com/watch?v=vOchPKrL6MI.
[9] https://www.siliconvalet.org/residency
[10] https://www.isthisitisthisit.com; http://www.offsiteproject.org; https://spur.world/new/
[11] Off Site Project, Inside the White Virtual Cube: Manifesto for the Exploration of Online Galleries, 3. April 2021 bei medium.com; https://offsiteproject.medium.com/inside-the-w%CC%B8h%CC%B8i%CC%B8t%CC%B8e%CC%B8-virtual-cube-manifesto-for-the-exploration-of-online-galleries-dbc9459a3997; aus dem Englischen übersetzt von der Autorin.
[12] Ebd.