Heft 4/2021 - Netzteil


Empathie und das Digitale

Zur technologischen Ausgestaltung kinästhetischer Einfühlung

Katharina Gsöllpointner


Die Magic Queen liegt wie eine riesige schwarze Made in der Mitte des dunklen Raums im Zentrum des Arsenale auf der 17. Architekturbiennale Venedig. Ein weißer Roboterarm, der an einem Metallgestänge von der Decke hängt, überwacht das schlafende Monster, scannt seine Oberflächen, prüft den Feuchtigkeitsgehalt der Erde, aus der die Queen gebaut wurde, und sorgt für einen guten Nährboden für die vielfältigen Spezies, die auf und in der Biomasse leben. Bakterien, Pilze und Schwämme, Insekten, Würmer und sonstiges Getier tummeln sich hier in einträchtiger Symbiose mit der Künstlichen Intelligenz in Form des Roboters, die die Magic Queen am Leben hält. KI wurde aber auch schon eingesetzt, um die nach feuchter Erde und Waldboden riechende Queen überhaupt zu erzeugen und sie zu bauen. Eine innovative 3D-Drucktechnologie, die von den Architekt*innen Daniela Mitterberger und Tiziano Derme (MAEID – Büro für Architektur & Transmediale Kunst) in Zusammenarbeit mit dem schwedisch-schweizerischen Automatisierungstechnikkonzern ABB (Asea Brown Boveri) entwickelt wurde, ermöglicht die Produktion von komplett biologisch abbaubaren Bauwerken – ein Ansatz, der den aktuell so dringend notwendigen Nachhaltigkeitskonzepten für Architektur und Bauwesen zumindest auf ökologischer Ebene gerecht wird. Mitterberger und Derme betonen insbesondere den Aspekt der sozialen Nachhaltigkeit, den sie mit ihrem Projekt erforschen und gestalterisch ausprobieren wollen. Eine Koexistenz diverser Akteur*innen (humaner und nicht-humaner Lebewesen, Erde und Steine, Maschinen und Künstlicher Intelligenz) sei möglich, wenn Empathie als grundlegendes Konzept dabei mitgedacht wird: „Magic Queen is a hybrid environment incorporating and fusing biological systems with organic materials and machines, creating an ecosystem of empathy and coexistence.“1
Empathie ist ein Schlagwort, das seit einigen Jahren vermehrt in künstlerischen Diskursen auftaucht. Im Kontext von New Materialism und Critical Post- bzw. Transhumanism stellen sich im Gefolge von philosophisch-wissenschaftlichen Publikationen wie Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie, Donna Haraways Chthulucene oder Karen Barads Agentieller Realismus Fragen nach neuen Modi des Zusammenlebens von humanen und nicht-humanen Akteur*innen. Die globale Klimakrise und lokale, sich massiv geopolitisch auswirkende, bewaffnete Konflikte, ökologische Katastrophen wie die Tsunamis in Thailand und Japan, die Ausweitung sozialer Ungerechtigkeiten auf der ganzen Welt, aber auch die zunehmende Akzeptanz rechter Ideologien im Westen und die Stärkung autoritärer Regime weltweit haben, in Zusammenhang mit immer stärker werdenden Forderungen nach Gender-, Race- und ökonomischer Gerechtigkeit, die Notwendigkeit nachhaltigen Handelns ins Zentrum der Arbeiten vieler Künstler*innen gerückt. Empathie wird vielfach als Voraussetzung einer nachhaltig wirksamen, friedlichen Koexistenz aller Akteur*innen auf diesem Planeten betrachtet, wobei die Frage nach einer genaueren Definition dieses Konzepts nicht immer beantwortet wird.
In den Wissenschaften hat Empathie als Forschungsfeld ebenfalls seit geraumer Zeit einen starken Aufschwung erlebt. Vor allem Kognitions- und Neurowissenschaftler*innen, aber auch einige Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen – besonders im Bereich der Film- und Medientheorie – setzen sich seit Längerem mit den genetischen, neurologischen, physiologischen, kulturellen und medienästhetischen Bedingungen auseinander, die Empathie ermöglichen. Die meisten stimmen darin überein, dass die Integration sämtlicher Sinnesmodalitäten für die Entwicklung empathischer Fähigkeiten bei einzelnen Menschen eine wichtige Rolle spielt, wobei der kinästhetische, also der Bewegungssinn, im Zentrum sowohl neurologischer als auch ästhetischer Untersuchungen steht. Die Verbindung von Kinästhesie und Empathievermögen lässt sich evolutionstheoretisch wunderbar in Form von Metaphern quer durch alle Sprachen nachweisen. Im Deutschen finden sich etwa Ausdrücke wie „eine Geschichte berührt mich“, „ein bewegendes Ereignis“, „einen anderen Standpunkt einnehmen“, „die Sichtweise verändern“, „sich in die Position von jemand anderen begeben“, „den Blickwinkel ändern“ und viele mehr.
Aus philosophischer Sicht wiederum spielt das Empathiekonzept dort eine besondere Rolle, wo die sogenannte Theory of Mind verhandelt wird, ein weites wissenschaftliches Diskursfeld über das Phänomen, dass Menschen in der Lage sind, sich in andere Wesen „hineinzuversetzen“ bzw. sie zu „verstehen“. In der Beschreibung von Empathie gibt es dabei eklatante Unterschiede, je nachdem, aus welcher Fachrichtung eine solche geliefert wird. Neben der „kognitiven Empathie“, die das bloße (Er-)Kennen des inneren Zustands einer anderen Person meint, sind die interessanteren Konzepte naturgemäß jene, die emotionale, affektive und intuitive Elemente miteinbeziehen, also etwa das „Sich-in-jemanden-Hineinversetzen“, das „Fühlen wie andere“, das „Sich-vorstellen-Können, wie sich jemand fühlt“, das „Sich-Vorstellen, wie man selbst an jemand anderes Stelle fühlen oder denken würde“. Konzepte, die sich mehr an der alltagssprachlichen Verwendung von Begriffen wie „Mitgefühl“ oder „Mitleid“ orientieren, beschreiben Empathie als das Vermögen, beim Leiden einer anderen Person Stress zu erleben oder gar mit ihr mitzuleiden. Empathie als die Fähigkeit, sich selbst in die Situation eines anderen hineinzuversetzen oder hineinzuprojizieren, bezieht sich in vielen Theorien auch auf Theodor Lipps’ Konzept der Einfühlung, welches der Philosoph 1903 als einen Grundvorgang beim unmittelbaren Verstehen von Ausdruckserscheinungen beschrieb.

Empathische Ästhetik
Es verwundert wenig, dass sich auch die Ästhetik mit der Empathie auseinandergesetzt hat. So hat etwa die deutsche Filmwissenschaftlerin Gertrude Koch 2008 gemeinsam mit Robin Curtis einen Band zur Einfühlung herausgegeben. Das Einfühlungsvermögen in Personen oder Situationen im filmischen Handeln etwa wird vehement durch zentralperspektivische und subjektive Kameraeinstellungen in bewegten Filmsituationen beeinflusst – am bekanntesten wohl in Form von Verfolgungsjagden oder subjektiven Blicken aus Fahr- oder Flugzeugen. Zusätzlich spielen Soundtrack und Kinodispositiv sowie die individuelle Erfahrungswelt der einzelnen Zuschauer*innen eine wichtige Rolle für die Ermöglichung einer immersiv-empathischen Erfahrung durch Filme.
Was in der Filmästhetik wesentlich ist, spielt in der Ästhetik digitaler Kunst nachvollziehbar eine noch stärkere Rolle. Kunst auf Basis digitaler Technologien kann Bildbewegung nicht nur auf der vorwärtslaufenden Zeitachse des Filmsehens als ästhetisches Moment einsetzen, sondern auch rückläufig, „augmented“ oder räumlich ausgestaltet. Die Simulation einer phänomenologischen Bewegungsästhetik in allen räumlichen und zeitlichen Dimensionen ist daher ein singuläres Formpotenzial digitaler Kunst. Und es sind die kin-ästhetischen Möglichkeiten der digitalen Kunst, die solche Konzepte ästhetisch umsetzen können, ohne dabei explizit über Empathie als inhaltlichen Aspekt sprechen zu müssen. Anhand einiger digitaler Installationen, die in den letzten Jahren entstanden sind und die beschriebenen Parameter in sich vereinen, möchte ich im Folgenden exemplarisch deren „empathische Ästhetik“ beschreiben.
In Aurelia 1+Hz/proto viva sonification (2015), einer audiovisuellen Live-Performance der slowenischen Künstlerin Robertina Šebjanić, wird das Publikum mithilfe medienästhetischer Mittel in den Zustand eines Wesens unter Wasser, halb Mensch, halb Qualle, versetzt, in ein Hybridwesen, das sich sowohl an der Meeresoberfläche als auch in den Tiefen des Ozeans aufhalten kann.2
Auf dem offenen Ozean aufgenommenes Videomaterial von Wellen und Wolken über dem Horizont, mikroskopische Aufnahmen von Plankton in Petrischalen, Computersimulationen der Aurelia Aurita (Ohrenqualle), zusammenmontiert mit Sound von Meeresrauschen und Unterwassergeräuschen, einer digitalen Soundkomposition, gesprochenen Anweisungen zu einer Atemmeditation sowie dem Geräusch von lautem Ein- und Ausatmen, schaffen eine atmosphärische Umgebung, die die Zuschauer*innen in die Lebenswelt der Qualle eintauchen lässt. Die Betrachter*innen sollen nicht „realistisch“ in die Rolle der Qualle versetzt werden – was wahrnehmungs-, kognitions- und kommunikationstechnisch gar nicht möglich wäre. Doch die künstlerische Intervention schafft hier ein Quasi-Environment, das die Lebensrealität der Qualle ästhetisch interpretiert. Um diesen Zustand visuell und akustisch zu repräsentieren, kommt den fluiden Bewegungsmustern von kleineren Meerestieren im Video eine wichtige Rolle zu: Das Schaukeln und Sich-treiben-Lassen unter Wasser kombiniert mit Geräuschen, die wir einerseits mit unserem menschlichen Gehör wahrnehmen, andererseits aber erst mithilfe komplexer Technologien hörbar machen können, ermöglicht eine grundsätzliche, empathische Identifikation mit der Qualle – als Zuschauer*in kann man sich gut in die Lage dieser Spezies hineinversetzen. Die Fähigkeit der Aurelia Aurita, mit den rudimentären Sinneszellen an den Enden ihrer Tentakel nicht nur Licht, sondern auch Gerüche wahrzunehmen, bleibt hingegen in der Installation unerschlossen. Hier kann nur die Imaginationskraft der Zuseher*innen helfen, sich die Gerüche des Meeres vorzustellen. Die multimediale Performance wurde im Lauf der Zeit weiterentwickelt und in verschiedenen Versionen gezeigt, unter anderem auch als interaktive Installation Aurelia 1+Hz/proto viva generator auf der Ars Electronica 2016, wo sie den Preis für Interaktive Kunst erhielt.3
Eine andere Arbeit, die sich mit der akustischen Verschmutzung der Meere befasst, ist das künstlerisch-wissenschaftliche Forschungsprojekt Noise Aquarium (2017) der Künstlerin und Direktorin des Art|Sci Center an der UCLA, Victoria Vesna. Entstanden ist es in Zusammenarbeit mit dem Chemiker Alfred Vendl und der Künstlerin Martina Fröschel vom Scientific Visualization Lab der Universität für angewandte Kunst Wien. Noise Aquarium besteht aus eine interaktiven Videoinstallation, in der das Publikum in die Rolle von Meeresplankton, dessen Umwelt von Lärm und herumschwimmendem Plastikmüll zerstört wird, versetzt wird. Beim Betreten einer als Mensch-Computer-Interface gestalteten Bodenplattform erscheint im Video ein Plankton, das näherkommt und auf die verschiedenen Bewegungen der Betrachter*innen reagiert. Erst wenn diese sich völlig ins Zentrum der Plattform stellen, wird die akustische Verschmutzung der Unterwasserwelt durch den menschlich erzeugten Lärm beendet. Das Plankton „bedankt“ sich quasi, indem es in den Vordergrund des Videos schwimmt und die Zuschauer*innen mit dem Sound von Walgesängen belohnt. In dieser Arbeit wird im Unterschied zu Robertina Šebjanićs Performanceinstallation die Bewegung des Publikums selbst zum Auslöser für Veränderungen des Unterwasser-Environments von Plankton. Empathische Empfindungen werden also nicht nur durch das Sich-Hineinversetzen in ein anderes Wesen thematisiert, sondern können in aktives Handeln zum Wohl des Anderen übersetzt werden.4
Einen ganz anderen Zugang zum Empathiekonzept stellt die interaktive Installation für VR-Headsets Diver (2016–18) von Martin Kusch/kondition pluriel dar. Ohne empathische Empfindungen explizit anzusprechen, vermittelt die Arbeit dem Publikum ein starkes Gefühl für mögliche Wahrnehmungen und Emotionen von Sportler*innen beim Turmspringen. Sobald man das Headset aufgesetzt hat, befindet man sich in einem VR-Raum, in dem man durch die Bewegung hin zu rechteckigen, im Raum schwebenden Videoausschnitten eine von acht Kameraperspektiven während eines Turmsprungs auswählen und diese dann multisensorisch miterleben kann. Die Videos wurden von acht Kameras, die an verschiedenen Körperstellen bei olympischen Sportler*innen angebracht wurden, aufgezeichnet. Perspektiven aus Sicht der Beine, der Hände, des Kopfs und des Rückens der Springer*innen in der Luft und unter Wasser werden dabei nicht als realistische Darstellungen montiert, sondern durch raffinierte Schnitttechniken neu arrangiert: Aufgrund der Kombination und Anordnung der Videos im VR-Raum wird es den User*innen ermöglicht, über die Bewegungen ihrer eigenen Körper die potenziellen Empfindungen der Olympionik*innen nachvollziehen, aber auch interpretieren zu können. Der großartige Sound des kanadischen Künstlers Alexandre St-Onge trägt das Seine zu einer beeindruckenden immersiven Erfahrung bei, die die ästhetischen Möglichkeiten digitaler Technologien für die künstlerische Umsetzung von Einfühlung oder Empathie nutzt.5