Heft 4/2021 - Netzteil
Ein Konzert, eine Performance, eine Ausstellung, eine Installation: Der pandemiebedingt in den September verschobene zweite Teil des diesjährigen Berliner CTM-Festivals verdichtete hygienegerechtes Livegeschehen und schaffte es dabei doch kaum, die beim ersten Part im Januar (siehe springerin 1/2021) online erzeugte Atmosphäre kommunikativer und sozialer Nachsichtigkeiten im realen Raum als Verbindlichkeit zu rekonstruieren. Diesen Umstand als Fehlstelle benennen zu wollen, hieße jedoch, die sich aus den Unwägbarkeiten des Jahres generell ergebenden Schwierigkeiten von Programmgestaltung zu ignorieren. So war ursprünglich geplant, den zweiten Teil des Festivals bereits im Mai und den Ausstellungsteil in der Betonhalle des Silent Green stattfinden zu lassen. Nun aber blieb von den Veranstaltungen im September formal der Eindruck eines Interimfestivals übrig, und dies trotz des Festivalmottos „Transformation“, das sich in diesem Jahr thematisch greifbar wiederfand: Insbesondere Variationen maschinell wiedergegebener, in Echtzeit veränderter oder künstlich erzeugter menschlicher oder menschlich wirkender Stimmen – bei gleichzeitiger Auseinandersetzung mit diese Stimmen (nicht) bedingender Körperlichkeit – hielten die neuen Module programmatisch zusammen.
Die Ausstellung Ventrilogues im Vollgutlager auf dem KINDL-Areal ließ sich dabei leicht als Kernstück dieser thematischen Spange herauslesen: Den vier Soundarbeiten war gemein, dass sie Begehren, Körperlichkeit, Stimme, Sprache, Nichtmenschliches thematisierten, und zwar immer unter der Prämisse einer sowohl in den Textelementen aufgegriffenen als auch einer durch die Sounds repräsentierten oder evozierten Erfahrung von Raum, Entfernung oder Entfremdung.
Das Prinzip der Ausstellung, auf jede Objekthaftigkeit zu verzichten und die vier Arbeiten rein auditiv in einem „Spatial Sound Setup“ zu präsentieren, wurde durch Signaletik flankiert: Rote Klebestreifen auf dem Boden, die dem akustischen Aufbau auf über 1.000 Quadratmetern den visuellen Rahmen gaben, bildeten eine Matrix, die unter anderen Umständen vielleicht nur an die 1982er-Version des Films Tron erinnert hätte. Aufgrund der hygienebedingt streng geregelten Einlasssituation kam man jedoch kaum umhin, die räumliche Segmentierung, die den aus technisch-auditiver Sicht möglichen, aus künstlerisch-auditiver Sicht sogar gewünschten Positionswechseln der Hörenden entgegenkam, auch als Allegorie auf Abstandsregeln zu interpretieren. Und so verteilte sich das Publikum dementsprechend frei und doch gerastert, hörte der Stimme etwa von Charlotte Gainsbourg zu, die einen Text von Paul B. Preciado über Verführung vortrug, während ebendiese Stimme, moduliert, zwischen männlicher, weiblicher und maschineller Zuschreibung zu changieren begann – wobei musikalisch allzu süßliche Soundflächen den Raum auffüllten (Soundwalk Collective mit Charlotte Gainsbourg, AtomTM, Lyra Pramuk, Paul B. Preciado und Willem Dafoe). Im nächsten Stück wurde man von der schleifenden, kreiselnden, flirrenden, mal körperlosen Bass, mal tinnitustreibende Höhen aufsuchenden, neo-elektroakustischen Paraphrase über Pulsare von Martin Pietruszewski und Alex Freiheit angenehm radikal an den Raumboden gedrückt. In der dritten Sequenz verteilte sich eine räumlich diffizil umgesetzte Variante des AAI-Projekts von Mouse on Mars in der Klangmatrix. Was man dabei (auch) hörte, war nicht die Stimme des Autors und Wissenschaftlers Louis Chude-Sokei, sondern deren durch eine Künstliche Intelligenz nach- bzw. weitermodulierte Version; nicht nur dies, auch der Inhalt der zu hörenden Aussagen zur Mensch-Maschine-Beziehung war von einer KI-Software generiert, die zuvor mit Text von Chude-Sokei gefüttert worden war. Konzeptuell entsprach dieser Rahmen dem Mouse-on-Mars-Album AAI, klangliche Komplexität und sprachliche Feinheiten betreffend überzeugte aber die räumliche Version. Als viertes Stück konnte schließlich das mit einem Schrei beginnende, ebenso nervöse wie klangraumsensitive Pandemie-Entfernungslamento „Obsolescence“ von Jessica Ekomane & Rully Shabara durchschritten werden.
Was bei Ventrilogues gelang, nämlich einem aus der pandemischen Isolation kommenden Publikum eine als Gegenwart begriffene kollektive Hörerfahrung anzubieten, wurde bei der Performance Echoic Choir der Komponistin Stine Janvin und der Choreografin Ula Sickle im benachbarten KINDL – Zentrum für zeitgenössische Kunst zu einem Ereignis unverschuldeter Ungleichzeitigkeit. Die Performer*innen, die in Form eines „Rituals“ eine Beschwörung des gemeinsamen Clubbings aufführten, prallten auf eine gerade novellierte Berliner Infektionsschutzmaßnahmenverordnung, nach der einige Tage zuvor Clubs wieder öffnen konnten. Der Performance gab dieser Umstand einen wie aus der Zeit gefallenen Auftrag; was man sah und hörte, war ein auch ästhetisch nicht mit dem Moment in Einklang zu bringender Rückstand.
Hingegen konnte das im Kreuzberger HAU1 aufgeführte Chorkonzert Amproprification VI: Missa Papae Marcelli von Maximilian Marcoll und dem Ensemble AuditivVokal Dresden genau in diesem Punkt neue Erkenntnis bringen. Den Stimmen des ein Werk von Palestrina singenden Chorensembles auf der Bühne und deren Wahrnehmung durch ein unsicher nach und nach die Masken abnehmendes, platziertes Publikum war hier eine in Echtzeit von Marcoll bediente Schnittstelle zwischengeschaltet, mit der er die Stimmen, auf je einen zwischen Sänger*innen und Publikum platzierten Lautsprecher verteilt, von sanft bis brachial modulierte. Es mag simplifizierend wirken, die Erfahrung des Gehörten als (post-)pandemisches Hören zu identifizieren, jedoch liegt die Analogie hier angenehm auf der Hand: Dass die in Echtzeit über verschiedene Parameter der Segmentierung und Atomisierung, der Verzerrung, Zersplitterung, Verstärkung und Verstummung veränderte menschliche Stimme eine der grundlegenden (computerbedingten) Wahrnehmungen der Pandemie war und Amproprification VI genau diese Parameter ästhetisch nutzte, ließ das Konzert als treffende Interpretation einer allgemeinen sinnlichen und sozialen Erfahrung erscheinen.
Das einzige Modul dieser Festivalausgabe im öffentlichen Raum, die ohne Voranmeldung zugängliche Installation Happiness von Dries Verhoeven, schien hingegen im Rahmen eines zum ersten Mal des seit der Gründung 1999 keinen Club als Spielstätte nutzenden Festivals eher wie eine selbstironische Referenz an frühere ausschweifende Festivalmomente. Ein als humanoid-weiblich identifizierbarer Roboter stand hier – in einem speziell hierfür gebauten, begehbaren Betonquader und gesichert hinter Glas – an dem einer Apotheke nachempfundenen Tresen, vor einer Batterie legaler und illegaler Drogen. Mit menschlicher Stimme sprechend, Mimik und Gestik bei längerer Betrachtung als immer einfühlsamer erscheinend, klärte die Maschine kompetent, aber unpersönlich über Aufnahme und Wirkung der von ihr vermeintlich angebotenen Drogen auf. Die Installation an einem zentralen Platz in Neukölln wäre vor wenigen Jahren wohl noch von der Boulevardpresse oder entsprechenden Lokalpolitiker*innen zum kulturpolitischen Skandal hochgejazzt worden. Ist diese Art der Transformation nun ein gutes oder ein schlechtes Zeichen für das schon angekündigte CTM 2022 mit dem Motto „Contact“?
https://www.ctm-festival.de/festival-2021