Heft 4/2021 - Netzteil


Im Indie-Sektor der Elektronikspiele

Das Projekt Radical Gaming im HEK Basel entfacht den Videospieldiskurs auf einem neuen Level

Roland Schöny


Kunstaustellungen zum Computerspiel als einem Leitmedium der Online-Gesellschaft sind nach wie vor selten, obwohl es sich dabei um ein zentrales Thema der Populär- und Medienkultur handelt. Wie sehr sich die Präsenz von Computerspielen im Alltag und in der Freizeit inzwischen als ideologisch dominanter Faktor der Kulturindustrie manifestiert, illustrieren einige Daten. Die Investitionen in diesen Bereich der Digitaltechnologie haben jene der Hollywoodfilmproduktionen überholt. In Deutschland liegt der Anteil der Computer- und Videogamer*innen laut Erhebung des Hamburger Statista-Instituts über 50 Prozent. In der Altersgruppe von 16 bis 29 beträgt er 81 Prozent. 2020 rechneten sich 34,4 Millionen der Gruppe der Gamer*innen zu. Die Prognosen deuten ein stetiges Wachstum an. In Österreich und in der Schweiz liegen die Zahlen nicht viel anders. Da wie dort spielt mehr als die Hälfte der Bevölkerung regelmäßig am Computer. 2019 betrug der Umsatz mit Download-Games in Österreich 73,84 Millionen Euro und jener mit Online-Games 42,05 Millionen. Zwar scheint der Abstand zum Musikmarkt, der ebenfalls via Download funktioniert und im selben Jahr 171,6 Millionen lukrierte, immer noch groß, doch die Spieleindustrie ist inzwischen zweifellos ein wichtiger kultureller Faktor und Gaming als Popphänomen Teil der Alltagskultur geworden.
Allerdings besetzen in erster Linie Evergreens wie der Online-Dauerbrenner Tetris oder Pokémon die vordersten Ränge. Aktuell rangiert Super Smash Bros. Ultimate für Nintendo Switch ganz vorne in der Hitparade einfach zu bedienender Kampfspiele. Bleibt man beim Musikvergleich, dann wären das die eingängigen Ohrwürmer im Unterschied zu den technisch komplexer aufgebauten History- oder Fantasy-Games, wo es notwendig ist, sich in virtuellen Welten zu orientieren, um vielgestaltige Strategien voranzutreiben.
Als Schlager im Bereich der Hardware kristallisiert sich die Playstation 2 mit 157,68 Millionen verkauften Stück bis 2021 heraus, knapp gefolgt von der Nintendo DS Handheld-Konsole. Auch der Game Boy behauptet sich beharrlich unter den weltweiten Top Ten der Verkaufsparade, obwohl er mittlerweile zum Schaustück in Museen avancierte. Dass er gleich von Beginn an, in den 1990er-Jahren, als Klanginstrument eingesetzt oder seriell in breitflächigen Soundinstallationen verschaltet worden ist, illustriert, wie schnell die kulturellen Implikationen der damals noch neuen Elektronikspielewelt erkannt worden sind. Sofort wurde gegen den Strich gebürstet, was die Industrie auf den Markt warf.
Bemerkenswert aber bleibt das Ungleichgewicht im Bereich der Kunstausstellungen. Zwar wurde es Standard, dass thematische Projekte der Gegenwartskunst vereinzelt von Künstler*innen konzipierte interaktive Installationen und Virtual-Reality-Stationen einbeziehen. Selten jedoch wird ein vergleichender Überblick gewagt. Nur das lexikalisch vorgehende ZKM aktualisierte kürzlich seine inzwischen wiedereröffnete Plattform gameplay, und das Deutsche Museum in Bonn veranstaltete 2020 eine Ausstellung zur Spielekultur, allerdings als kulturhistorischen Überblick.
Generell drängt sich die Frage auf, wie Games in das Display eines Kunstraums gepackt werden können, ohne den Eindruck einer Videoausstellung hervorzurufen oder umgekehrt zu viele, steril wirkende Headset-Stationen zu schaffen. Dies wurde mit der Ausstellung Radical Gaming im Haus der Elektronischen Künste (HEK) Basel kongenial gelöst. Noch mehr als andere Projekte öffnet sich die Schau – und zwar nicht nur durch die naheliegende Einladung, selbst interaktiv mitzuwirken; vielmehr leitet sie durch eine Bühnenlandschaft, die direkt aus ihrem digitalen Schwerpunktthema herauszuwachsen scheint.
Wo etwa die Figur eines Orks vom Publikum durch ein spätsommerliches Kornfeld gesteuert werden kann, lassen sich dessen digital durchtrainierte Bewegungen nicht bloß per Screen mitverfolgen. Man befindet sich selbst in einer Szenografie aus Strohballen und echtem Stroh am Boden. Abgesehen davon, dass die virtuelle Figur bald einem gehörnten Satyr unter einem Baum begegnen wird, haben wir es mit einem genderqueeren und – im Gegensatz zu den sonst grün oder grau stereotypisierten Wesen – weißhäutigen Ork zu tun: muskulös, aber mit BH um die prallen Brüste sowie mädchenhaft zusammengebundenem Haar. Hauptziel ist hier die Begegnung anstelle herrschaftlicher Dominanz durch erkämpften Machtgewinn. Kein Endzeitabenteuer, sondern die Dramaturgie emanzipatorisch-pädagogischer Spiele ohne Gewinner*innen und Verlierer*innen.
Diese spielerisch steuerbare Arbeit mit dem Titel Pastoral stammt von Theo Triantafyllidis, geboren in Athen und nun ansässig in LA. Zieht man noch einmal Vergleiche aus der Popgeschichte heran, dann passt es hier auf jeden Fall, von „Indie“ zu sprechen. Offensiv unterläuft Triantafyllidis die im Big Business der Games gängigen Ideologeme von Macht, Race und Gender, wobei alternative Handlungszusammenhänge dominieren. Zugleich stellt er sein friedliches Spiel über seine eigene Website als freien Download zur Verfügung und benennt auch sämtliche technisch erforderlichen Voraussetzungen. Ein klares Statement gegen die unaufhörliche Kommerzialisierung von Freizeit.
Den Versuch hingegen, sich fast wie in einer Filmdoku den Abgründen der Realität anzunähern, unternimmt Sara Culmann mit Skolkovo. The Game. Ihr fiktionales Open-World-Spiel führt in das technologische Forschungszentrum des gleichnamigen Moskauer Stadtteils. Im postapokalyptischen Environment des Spiels enthüllen sich Korruption und Finanzspekulation. Nicht das Erklimmen stets neuer Levels wird hier angestrebt, sondern eine fiktionale investigative Recherche in Gang gesetzt. Die Spielenden enthüllen Codes in Informationselementen wie Plakaten, Objekten und Audiodateien.
Während sich Culmanns Spiel um eine zugespitzte Form des globalen Kapitalismus dreht, fokussiert Debbie Ding aus Singapur eine spezielle Situation ihrer Heimatstadt. Mit 3D-Scans und -Modellen betreibt sie eine virtuelle Archäologie leer stehender Erdgeschosszonen von Wohnbauten. Sie sollen der Allgemeinheit für gemeinsame Aktivitäten zur Verfügung stehen, bleiben aber ungenützt. Ohne diesen Hintergrund ließe sich kaum verstehen, warum man per virtuellem Motorboot durch eine fragmentarische Stadtlandschaft eine solch ruinenhaft wirkende Topografie durchquert. Wie viele der Spiele vermittelt das Werk Void aber auch eine besondere visuelle Poesie.
Diese Dimension des Poetischen möchte Kurator Boris Magrini explizit hervorstreichen. Sie kann bis in den Bereich des Interaktiven reichen, wenn Player*innen untereinander etwa Wörter und Bezeichnungen austauschen. The Tool von Mikhail Maksimov geht in Richtung eines Sprachgenerators, indem einzelne Objekte miteinander kombiniert und die Verknüpfungen neu bezeichnet werden. Basierend auf diesen Assoziationen können die Spieler*innen dann ein kybernetisches Metakommunikationssystem formen.
Um eine Nuance weniger abstrakt aufgebaut ist das Multiplayer-Spiel Eroticissima von Miyö Van Stenis. Ganz klassisch lädt es dazu ein, zwischen Pole-Dance-Stangen und diversen Toys eigene sexuelle Selbstentwürfe auszuprobieren. Radikal kann dagegen die Position von Danielle Brathwaite-Shirley bezeichnet werden, weil sie die Spielenden in eine Position bringt, die gesellschaftlich durchwegs als außenstehend wahrgenommen wird. Resurrection Lands ist sowohl ein Archiv im Internet als auch ein Spiel, das entlang der Zuschreibungen und Erfahrungen Schwarzer Trans-Personen strukturiert ist. Im Kontext des Spiels gelangen die Player*innen in eine imaginäre Stadt, die von einer Schwarzen Trans-Gemeinschaft regiert wird. Je nach Eigendefinition befindet man sich entweder in einem geschützten Raum oder im Erfahrungszusammenhang der Ausgrenzung. Spätestens an dieser Stelle wird evident, dass dieses Projekt nicht einfach Beispiele zum Thema Spiele versammelt, sondern auch als kritisch-emanzipatorisches Statement zu einem zentralen Teil heutiger Medienkultur auftritt. Die Debatte noch mehr zu verbreitern, wäre höchst an der Zeit.

Radical Gaming – Immersion Simulation Subversion, HEK (Haus der Elektronischen Künste) Basel, 1. September bis 14. November 2021.