Die Macht des Faktischen? Dachte man lange, es gäbe eine über alle Zweifel erhabene, intersubjektive Verständigung auf weithin akzeptierte Sachlagen, so hat uns die jüngere Vergangenheit eines Besseren bzw. – in den meisten Fällen – eines eindeutig Schlechteren belehrt. Zahlen, Daten, Fakten: So sehr diese angesichts der globalen Pandemielage unverzichtbare Eckpfeiler jeglicher wissenschaftlichen Weltauffassung sind, so sehr ruft dies umgekehrt auch die widerborstige, nicht verstummen wollende Rede von alternativen Fakten und Wahrheiten auf den Plan. Und so sehr das tagtägliche Starren auf Zahlen fast so etwas wie eine Fetischhandlung inmitten der gleichermaßen grassierenden „Infodemie“ geworden ist, so wenig ist die erodierende Wirkung des andauernden In-Zweifel-Ziehens von grundlegenden Eckdaten zu unterschätzen. „Normative Kraft“, wie man in Bezug auf das Faktische einmal meinte, besitzt in dieser unguten Gemengelange kaum noch etwas. Meine Tatsachen sind deine mitunter heftig bekämpften Phantome, und umgekehrt – das Gruselkabinett pseudodemokratischer sozialer (Meinungs-)Medien lässt grüßen.
Was in diesem schwer einzudämmenden Post-Wahrheitsszenario helfen könnte, ist unmissverständliche Zeugenschaft. Soll heißen: Berichte, Aussagen, Zeugnisse von in Sachverhalte Involvierten, von per se nie die ganze Wahrheit überblickenden, aber kraft ihrer Erfahrungen unleugbare Hier-und-Jetzt-Momente Bekundenden. Derlei „First-Person-Accounts“, stets subjektiv gefärbt, könnten zu einem generellen Lernen beitragen, das Sachlagen als stets partiell und perspektiviert betrachtet. Ein Lernen, das dem unweigerlichen Patchworkcharakter von Wahrheit, heterogen und vielstimmig verfasst, mehr Geltung verschafft. Ohne dass dabei gleich alternative Fakten gepredigt oder samt und sonders an die Stelle verbürgter Tatsachen gehievt werden müssen.
Ein solch subjektivistischer und multiperspektivischer, aber deshalb nicht gleich sektiererischer Wahrheitsbegriff wird selbstredend seit Langem vonseiten der Künste gepflogen. Künste, die nicht unbedingt „repräsentierend“ verfahren müssen, die deshalb aber um nichts weniger „wahr“ sind als szientifische Ansätze. Aber kann Kunst überhaupt wahre Begebenheiten wiedergeben? Kann sie ungeachtet aller ästhetischen Formatierung, die sie wohl oder übel in ihren vielfältigen Herangehensweisen vornimmt, unverfälschte Blicke auf historische (oder andere faktische) Begebenheiten werfen – als gleichsam veristisches Medium? Und lässt sich Zeugenschaft, ein ursprünglich juridischer Begriff, auch künstlerisch auslegen, ja vielleicht auf eine Weise erweitern und ergänzen, die so im Register der herkömmlichen Disziplinenaufteilung gar nicht vorgesehen ist?
Die Ausgabe Zeuge/Zeugin sein versammelt Schlaglichter und Stimmen zu diesem Fragenkomplex. Ohne ein letztes, abschließendes Resümee ziehen zu wollen (bzw. zu können), geht es dabei zunächst einmal um ein multivokales Ausleuchten des Begriffs der Zeugenschaft selbst. Am Wort sind jene, die seitens ihrer künstlerischen Praxis, ihrer bisherigen Karrierewege, aber auch ihrer ästhetischen Repertoires und politischen Anliegen etwas zu bekunden, zu beglaubigen, ja zu bezeugen haben. Dies betrifft auch geschichtlich weiter zurückreichende Szenarien eines grundlegenden Unvernehmens, im Zuge derer einzelne Protagonist*innen gegen Amnesien und Schweigegebote ankämpfen und dabei oft unterbelichtete, teils auch unliebsame Wahrheiten zutage fördern.
Der usbekische Künstler Wjatscheslaw Achunow etwa nimmt sich kein Blatt vor den Mund, wenn es darum geht, sein Leben und Kunstmachen im Sowjetzusammenhang, aber auch danach in der neu gegründeten Republik Usbekistan Revue passieren zu lassen. Achunows biografische Zeugenschaft – mit all ihrer verwickelten Beziehung zu seiner konzeptuellen Produktion – wird komplementiert von der inhaltlich-politisierten Zeugenschaft, wie Uriel Orlow sie als Teil seines Kunstansatzes begreift. Für Orlow erstreckt sich der Begriff gleichermaßen auf Bereiche wie Botanik oder den Kolonialismus bzw. die Rassismusgeschichte – etwas, das ihn methodisch mit diesem „gespensterhaften“ Konstrukt, wie er selbst sagt, in vielerlei Medien arbeiten lässt.
Die Verlässlichkeit bzw. Glaubwürdigkeit, die bei Zeug*innen stets zur Disposition steht, bildet den Ausgangspunkt von Suzana Milevskas Essay. In ihrer erweiternden Lektüre dessen, was ein Zeuge, eine Zeugin, alles sein kann, kommt sie auf den Aspekt des Wahrmachens, also der nicht schon von vorneherein feststehenden, unverrückbaren Wahrheit zu sprechen. Diesen legt sie auf vielfältigste künstlerische Praktiken um, so wie dies auch die Philosophin Sibylle Schmidt im Gespräch mit Milena Dimitrova tut. Schmidts Ansatz, wonach es stets so etwas wie Horizonte – ausgedehntere und teils auch widersprüchliche Zusammenhänge – von Zeugenschaft gibt und nicht bloß punktuelle Wahrheitsbekundungen, lässt sich wie eine generelle Richtschnur kunstbasierter Testimonials verstehen.
Ergänzt wird die Ausgabe von Projekten von Künstler*innen, etwa von Hiwa K oder Mykola Ridnyi und Clemens von Wedemeyer, worin Zeugenschaft auf den ästhetischen Prüfstand einer nicht szientifischen Wissens- und Geschichtsvermittlung gestellt wird. Ähnliches verhandelt auch das Gespräch mit Katarina Matiasek, deren historisch-kritisches Projekt über die ethnografische „Typenfotografie“ ein aufschlussreiches Licht auf geschichtliche Tatsachenkonstruktionen wirft. Unterbelichtete, teils unliebsame und nur von ihren Kontexten her aufzulösende Einzelzeugnisse bilden auch hier das Grundgerüst eines in sich konfliktreichen, jedoch deshalb nicht beliebig dehnbaren Wahrheitstableaus. Sich die Funktion von derlei Renitenzen und Resistenzen vor Augen zu führen, sollte gerade angesichts relativismusfreundlicher Gesinnungslagen ein Gebot der Stunde sein.