Heft 4/2021 - Zeuge/Zeugin sein


Ästhetik des Wahrmachens

Über Künstler*innen und andere „unglaubwürdige“ Zeug*innen

Suzana Milevska


„Das Paradoxon des Zeugnisses durch den deus es machina des Gesangs zu erklären heißt das Zeugnis zu ästhetisieren. […] Weder Gedicht noch Gesang können eingreifen, um das unmögliche Zeugnis zu retten. Aber das Zeugnis kann, vielleicht, die Möglichkeit des Gedichts begründen.“1

2010 entdeckte ich die Aufsatzsammlung Gypsy Law.2 Trotz ihres problematischen Titels mit dem despektierlichen G-Wort, das viele im Gegensatz zum weithin akzeptierten „Roma“ respektlos und abfällig finden, hat sie meine Forschung und kuratorische Praxis sehr stark geprägt. Die darin vertretenen Autor*innen – vorwiegend in der Rechtsprechung versierte Aktivist*innen und Expert*innen der Roma, Sinti oder Pavee – nähern sich der traditionellen juristischen Praxis der Roma auf nuancierte, sensible, respektvolle und auch scharfsinnige Art. Ihre Originalität und kenntnisreiche vergleichende bzw. fächerübergreifend methodische Forschung leisten einen wichtigen Beitrag zu so diversen Disziplinen wie Anthropologie, Soziologie oder Rechts-, Kultur- und Genderstudien.
Die Essays in dem Buch haben meine Sicht auf das konventionelle Rechtssystem des Westens und seine Institutionen, die bis heute vom restriktiven römischen Recht und seinem Zwölftafelgesetz aus dem Jahr 449 v. Chr. geprägt sind, stark verändert. Darüber hinaus brachten mich einige der Texte dazu, die gemeinhin akzeptierten Grundannahmen der herrschenden europäischen Definition von „Recht“ zugunsten des vielschichtigen, beratenden, partizipatorischen und performativen Rechtsbegriffs der Roma und ihrer je nach Volksgruppe unterschiedlichen Rechtsinstitute (Kris-Romani, Divan etc.) zu hinterfragen. Sie alle sind durch jeweils eigene Verhandlungs-, Urteils- und Verurteilungsprotokolle und nicht zuletzt auch flexible Verhaltensregeln im Gerichtssaal gekennzeichnet. Insbesondere beeinflusste das Buch auch meine Idee von Kunstschaffenden als Zeug*innen, die Gegenstand dieses Aufsatzes wie auch dieser Ausgabe sind.3
Ich möchte mich im Folgenden eingehender mit dem Konzept der Zeugin bzw. des Zeugen befassen, wie es bei den Roma, aber auch in anderen, nicht westlichen Kulturen oder vor indigenen Gerichten Gültigkeit hat. Im gesetzlichen Kontext der Roma ermöglichen es beweiskräftige „Performances“ allen am Verfahren Beteiligten, als Zeug*innen auszusagen. Voraussetzung ist einzig, dass man geltend machen kann, die eigene Zeugenaussage sei unerlässlich für Wahrheit und Gerechtigkeit. Dies hat auch meine längerfristige Beschäftigung mit der Verbindung von Kunst, Ethik und Ästhetik beeinflusst, insbesondere was zeitgenössische Künstler*innen mit Roma-Herkunft betrifft. Ihr Konzept der Zeugenschaft steht von „Performer*innen“, die etwas aus eigenem Antrieb bezeugen, näher als dem der vorgeladenen Zeug*innen, die am Tag der Anhörung meist gut vorbereitet erscheinen oder unter Strafandrohung zur Beweisauskunft verpflichtet sind (gemäß der angloamerikanischen subpoena duces tecum). Der Hauptunterschied vor Gerichten der Roma ist, dass alle, die einem Verfahren beiwohnen, spontan Zeugenaussagen machen können, welche dann als genauso legitim und vertrauenswürdig gelten wie die von vereidigten Zeug*innen. Ein solches Vertrauen in Gerichte und Zeug*innen, die formalrechtlich nicht überprüft wurden, wäre in westlichen Kontexten unvorstellbar.4
In westlichen Gesellschaften herrscht die althergebrachte, wiewohl nicht offizielle Vorstellung – also eine Art „ungeschriebenes Gesetz“ –, dass nichts die Wahrheit einer Zeugenaussage unter Eid garantieren kann. Zugleich gibt es hier einen gewissen Widerspruch, denn einerseits werden Zeug*innen auf eine Art Sockel gehoben und hochgeschätzt, andererseits aber gilt ihre Aussage als relativ, was den Wahrheitsgehalt und die Verlässlichkeit der Erinnerung betrifft. Also gibt es von Vornherein eine Art Zweifel an der Fähigkeit von Zeug*innen, von sich aus die Wahrheit zu sagen oder zumindest den Gerichten dabei zu helfen, sich der Wahrheit anzunähern. Daher auch der Begriff der „Unglaubwürdigkeit“ von Zeug*innen trotz ihres Eids vor Richter*innen, Gericht und Gott.
„Der Ausdruck ‚bezeugen‘ ist hochproblematisch, und zwar sowohl im Sinn des westlichen wissenschaftlichen Ideals der ‚objektiven‘ Beobachtung als auch in der Tradition der griechischen Tragödie. Das erste geht irrtümlicherweise davon aus, dass die Beobachter*innen ideologisch wie auch physisch außerhalb des zu Ermittelnden bzw. zu Betrachtenden stehen. Und die griechische Tragödie [...] macht die Beobachter*innen zu passiven Gaffer*innen, die sich möglichst nicht aktiv einmischen sollen.“5
Nach Meinung von Fiona C. Ross, die stark von Argumenten Shoshana Felmans und Dori Laubs beeinflusst ist, gibt es einige Belege, dass Forschung, Schreiben und – wie ich hinzufügen möchte – Kunst „vielleicht eine Form der Zeugenschaft, ein allgemeines Gespür für das Erkennen und Anerkennen von Leid durch ‚sorgsame Aufmerksamkeit‘ und ‚Zuhören’ bieten“.6
Die Trope zeitgenössischer Kunstschaffender als direkte Zeitzeug*innen, die einem Ereignis beiwohnen, etwas miterleiden und dieses Mitleiden dann durch Kunstwerke oder künstlerische Forschung dokumentieren, ist zwar nicht neu, aber dennoch irreführend. Mutig aufzudecken, was soziale, politische und kulturelle Institutionen gewöhnlich verschweigen oder kaschieren, mag edel und notwendig sein. Es erschöpft aber nicht die Möglichkeiten der Zeugenschaft. Künstlerzeug*innen sind nicht bloß passive Betrachter*innen oder Künder*innen von Ereignissen, Gräueltaten oder bisweilen auch vergessenen Handwerks- und Kunsttraditionen. Vielmehr fungieren sie als Katalysatoren dieser Ereignisse, und zwar durch die Solidarität mit jenen, die sie nicht nur zu ihren Kunstwerken inspiriert haben, sondern die sie umgekehrt auch zu einer Art Selbstermächtigung ermutigen. Diese Ermutigung besteht darin, eigene Erzählungen zu produzieren und diese in einem größeren Zusammenhang zu platzieren, kurzum: „der Sohn der eigenen Ereignisse und dadurch neugeboren [zu] werden“7. Solche Zeug*innen warten nicht darauf, „vorbereitet“ in den Zeugenstand „gerufen“ zu werden, um dort einen „Eid abzulegen“ und „auszusagen“. Sie verorten ihre Rolle als Zeug*innen in der eigenen Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft und ihrer eigenen Kunstpraxis.
Ich möchte hier darlegen, inwiefern die heimliche Verwandtschaft bestimmter Kunstansätze mit der Idee der Zeugenschaft im Gerichtswesen der Roma das westliche Konzept von Wahrheitsbekundung und Zeugenschaft infrage stellt. Marika Schmiedt etwa untersucht in ihrer künstlerischen Forschung die komplizierten Zusammenhänge zwischen den viel zu wenig beleuchteten Ereignissen des Holocausts an den Roma, deren heutigem erzwungenen Nomadentum und dem Rassismus gegen Roma, Sinti und andere Roma-Völker. Bis heute rechtfertigen zirkuläre Argumente und Staatsprotokolle die Vertreibung der Roma, die Plünderung ihres Eigentums und ihre Diskriminierung, was Menschenrechte und Bildungswesen anbelangt. Damit werden – ganz ähnlich wie unter den Nazis – die falschen Vorurteile aufrechterhalten, dass Roma nicht in der Lage seien, ihre eigenen gesellschaftspolitischen Strukturen und Institutionen zu schaffen.
So widmete Schmiedt ihr Video VERMÄCHTNIS. LEGACY (2010–11) der Künstlerin Ceija Stojka und deren Nachkommen. Stojka, die am 23. Mai 1933 geboren wurde und am 28. Januar 2013 verstarb, war Malerin, Musikerin, Schriftstellerin und Aktivistin. Sie zählte zu den wenigen überlebenden Zeug*innen der wenig bekannten Verbrechen des Roma-Holocausts, die sie bis zu ihrem Tod immer wieder malte.8 Als eine der wenigen Überlebenden des nationalsozialistischen Völkermords, die alle Schrecken der Internierung in den Konzentrationslagern Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen miterlebt hatte, bekam sie noch nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs als Mädchen die schwersten Folgen des Rassismus zu spüren. Die Hauptfrage, die Schmiedt mit diesen, aber auch anderen Werken stellt, gemahnt an eine Frage des Philosophen Giorgio Agamben: „Was ist das für eine juristisch-politische Struktur, die solche Ereignisse möglich macht?“9
Stojka war Künstler*in, Zeug*in und Überlebende. Sie war indes nicht die Einzige, die Schmiedt für ihr Projekt befragte. Sie bezog auch Stojkas weibliche Nachkommen mit ein, die bis heute diese Vergangenheit bewältigen müssen. Immer wieder gilt es, die Folgen der Geschichte neu zu verarbeiten, kannten sie doch Stojkas „stumme Zeugenaussagen“ über Verlust und Tragödie aus erster Hand. Um Antworten zu bekommen, interviewte die Künstlerin also mehrere Frauen aus Stojkas Familie, deren mündliche Mikrogeschichten sich bisweilen erheblich von der makrohistorischen Darstellung abheben. So macht das Video deutlich, dass sie alle – vier Frauen aus drei Generationen – versuchen mussten, den Weg in ein Leben zu finden, das vom Tod überschattet war. Ihre Erzählungen unterstreichen, wie wichtig der Kampf gegen die historische Amnesie ist, und dienen zugleich als Warnung vor der Rückkehr von Rassismus und Roma-Feindlichkeit. Die im Kontext alltäglicher Tätigkeiten wie dem Einkaufen oder der Essenszubereitung vorgebrachten Aussagen warnen jedoch nicht nur vor den alten rassistischen Einstellungen, sondern ermutigen auch zu einem Leben im Heute als Bindeglied von Vergangenheit und Zukunft.
Der Widerspruch einer solchen „stellvertretenden Zeugenschaft“ besteht laut Agamben darin, dass das Zeugnis der Überlebenden „eine Potenz [ist], die durch eine Impotenz [des Sagens] Wirklichkeit erlangt, und eine Unmöglichkeit, die durch eine Möglichkeit zu sprechen Existenz erlangt“.10 Sowohl Agamben als auch Deleuze waren bewegt von den Aussagen Primo Levis, in denen er von der Scham, Zeuge und Überlebender zu sein, und der Scham, die Täter nicht an der Ausführung der schrecklichen Verbrechen hindern haben zu können, berichtete: „Mich haben all jene Seiten bei Primo Levi sehr erschüttert, auf denen er erklärt, daß die Konzentrationslager der Nazis in uns ‚die Scham, ein Mensch zu sein‘, hervorgebracht haben. Und zwar nicht, weil wir alle für den Nazismus verantwortlich wären, wie man es uns glauben machen möchte, sondern weil wir durch ihn besudelt sind: Selbst die Überlebenden der Lager mußten Kompromisse eingehen, und sei es auch nur, um zu überleben. Scham, daß es Menschen gegeben hat, die Nazis waren, Scham, daß man es nicht verhindern konnte, Scham, Kompromisse eingegangen zu sein, das alles nennt Primo Levi die ‚Grauzone‘. Und es kommt auch vor, daß wir die Scham, ein Mensch zu sein, allein in lächerlichen Situationen empfinden: angesichts einer allzu großen Vulgarität des Denkens, angesichts einer Unterhaltungssendung, angesichts der Rede eines Ministers, angesichts der Äußerungen von ‚Lebemännern‘.“11

Die Ästhetisierung von Zeugenaussagen
Am Anfang dieses Texts steht ein Motto von Giorgio Agamben, wobei ich betonen möchte, wie wenig ich mit seinen Bekundungen, die die Ästhetisierung von Zeugenaussagen problematisieren, einverstanden bin. Meiner Ansicht nach versucht er, diese von der Kunst ganz zu entkoppeln. Er meint, dass Zeugenaussagen Kunst höchstens inspirieren, Letztere als solche aber kein Zeugnis ablegen könne. Diese Sichtweise ist von Vornherein durch einen restriktiven Begriff des Bezeugens eingeschränkt. In Agambens Deutung beruhen Zeug*innen und ihre Aussagen einerseits auf den rigiden Definitionen des herkömmlichen westlichen Rechtssystems mitsamt seiner Prämisse einer absoluten Wahrheit, und andererseits auf Walter Benjamins berühmter, aber fragwürdiger Unterscheidung zwischen der Politisierung der Ästhetik und der Ästhetisierung von Politik.12
Agamben weist darauf hin, dass das griechische Wort für Zeuge, mártys, vom Verb „erinnern“ abstammt und offenkundig mit dem Wort Märtyrer verwandt ist.13 Wenngleich diese Etymologie stimmt, meine ich, dass die Grenzen zwischen Gerechtigkeit und Wahrheit einerseits und den sich überschneidenden Begriffen Kunst, Erinnerung und ausgleichende Gerechtigkeit andererseits oftmals unscharf sind. Zudem macht die Auffassung von Künstler*innen als Zeug*innen nicht bloß die Relativität und Unsicherheit von Erinnerung, Wahrheit und Kunst deutlich. Sie erkennt vielmehr die Stimme unterdrückter oder unbekannter Zeug*innen an, deren ursprüngliche Zeugnisse vergessen oder verschwiegen werden, und zwar unabhängig davon, ob diese Abwesenheit erzwungen oder bewusst gewählt ist.
Mit meinem Einwand gegen diese beschränkte Auffassung von Zeugenschaft und Zeugnis im Rechtssystem und in der Kunst und gegen die Meinung, dass Zeugenaussagen eindeutig von Kunst, die angeblich bloß von ihnen inspiriert wird, unterscheidbar sind, bin ich keineswegs allein. Auch andere Autor*innen fordern, die Möglichkeit einer performativen Narrativität von Zeugenaussagen im Kontext von Kunst und Ästhetik in Betracht zu ziehen. Fiona C. Ross beispielsweise widerspricht ausdrücklich Agambens Kritik an Shoshana Felman und Dori Laubs Idee, dass „das Zeugnis wie ein Lied über bloße Worte hinausgeht“.14
Ross unterscheidet die Aussagen von Holocaust-Überlebenden und jenen vor der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission. Ihrer Meinung nach markiert in Letzteren „die Poesie die Grenzen des Sagbaren und die Kommunikationsbemühungen, wo normale Sprachformen vielleicht nicht hinreichen“15. Man könnte allerdings argumentieren, dass diese Unterscheidung nicht leicht aufrechtzuerhalten ist, es sei denn, man stimmt Adornos so legendärer wie enigmatischer Aussage zu, „nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch“16, die bis heute strittig ist. Adornos kurzes, aber prägnantes Statement galt lange Zeit als Inbegriff der Erklärung und Rechtfertigung des Ungleichgewichts zwischen Ästhetik und Ethik, insbesondere da eine Harmonie zwischen den beiden oft als unerreichbar angesehen wird.

Kunst und Wahrheit
Selbst wenn Kunst oder Kunstschaffende die Wahrheit (oder Wahrheiten) anstreben, bauen sie nicht unbedingt auf Ontologie oder Erkenntnistheorie. Auch die Kritik an gesellschaftlichen Strukturen ist keine Grundvoraussetzung für Kunst, die eher mit Hermeneutik, Darstellung und Kreativität zu tun hat. Nach Trenton Merricks und seiner Kritik an der Theorie des „Wahrmachens“ verweisen solche Definitionen von Kunst darauf, dass diese weder die absolute Wahrheit noch wahrheitsgemäße Fakten über diverse Welt- und Gesellschaftsphänomene liefern will. Auch Agambens Verständnis des Zusammenhangs von Zeugenaussagen und Kunst scheint stark auf einem solch engen Kunstverständnis zu beruhen.
Dennoch beherrscht der Widerspruch, der sich daraus ergibt, immer noch jene Milieus, die dazu neigen, die überlieferten Vorstellungen von Kunst gegenüber der auf sozialer Praxis basierenden Kunst oder politisch-aktivistischer Kunst hochzuhalten, die die nicht kommerzielle Kunstszene von heute dominiert. Nach Merricks ist die Annahme, dass jede Wahrheit einen „Wahrmacher“ hat, insofern problematisch, als sie davon ausgeht, dass „es für jede Behauptung, die wahr ist, eine Instanz gibt, die diese Behauptung durch ihre schiere Existenz wahr macht“17. Nicht jede Wahrheit hängt wesentlich vom Sein ab. Etwas „wahrmachen“ bedeutet vielmehr: x macht p nur dann wahr, wenn sowohl x als auch p tatsächlich auch existieren; nur in diesem Fall kann p wahr sein.18 Auch wenn es nur eine Wahrheit gibt, bedeutet dies also nicht, dass es nicht verschiedene Verbreiter*innen dieser Wahrheit sowie verschiedene Arten geben kann, sie zum Ausdruck zu bringen. Merricks führt daher einen „bedingten Notwendigkeitsbegriff“ ein und geht mit ihm der Frage nach, ob und wie die Wahrheit „von der Welt abhängt“19.
Das bringt mich auf ein schon älteres Projekt von Ivan Grubanov mit dem Titel Visitor. 2002 und 2003 besorgte er sich ein für Prozessbeobachter vorgesehenes „Besucher“-Abzeichen und wohnte dem lange erwarteten und medial viel beachteten Prozess des exjugoslawischen Präsidenten Slobodan Milošević vor dem Haager Tribunal bei. Laut Grubanovs Website verbrachte er ganze zwei Jahre im Gerichtssaal – „in Gegenwart des Mannes, gegen dessen Regime in Serbien ich als junger Aktivist rebelliert hatte“20. Der Künstler nahm also die Rolle des Zeugen und nebenbei noch die des „Illustrators“ des Prozesses ein. Das Ergebnis waren 160 Bleistift- und Tuschezeichnungen in einem Bildtagebuch, das laut Grubanov „eine Sprache dafür suchte, wie ich die Erinnerungen und Etiketten, die mich so verfolgten, darstellen konnte“21.
Im Gerichtssaal zu sitzen und einem Prozess zu folgen ist Zeugenschaft auf einer anderen Ebene. Es ist Zeugenschaft in Bezug auf Zeugenschaft. Folglich könnte man behaupten, es handelt sich dabei um eine vermittelte Erfahrung, die nicht dieselbe Brisanz hat wie die direkte Zeugenschaft bei einem Verbrechen und mit der man nicht annähernd denselben Zugang zur Wahrheit in Raum und Zeit erreicht wie Augenzeug*innen. Und doch schuf der performative Akt, einen ganzen Prozess vor Ort zu verfolgen und so die grauenhaften Ereignisse anhand der Aussagen des Angeklagten, der sich selbst verteidigte und damit die Rolle des Verteidigers einnahm, Revue passieren zu lassen, eine starke Bindung an das Ereignis, unabhängig vom Wahrheitsgehalt der einzelnen Zeugnisse. Vielmehr kanalisierte Grubanov so die Verantwortung und das Engagement, das seinen beruflichen Fähigkeiten als Künstler entsprach.
Sein Tagebuch nannte Grubanov ein „Anti-Dokument“22. Und doch ist das Projekt, trotz des gut dokumentierten Fehlens von Dokumenten, etwa von historischen Befehlsbriefen und anderen materiellen Beweisen für die organisatorischen Umstände der Gräueltaten im Bosnienkrieg, ein seltenes Dokument über den Geisteszustand eines der grausamsten Kriegsverbrecher der jüngeren Vergangenheit. Grubanov war sich auch des Publikums bewusst, das, unabhängig davon, ob es während des Prozesses anwesend und so mit der Anwesenheit des Künstlers bzw. des Täters konfrontiert war, oder ob es erst später die ausgestellten Zeichnungsserien sah, das eher ereignislose Geschehen mit den Augen des Künstlers zu sehen begann. Grubanov: „Die Zeichnungen sind minimalistisch, oft nur bruchstückhaft und mehrdeutig, versuchen aber dennoch, eine emotionale Wahrheit im Schatten der offiziellen Geschichte darstellen.“23
Der serbische Führer war wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermords angeklagt, die er im Zuge des Konflikts in Exjugoslawien von 1990 bis 2000 begangen hatte. Was Exjugoslawien angeht, so ist das beste Beispiel für das Paradoxon der Wahrheitssuche durch Zeugenaussagen und Beweise die Dauer dieses Prozesses gegen Slobodan Milošević vor dem Haager Tribunal. Sie wurde vor allem darauf zurückgeführt, dass es an archiviertem Beweismaterial und aussagewilligen Zeug*innen fehle, die bereit wären, sich „freundlicherweise“ freiwillig zu melden. Im Gegensatz dazu gab es bei den viel kürzeren Nürnberger Prozessen eine Fülle schriftlicher und unterzeichneter Dokumente, die man gegen die führenden Nazis verwenden konnte.24 Dies wirkte sich auch auf die strafrechtliche Verfolgung und die Prozesse gegen die anderen Täter des Völkermords in Bosnien aus. Sie verzögerten sich ebenso wie die Untersuchung der Leichen der Opfer, die formelle internationale Anerkennung des Völkermords und eine aufrichtige Entschuldigung des serbischen Staats für die begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Natürlich kann Grubanovs subjektiver Bericht vom Milošević-Prozess nicht mit den Aussagen traumatisierter Überlebender oder von Hinterbliebenen verglichen werden. Auch kann er keine Aussagen von Soldat*innen aus dem „Feld“ ersetzen. Das Projekt kann aber auch nicht im Entferntesten mit Alma Šuljevićs Arbeit als Minenräumerin in Bosnien verglichen werden, einem Projekt, bei dem sich die Künstlerin selbst in Gefahr brachte.25 Dennoch bildet Grubanovs Arbeit eines der seltenen öffentlichen Dokumente im Hinblick darauf, dass überhaupt ein Prozess gegen Milošević stattgefunden hat – vor allem wenn man bedenkt, dass die serbische Regierung bis heute die Vergangenheit zu vertuschen versucht. Der zum „Besucher-Zeugen-Wahrmacher“ gewordene Künstler gemahnt mit seinem Projekt daran, dass dieser Prozess aufgrund des frühzeitigen Todes von Milošević nie zu einem Abschluss gebracht wurde und die komplizierte Wahrheit über die Vergangenheit nie richtig ans Licht kam.
Man kann sich zu Recht die Frage stellen, ob die genannten Projekte Zeugenschaft ästhetisieren. Die Antwort ist unweigerlich ja. Die „Polizei“, die sozial engagierten Projekten „Überästhetisierung“ vorwirft, hat schon viel Schaden angerichtet, das ständige politische Abklopfen von Kunst aber nicht minder. Können solche Projekte Kunst und gleichzeitig wahrheitsgetreue Zeugnisse sein? Die Antwort lautet erneut: ja, natürlich. Das zentrale Argument ist, dass sich die Ästhetisierung von Zeugnissen und Kunst als Zeugnis oder, um Benjamins Dichotomie weiterzuspinnen, die „Verzeugnissung“ der Kunst weder notwendigerweise ausschließen noch blockieren. Diese grundverschiedenen und dennoch verwandten Beispiele von Kunstwerken und Künstler*innen, die entweder Zeugnis ablegen, sich von den Aussagen anderer anregen oder auch abstoßen lassen oder die Kunstwerke schaffen, die zu direkten oder indirekten Zeugnissen werden, unterstreichen letztlich, dass die Übernahme der schweren Last der Zeugenschaft, selbst wenn man nicht direkt Zeugin oder Zeuge ist, eine wichtige Rolle sein kann, die Künstler*innen in unruhigen Zeiten wie heute einnehmen.
So widmete die südafrikanische Künstlerin Dineo Seshee Bopape ihre Installation Untitled (Of Occult Instability) [Feelings] (2016–18), gezeigt auf der 10. Berlin Biennale, dem Strafprozess gegen den ehemaligen Präsidenten Südafrikas Jacob Zuma wegen Vergewaltigung an Fezekile Ntsukela Kuzwayo (auch bekannt als Khwezi). Dazu verwendete Bobape Passagen aus dem Gerichtsprotokoll, Zeugenaussagen sowie andere Statements und liest selbst Aussagen aus einem Gespräch mit Willy Mandela, der Exfrau von Zumas Vorgänger Nelson Mandela, des ersten Präsidenten nach der Apartheid. Bereits auf der 55. Venedig Biennale 2013 hatten Gerhard Marx, Maja Marx und Philip Miller im südafrikanischen Pavillon die Anhörungen vor der Wahrheits- und Versöhnungskommission mit ihrem Gemeinschaftsprojekt Rewind: A Cantata for Voice, Tape and Testimony thematisiert, einer komplexen Installation aus sieben Filmen von ihrem Theaterstück. Die Londoner Gruppe Forensic Architecture wiederum verwendet diverse Recherchemethoden und Medien bei ihren Rekonstruktionen von Katastrophen und Verbrechen, wie etwa der Brandtragödie des Grenfell Tower in London.26
All diese Beispiele vereint die komplexe Verflechtung zweier Achsen, nämlich jener von Zeugenaussagen, Täter*innen und Opfer einerseits und jener von Kunst, Wahrheit und Leben andererseits. Die Werke zeigen zudem, welche Rolle künstlerischer Ausdruck und Engagement im Kampf gegen Unrecht, Einseitigkeit, blinde Flecken und (falsche) Darstellungen, die den Sexismus und Rassismus von heute prägen, spielen können.27 Die gewählten Medien und Ausdrucksformen sind indes ganz verschieden und reichen von der Videoanimation über nachgespielte Gerichtsprozesse und forensische Untersuchungsmethoden bis hin zu konventionellen Drucktechniken.28
Bis heute lautet eine der größten Lüge der Moderne, dass es eine autonome Ästhetik jenseits von Ethik und umgekehrt gibt. Die These besagt, dass einerseits so etwas wie reine Kunst und andererseits das reine Leben existiert. Nicht nur Künstler*innen, sondern alle Menschen müssen jedoch „Verantwortung übernehmen, neue Formen des Rassismus in all seinen Verkleidungen zu erkennen, zu bekämpfen und lautstark anzuklagen, und jede Gelegenheit ergreifen, um radikale Schritte im Dienst von Solidarität bezüglich Vielfalt, Gemeinwohl und Kompossibilität zu setzen“29. Es wäre scheinheilig, von Künstler*innen etwas zu erwarten, woran wir alle scheitern: nämlich bestimmte Ereignisse zu verhindern und Menschen entgegenzutreten, deren Untaten und/oder Verbrechen wir selbst als Zeug*innen beobachtet oder von denen wir über andere Zeug*innen erfahren haben.

 

Übersetzt von Thomas Raab

 

[1] Giorgio Agamben, Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge. Aus dem Italienischen von Stefan Monhardt. Frankfurt am Main 2003, S. 32.
[2] Gypsy Law: Romani Legal Traditions and Culture, hg. Walter O. Weyrauch. Berkeley 2001. Das Buch widmet sich vergleichenden Interpretationen des Rechts der Roma und der Kris-Roma (interne Gerichtsversammlungen der Roma, verwiegend bei den Vlach-Roma). Neben Texten Weyrauchs enthält es Aufsätze von Roland Lee, Thomas Acton und Ian Hancock, um nur drei der wichtigsten Roma-Autor*innen zu nennen.
[3] Die wichtigsten Ergebnisse dieser Ideenfindung waren meine Projekte Call the Witness (Utrecht: BAK basis voor actuele kunst, 2011), ein kuratorisches Forschungsprojekt, das die Grundlage für den Roma-Pavillon bildete, der parallel zur 54. Biennale für bildende Kunst in Venedig eingerichtet wurde, sowie die Ausstellung Roma Protocol im Österreichischen Parlament 2011. Titel und Thema von Call the Witness waren inspiriert von dem das Gemeinschaftsleben ordnenden Roma-Recht sowie von Kris-Romani, der Rechtstradition eines informellen ungeschriebenen Rechtskodex, der in einigen Roma-Kulturen bis heute existiert.
[4] Agamben hat darauf hingewiesen, dass es im Lateinischen zwei Worte für Zeugin bzw. Zeuge gibt, nämlich testis für eine Person „in der Stellung einer Drittpartei“ und superstes für einen Überlebenden, der „ein Ereignis vom Anfang bis zum Ende erlebt hat“ (Was von Auschwitz bleibt, S. 14).
[5] Diana Taylor, Disappearing Acts: Spectacles of Gender and Nationalism in Argentina’s „Dirty War“. Durham 1997, S. 25.
[6] Shoshana Felman/Dori Laub, Testimony: Crises of Witnessing in Literature, Psychoanalysis and History. New York 1992, zitiert in Fiona C. Ross, Bearing Witness: Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa. London 2003, S. 3.
[7] Gilles Deleuze, Logik des Sinns. Aus dem Französischen von Bernhard Dieckmann. Frankfurt am Main 1993, S. 187.
[8] Manche Aktivist*innen der Roma verwenden den Ausdruck „Poraïmos“ statt Holocaust, was indes von anderen kritisiert wird, weil sie das Wort, das in der Roma-Sprache „Vergewaltigung“ bedeutet, zu anzüglich finden.
[9] Giorgio Agamben, Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Aus dem Italienischen von Hubert Thüring. Frankfurt am Main 2002, S. 175.
[10] Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 127.
[11] Gilles Deleuze, Kontrolle und Werden, in: ders., Unterhandlungen 1972–1990. Aus dem Französischen von Gustav Roßler. Frankfurt am Main 1993, S. 247.
[12] Vgl. Walter Benjamin, Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit. Frankfurt am Main 1963.
[13] Vgl. Agamben, Was von Auschwitz bleibt, S. 14, 23.
[14] Vgl. Fiona C. Ross, Bearing Witness: Women and the Truth and Reconciliation Commission in South Africa. London 2003. Ross schreibt: „Poesie und Gesang waren wichtige Aspekte des Kampfes und des Gedenkens in Südafrika, und viele Zeugenaussagen verwenden daher lyrische Formen.“ (S. 175, Fn. 4)
[15] Ebd., S. 2. Darüber hinaus beschreibt Ross, dass in zwei Anhörungen, bei denen sie anwesend war und die manchmal von lokalen Chören mit einem Lied eröffnet wurden, Dichter und Jugendliche ihre Lyrik vorlasen.
[16] Denn leider ist Auschwitz nicht die letzte Tragödie, die sich die Menschheit angetan hat. Vgl. Theodor W. Adorno, Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders., Gesammelte Schriften, Band 10.1 – Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen. Ohne Leitbild. Frankfurt am Main 1977, S. 30.
[17] Eine genauere Definition des philosophischen Konzepts des „Wahrmachens“ findet sich bei Trenton Merricks, Truth and Ontology. Oxford 2007, S. xiii.
[18] Vgl. ebd., S. xiv.
[19] Ebd., S. xiii.
[20] Ivan Grubanov, Visitor; https://grubanov.wordpress.com/visitor/.
[21] Ebd.
[22] Philippe Pirotte/Ivan Grubanov: Close Encounters, in: Afterall, 14 (Herbst/Winter 2006); https://www.afterall.org/article/ian.grubanov.close.encounters/.
[23] Ebd.
[24] Peter Quayle, How long should it take to try a man for genocide?, in: The Times, 21. Juni 2005, S. 3. Der Vergleich zwischen den beiden Prozessen (und den jüngsten Amtsenthebungsverfahren gegen den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump) basiert häufig auf dem Stereotyp unterschiedlicher Mentalitäten in Deutschland bzw. auf dem Balkan. In Deutschland sei man angeblich besessen von der Dokumentation von Befehlen, Ereignissen und Verbrechen, während man auf dem Balkan Archivierungsverfahren vernachlässige und stattdessen Mündliches bevorzuge.
[25] Šuljević bezeichnet sich selbst als „Landminenkünstlerin“, denn tatsächlich half sie während des Kriegs (1992–95) und danach bei der Entminung Bosniens mit. Später verkaufte sie sogar entminte Landflächen als Kunstwerke. Zur genaueren Beziehung zwischen dem Trauma der Zeugin, der Wahrheit und dem Realen in Šuljevićs Kunst und den Filmen von Jasmila Žbanić über die brutalen ethnisch motivierten Vergewaltigungen während des Bosnienkriegs in den 1990er-Jahren vgl. Nebojša Jovanović, Von EINEM Trauma zu DEM Trauma, in:springerin 4/2001; https://springerin.at/2001/4/von-einem-trauma-zu-dem-trauma/ (Übers. Thomas Raab).
[26] https://forensic-architecture.org/investigation/the-grenfell-tower-fire
[27] Vgl. Ronit Lentin, Femina sacra: Gendered memory and political violence, in: Women’s Studies International Forum, 29/5 (2006), S. 463–473.
[28] Zwei weitere Beispiele unterstreichen diese Vielfalt: So besteht etwa Remembering the Treason Trial (2013) von William Kentridge aus 63 traditionell gefertigten Lithografien, die händisch mit Aluminiumplatten auf Baumwolltücher gedruckt wurden; und Kota Ezawas Installation The Simpson Verdict (2002) umfasst ein dreiminütiges digitales Animationsvideo auf Grundlage des O.J.-Simpson-Prozesses 1995, im Zuge dessen er der Morde an seiner Exfrau Nicole Brown und ihrem Freund schuldig gesprochen wurde.
[29] Suzana Milevska, Woman Bear Witness, n.paradoxa, 28 (Juli 2011), S. 63. Die Idee der „Kompossibilität“ stammt von Gottfried Wilhelm Leibniz, vgl. Deleuze, Logik des Sinns.